Zur JKU Startseite
Institut für Volkswirtschaftslehre
Was ist das?

Institute, Schools und andere Einrichtungen oder Angebote haben einen Webauftritt mit eigenen Inhalten und Menüs.

Um die Navigation zu erleichtern, ist hier erkennbar, wo man sich gerade befindet.

­

„Life is Life“ – oder doch nicht? Studie über lebenslange Freiheitsstrafen in Österreich

In Österreich werden jährlich rund zehn Personen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Derzeit verbüßen ca. 150 Gefangene eine solche Strafe.

Professor Helmut Hirtenlehner
Professor Helmut Hirtenlehner

Aber wie lange dauert „lebenslang“ in Österreich wirklich? Diese Frage war erstaunlich wenig untersucht. Das haben zwei Forscher der Johannes Kepler Universität Linz nun geändert.

„Von Gesetzes wegen bedeutet eine lebenslange Freiheitsstrafe nicht zwingend, bis zum Tode inhaftiert zu sein. Ab einer Verbüßungsdauer von 15 Jahren ist eine bedingte Entlassung möglich“, verweist Univ.-Prof. Alois Birklbauer (JKU Institut für Strafrechtswissenschaften) auf das Strafgesetzbuch. Zu diesem Zeitpunkt muss die Behörde prüfen, ob Gefängnisinsassen entlassen werden können. Später kann auch der oder die Gefangene Anträge auf bedingte Entlassung stellen.

„Wird das genehmigt, folgt eine Probezeit von zehn Jahren. Es kann auch zusätzliche Auflagen geben, z.B. Alkoholverbot oder verpflichtende Psychotherapie“, erklärt Univ.-Prof. Helmut Hirtenlehner (Institut für Procedural Justice).

Die beiden Strafrechtsexperten wollten nun herausfinden, wie lange „lebenslang“ in Österreich wirklich dauert – und welche Faktoren die gerichtliche Entscheidung über eine Entlassung beeinflussen.

Lebenslang dauert im Schnitt 21 Jahre
Dazu haben die beiden Wissenschaftler 140 Akten analysiert. Von diesen zu lebenslanger Freiheitsstrafen verurteilten Personen waren 96 % Männer; Mord machte 99 % der Verurteilungen aus. Im Schnitt kamen auf eine Person fünf Entlassungsverfahren, sodass insgesamt rund 700 gerichtliche Entscheidungen untersucht wurden.

Das Ergebnis: „Lebenslang“ bedeutet in Österreich kaum „bis zum Tod“. Die durchschnittliche Haftdauer liegt bei 21 Jahren.

„20 Jahre nach Strafantritt befinden sich noch 56 % der zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilten Personen in Haft. Der Anteil der Häftlinge sinkt bis zum 25. Strafjahr auf 27 %, bis zum 30. Strafjahr auf 17 %. 33 Jahre nach Strafbeginn befinden sich noch 10 % der ,Lebenslangen‘ in Haft“, so Birklbauer.

Härte bei Sexualmord
Die Entlassung aus der Haft ist also grundsätzlich möglich für die Gefangenen. Schnell geht es aber selten: Weniger als 5 Prozent der „Lebenslangen“ werden gleich nach den 15 Jahren Mindestverbüßungsdauer entlassen. „Die höchsten Chancen freizukommen hat man zwischen dem 17. und dem 23. Inhaftierungsjahr“, erläutert Hirtenlehner.

Die Aussichten auf eine bedingte Entlassung sind ungleich verteilt. Die geringsten Entlassungschancen finden Personen vor, deren Verurteilung auf einem begangenen Sexualmord gründet. Gefangene, die vor der gegenwärtigen Haft schon andere (zeitlich begrenzte) Freiheitsstrafen verbüßt haben, werden ebenfalls seltener bzw. später entlassen.

Hohes Gewicht der Staatsanwaltschaft
Was bewegt aber nun Gerichte, eine Entlassung zu bewilligen? Die Chancen auf ein positives Ergebnis stehen für eine*n Verurteilte*n bei rund 20 Prozent. Großen Einfluss auf das Ergebnis hat die Staatsanwaltschaft. Diese kann gegen bedingte Entlassungen Rechtsmittel einlegen – Gerichte neigen deshalb dazu, dem Standpunkt der Staatsanwaltschaft zu folgen.

Psychiatrische oder psychologische Sachverständige hingegen werden dem Entlassungsverfahren nur unregelmäßig beigezogen. Wenn aktuelle Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben werden (was aber nicht einmal in der Hälfte aller Fälle passiert), üben sie einen großen Einfluss auf die gerichtliche Beschlussfassung aus.

Anwaltlich vertreten sind die Gefangenen im Entlassungsverfahren nur selten (faktisch lediglich bei 10 Prozent der durchgeführten Verfahren). Kurioserweise hilft das den Gefangenen nicht. Wenn „Lebenslange“ einen Rechtsbeistand haben, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit der Einholung aktueller Sachverständigengutachten, die dann aber mehrheitlich ungünstig für die beurteilten Gefangenen ausfallen. Diese Dynamik bewirkt, dass anwaltliche Hilfe keine entlassungsförderlichen Effekte hat.

Österreichische Regelung menschenrechtskonform
Lebenslange Freiheitsstrafen entsprechen nur dann den Grund- und Menschenrechten, wenn für die Inhaftierten eine realistische Chance besteht, bei vertretbarer Gefährlichkeitsprognose zu Lebzeiten die Freiheit wiederzuerlangen. Die österreichische Rechtslage, die „Lebenslangen“ ab 15 Jahren Verbüßung eine Chance auf eine Entlassung einräumt, entspricht diesen Vorgaben. Der Umstand, dass in der Mehrheit der Fälle eine bedingte Entlassung auch tatsächlich erfolgt, dokumentiert die Kompatibilität der Praxis mit diesen Rechten.

„Den große Einfluss der Staatsanwaltschaften auf die konkreten Entlassungsentscheidungen der Gerichte sollte man aber hinterfragen“, meinen die beiden Studienautoren - vor allem im Vergleich zur wesentlich geringeren Bedeutung der Stellungnahmen der Justizanstalten, in denen die Gefangenen untergebracht sind. Letztere kennen die Insass*innen viel besser als die Staatsanwaltschaft. Psychiatrische Gutachten zum Rückfallsrisiko der Gefangenen werden zu selten eingeholt, man stützt sich allzu oft auf veraltete Gutachten.

Wenn aktuelle Sachverständigengutachten beschafft werden, haben sie aber einen großen Einfluss auf die gerichtliche Entscheidungsbildung. „Insgesamt könnte man überlegen, bei positiver Zukunftsprognose vermehrt vorzeitig zu entlassen, zumal Österreich im europäischen Vergleich ohnehin sehr hohe Gefangenenraten aufweist. Die Rückfallraten von wegen Tötungsdelikten zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilten Personen werden im kriminologischen Schrifttum als vergleichsweise gering angegeben“, so Birklbauer und Hirtenlehner.

JKU Forschungsschwerpunkt Procedural Justice
Analysen wie diese fügen sich in einen neuen Forschungsschwerpunkt der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der JKU ein. Unter dem Begriff „Procedural Justice“ verschreibt sich die Fakultät der Erforschung juristischer Entscheidungsverfahren, wobei sowohl rechtliche als auch empirische Fragestellungen Gegenstand der Betrachtung sind.