Erschienen in der KEPLER TRIBUNE Ausgabe 2/2021, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster
Es ist so einfach wie trendy, Identitätspolitik für das Versagen linker Politik verantwortlich und sich im gleichen Atemzug darüber lustig zu machen. Statt mit Macht- und Verteilungsfragen beschäftige man sich nun mit Gendersternchen und Unisex-Toiletten. Prominente Kritiker*innen wie Francis Fukuyama, Slavoj Žižek und zuletzt Sahra Wagenknecht gehen sogar so weit, der Identitätspolitik das Erstarken rechtspopulistischer Strömungen anzukreiden: Statt sich um ökonomisch Ausgebeutete zu sorgen, konzentriere man sich auf die Partikularinteressen immer kleinerer sozialer Gruppen und verliere das große Ganze aus den Augen. Statt universalistisch und vereinigend zu agieren, würde man so erst recht zu gesellschaftlicher Spaltung beitragen.
Dieser Vorwurf stimmt dann, wenn Identität als fundamental und essentialistisch verstanden wird und in weiterer Folge die daraus resultierende Gruppe als homogen. Soziale Identitäten sind aber eben nicht unbeweglich und exklusiv und entspringen auch nicht einer homogenen „Essenz“ unseres Wesens, das schon immer war und auch in Zukunft immer so sein wird. Vielmehr gilt es, Identitäten als kontextabhängig, intersektional und – zu einem hohen Grad, wenn auch nicht vollständig – wandelbar wahrzunehmen. Die eigene Positionierung als Mitglied einer Religionsgemeinschaft bedeutet eben nicht, dass man nicht auch eine geschlechtliche, nationale, sexuelle oder ethnische Identität hat, und dass diese unterschiedlichen Identitäten nicht ab und an auch in Konflikt miteinander stehen können. Verschiedene Kontexte aktivieren bestimmte Gruppenzugehörigkeiten, während sie andere in den Hintergrund treten lassen. Politische Forderungen aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe abzuleiten, bedeutet auch nicht, dass aus der Identität als Frau oder als Homosexuelle zwingend bestimmte Merkmale, Haltungen oder Einstellungen folgen müssen. Wird diese Dynamik der sozialen Positionierung aufgrund der Realität multipler Zugehörigkeiten ausgeblendet und Identität als statisch, binär und gegeben angesehen, so greifen darauf aufbauende politische Forderungen in der Tat zu kurz.
Denn genauso wie Identität und Zugehörigkeit ist auch Solidarität nicht starr und kontinuierlich. Eine vielfältige und sich immer rascher verändernde Gesellschaft bringt auch stetig wechselnde Solidaritäten hervor. Beim Ausbruch der Corona-Krise erlebte Österreich eine neue Solidarität mit älteren Menschen – der etwas unglücklich titulierten Risikogruppe. Das war in seiner konkreten Ausformung doch erstaunlich, bestimmten doch bis kurz vor Ausbruch der Pandemie hitzige Debatten über Generationenkonflikt, desillusionierte „Millennials“ und privilegierte „Boomer“ den medialen Diskurs. Dieses abrupt formierte Bewusstsein für die Notwendigkeit der Solidarisierung aus einer fast konträren Situation heraus versinnbildlicht, wie unstet und wechselhaft Solidaritäten sein können.
Der Soziologe Jörg Flecker und seine Kolleg*innen identifizieren in Umkämpfte Solidaritäten gar sieben verschiedene Formen von Solidarität, von universeller Hilfeleistung bis hin zu moralischer Verpflichtung. Ihnen allen gemein ist Nähe als Grundvoraussetzung: Um solidarisch handeln zu können, bedarf es einer vertiefenden Auseinandersetzung mit jenen, denen man seine Solidarität angedeihen lässt. Deshalb stehen hinter verschiedenen Ausformungen von Solidarität unterschiedliche Kategorien des „Wir“: Wird Zugehörigkeit national definiert, also anhand derselben Staatsbürgerschaft, oder kulturell, also anhand derselben Abstammung? Sind es wir, die Leistungsträger*innen, oder wir, die aus demselben sozialen Milieu stammen? Wir, die Frauen, oder wir, die Arbeiter*innen? Je nach Situation sind diese Kategorien fließend, sie verändern sich im Laufe der persönlichen Biografie genauso wie nach sozialem Kontext oder aufgrund großer globaler Umwälzungen wie eben einer Pandemie.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist Identitätspolitik alles andere als die banale Nabelschau einer fehlgeleiteten linken Politik. Wie wir unsere Zugehörigkeiten und daraus folgend unsere (wechselnden) Solidaritäten definieren, ist Grundlage für politisches Handeln und politische Forderungen. Mit welchem „Wir“ man sich identifiziert, zu welchem man zugehörig sein will und kann, bedingt auch die inhaltliche Positionierung. Nicht erst seit dem Jahr 2021 ist Gruppenzugehörigkeit ein bestimmendes soziales Element. Das „Wir“, in das man ein- oder aus dem man ausgeschlossen wird, entscheidet über berufliches Vorankommen, Bildungschancen, Gesundheit und Lebenserwartung, Wohnverhältnisse und Überlebenschancen in Zeiten der Krise. Identität und materielles Interesse gehen Hand in Hand.
„Identität war immer schon“, konstatiert deshalb die Soziologin Paula- Irene Villa Braslavsky und meint damit, dass seit der Moderne jede Form der politischen Auseinandersetzung ein Eintreten für bestimmte soziale Gruppen war. Die vermeintliche Neutralität, die vor der neumodischen Identitätspolitik geherrscht haben soll, gab es nie. Denn die wesentliche Frage, die hinter der Gestaltung politischer Maßnahmen steht, ist, wer als die Norm für ebendiese gilt, und wer als seine Abweichung. Lange Zeit galt der Mann als das Allgemeingültige, während die Frau als das „andere Geschlecht“ und somit als außerhalb des Allgemeinen definiert war, wie es Simone de Beauvoir in ihrem feministischen Fundamentalwerk ausdrückte. Genau darin zeigt sich auch die Ironie der Kritik an Identitätspolitik: Tatsächlich geht es Strömungen wie dem Feminismus oder Antirassismus weniger um selektive Partikularinteressen nach immer kleineren Zugehörigkeiten, sondern darum, dass Grundrechte wie Schutz vor Polizeigewalt, Recht auf Ehe und Familie oder Gleichbehandlung vor dem Gesetz allgemeine Gültigkeit erlangen, also tatsächlich für alle und nicht für eine bestimmte Identität (die bisherige, eng gefasste Norm) gelten. Aus diesem Grund sei Identitätspolitik auch besser als „Politik für Minderheiten“ zu bezeichnen, wie der Politologe Jan-Werner Müller argumentiert. Die Bewegungen, die nun verkürzt unter dem despektierlichen Banner der „Identitätspolitik“ zusammengefasst werden, eint also, dass sie für eine radikale Neudefinition des „Wir“ kämpfen – weil es eben klare materielle Vorteile mit sich bringt, Teil davon zu sein. Für das „Wir“ gelten Grundrechte, die für „die Anderen“ noch immer nicht selbstverständlich sind. Deshalb versuchen Black Lives Matter oder die Trans*Bewegung, individuelle Verwundbarkeit allgemein bewusstzumachen, daraus resultierende Verletzungen ernst zu nehmen und sie gleichzeitig zu minimieren, wie man es im Rückgriff auf Judith Shklars Liberalismus der Furcht formulieren könnte. Diese Verwundbarkeit durch Gewalt oder Ungleichbehandlung ist bedingt durch Ausschluss aus dem „Wir“, das über die rechtliche wie soziale Ordnung bestimmt.
Die mitunter schmerzhafte Debatte um Identitäten ist also deshalb so notwendig und unumgänglich, weil sie die radikale Forderung nach Überwindung von Ausgrenzung bedeutet. Identitäten bleiben bestimmend in einer Gesellschaft, in der Gruppenzugehörigkeit die eigene Verwundbarkeit oder eben Unversehrtheit – körperlich, ökonomisch und politisch – determiniert. Soziale Differenz soll weder überwunden und negiert noch betont und fetischisiert werden. Sie soll nur unerheblich für die Teilhabe am „Wir“ sein.