Von KARIN WAGNER
Erschienen in der KEPLER TRIBUNE Ausgabe 3/2021, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster
Big Band-Signation. Die Umgebung anfangs noch unscharf. Ein älterer Herr. Mit dem nächsten Schnitt dann deutlicher sein musikbegleiteter Auftritt über eine kleine Gartenbrücke. Ein Filmstar? Die Bilder sind wohlüberlegt zusammengefügt. Sommeranzug, Krawatte, die Pfeife lässig und doch straff im rechten Mundwinkel. Man wähnt sich im Vorspann eines Samstagnachmittags-Films, wäre da nicht die Blende mit dem Wortlaut „Frost on Friday“. Der britische Journalist und Fernsehmoderator David Frost moderiert: „Baldur von Schirach, founder member of the inner court of Adolf Hitler is alive and well […].“ Zur weiteren Beschreibung als „leader of the Hitler Youth“ die Bilder eines zarten Griffs von Männerhand in frisches Blätterwerk. Ein Kind und ein Hund in der Szene; Lächeln im Gentleman-Gesicht, Abgang mit dem Kind an der Hand. Sommerinszenierung. Der liebe Junge könnte einer der Enkelsöhne Baldur von Schirachs sein, vielleicht der jüngere von den beiden? Das wäre dann der 1964 geborene Ferdinand von Schirach, der spätere Autor von Titeln wie „Verbrechen“, „Schuld“, „Tabu“, „Strafe“.
1966 nach 20-jähriger Haft aus dem Kriegsverbrechergefängnis Spandau entlassen, gab Baldur von Schirach, ehemals „Reichsjugendführer“ sowie „Gauleiter“ und „Reichsstatthalter“ von Wien, im September 1968 ein großes TV-Interview. Dies zu sehen, ist befremdlich; weich, fast singend die ersten Worte Schirachs zu Adolf Hitler: „I met him in the opera.“ Von Schärfe sein Blick, manchmal ein Lächeln um die schmalen Lippen. Die Erinnerung an Hitlers „certain shyness“ holt immer noch einen Glanz in die vielwissenden Augen, die Herrn Frost beteuern wollen, von der Deportation der Wiener Juden nichts gewusst zu haben. Gestand Schirach bei den Nürnberger Prozessen noch geschickt seine Schuld, so machte er hier dem Interviewer weiß, vieles von der Katastrophe des 20. Jahrhunderts eben nicht gewusst zu haben. Dass Frost Schirachs Schmeicheln verfällt, erschließt sich über das 40-minütige Interview, welches auf YouTube nachzusehen ist.
Seit Februar 2021 führt der Kepler Salon eine Reihe unter dem Titel „Wagners Dunkelkammer“. Es ist letztlich nicht meine „Dunkelkammer“, die an die Oberfläche bringen soll, was bis dato nicht gesehen, nicht bekannt, nicht gewusst oder zu wenig gesehen, zu wenig bekannt und zu wenig gewusst war und ist. Es ist die „Dunkelkammer“ meiner Gäste, denn sie stellen neueste Forschungsergebnisse dar oder schärfen die Konturen vorhandener Bilder nach. Mit seinen Erkenntnissen zu Baldur von Schirach war der Historiker Oliver Rathkolb (Wien) unter dem Titel „Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler“ der erste Gast der „Dunkelkammer“. In den Vorbereitungen für diese Veranstaltung sah ich David Frosts Interview. In mehreren Anläufen, denn die Erscheinung dieses Herrn mit den nivellierenden Erzählungen zur Verbrechensgeschichte der Nazis rüttelte in mir immer wieder den Impuls auf, den YouTube-Kanal sofort auszuschalten. „Neu“ ist dieses Interview nicht, doch so wie Rathkolb meint, ist es ein „Schlüsseldokument“ zu einem der führenden Köpfe der Nazi-Eliten. Es lässt sich an dieser Selbstinszenierung sehen, wie flüchtig man die größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts abtun kann, indem man adressiert, dass niemand von uns unfehlbar sei und wir alle „nur“ Menschen seien. Dies wirft uns auf uns selber zurück und lässt uns in den eigenen Unzulänglichkeiten hängen bleiben. Oder auch nicht. Ein platter Trick des Herrn Schirach.
Nicht als eine Person der verurteilten Täterebene wurde der Komponist Johann Nepomuk David in der mit „Brennpunkt Leipzig“ bezeichneten zweiten „Dunkelkammer“ diskutiert, sondern als Kulturrepräsentant im NS-Staat, dessen Nähe und Distanz zum Regime differenziert ausgelotet werden sollte. Oberösterreich zeigt sich stolz auf den in Eferding geborenen Komponisten – zu Recht, mit Blick auf dessen umfangreiches Wirken und Schaffen. Davids Zeit in Leipzig wird jedoch gerade in Oberösterreich immer wieder ausgeklammert, nur pro forma diskutiert oder pauschal abgearbeitet. Dies schadet mehr, als es nützt – sowohl dem Komponisten als auch der Musikgeschichtsschreibung. Von 1934 bis 1945 wirkte Johann Nepomuk David als Lehrer am Landeskonservatorium in Leipzig, das 1941 zur „Staatlichen Hochschule für Musik, Musikerziehung und darstellende Kunst“ erhoben wurde. 1942 übernahm er dort die „kommissarische Direktion“ und somit die Leitung einer kulturbildenden Institution im nationalsozialistischen Deutschland. Der Musikwissenschafter Albrecht Dümling (Berlin), die Musikwissenschafterin Maren Goltz (Leipzig) und Matthias Wamser (Basel) als Vertreter der Internationalen Johann-Nepomuk-David-Gesellschaft machten die „David-Dunkelkammer“ zur Informationsquelle ersten Ranges. Großes Interesse kam Davids Komposition „Heldenehrung, Motette nach einem Führerwort“ für vierstimmig gemischten Chor und drei Posaunen aus 1942 zu. Das Stück ist den gefallenen Lehrenden und Studierenden der Staatlichen Musikhochschule zum Gedächtnis gewidmet und wurde 1942 in der pseudosakralen Krypta des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig uraufgeführt. Das Autograph der „Heldenehrung“ liegt in einem Privatarchiv in Stuttgart und ist der Forschung leider nicht zugänglich. Allein die Zeitungsberichterstattung zur Uraufführung lässt Rückschlüsse auf die Machart dieser affirmativen Musik zu.
Inwieweit private Zufallsfunde und der Forschung zugänglich gemachte Quellenstücke das Entstehen einer Biographie forcieren, zeigt sich an einem Bündel von 31 Briefen, welche über hundert Jahre lang unentdeckt auf einem Dachboden lagen. Die Briefe und der erste Teil der handschriftlichen Urfassung der Erinnerungen August Kubizeks an dessen Jugendfreund Adolf Hitler veranlassten den Historiker Roman Sandgruber (JKU Linz) zum Verfassen einer Biographie zum k. k. Zollamtsoberoffizial Alois Hitler, den Urheber dieser an den Straßenmeister Josef Radlegger gerichteten Briefe. Primär geht es in den Korrespondenzen um den Kauf eines Anwesens für die Familie Hitler, die Zeilen enthüllen jedoch auch bis dato unbekannte Details zur Geschichte von Adolf Hitlers Herkunftsfamilie. Die Entdeckung der Kubizek-Frühfassung ist ein Wurf, sie stellt eine bedeutende Linie zur Rekonstruktion der Linzer Zeit des Diktators dar. „Hitlers Vater. Wie der Sohn zum Diktator wurde“ titelte die dritte „Dunkelkammer“. Ausgehend von Alois Hitler rollte Sandgruber die Vater-Sohn-Beziehung und das Heranwachsen jenes Menschen auf, über den ein smarter Herr 1968 lächelnd meinte, er wäre ein wenig schüchtern gewesen. Dass diese Person für den Tod von Zigmillionen Menschen verantwortlich ist, hat dieses Lächeln absorbiert.
„Wagners Dunkelkammer“ wird auch in Zukunft bewegen. Ihre Grenzen werden erkennbar, wenn die hervorgeholten Fakten beginnen, sich im Kreis zu drehen, und Fragen nach ethischen Einschätzungen dringlich werden. So wäre doch der „Dunkelkammer“ gutgetan, jenen Knaben als Seismographen unserer Zeit mit einem die Vergangenheit und Gegenwart verschränkenden Blick einzuladen, der 1968 an der Hand seines eleganten Großvaters an einem Sommernachmittag in ein Haus ging. Sofern dies wirklich der junge Ferdinand von Schirach war. Der Jurist und Schriftsteller blitzt in meinem Kopf als Wunschgast auf. Mit ihm würde ich gerne eine Metaebene freilegen zur Diskussion, wie denn in der „Dunkelkammer“ entlang all dieser Fragen überhaupt zu diskutieren sei. Ein Diskurs mit Ferdinand von Schirach über den Diskurs zur Vergangenheit. Ein möglicher Ausblick.