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Exklusive Leerzeichen

Detailaufnahme Kepler Salon
© Dieter Decker

Von BARBARA UNGEPFLEGT

Erschienen in der KEPLER TRIBUNE Ausgabe 4/2022

Um sich einem Ding, einem Phänomen zu nähern, es möglichst treffend zu beschreiben, ist es oft hilfreich, zu definieren, was es – in diesem Fall das Leerzeichen – nicht ist: Im Unterschied zu Zeichen haben Leerzeichen ihre eigene Wirklichkeit im Griff. Sie sind leer. Leer im Sinne von „kenos“ (griech.), was den Unterschied zwischen Seiendem und Nicht-Seiendem ermöglicht. Leerzeichen werden gerne übergangen und bei etwaigen Calls und Ausschreibungen in Wissenschaft und Kunst inklusiv gesehen. „Abstract so und so viele Zeichen inklusive Leerzeichen.“ Kein Fisch im Vogelkäfig. Was zählt, sind Zeichen: „Bitte keine Leerzeichen in den Dateinamen.“ Das Leerzeichen enthält keine Information. – Ist dem so, enthält das Leerzeichen wirklich keine Information? Oder ist es vielmehr der Platz oder Platzhalter einer versagten Information?

Auch wenn die Frage zunächst unbeantwortet bleibt, ist offensichtlich, dass Leerzeichen erwartete Ordnungen erzeugen und verändern. Leerzeichen unterbrechen Texte, Straßen, Sitzreihen, Bonbonnieren, Gedanken; sie reißen Löcher auf, veranlassen zum Luftholen, verschaffen Distanz, beruhigen und irritieren gleichzeitig. Leerzeichen als Fixpunkte verstanden, die nicht nur Ordnung zentrieren, sondern überhaupt erst einen geordneten Kosmos im Chaos schaffen, tragen und verbinden Informationen, Soziales und Politisches. Beide, Leerzeichen und Zeichen, existieren, weil sie wechselseitig agieren: das Zeichen ragt in das Leerzeichen, das Leerzeichen nimmt dem Zeichen die Lufthoheit; ähnlich wie der Dramaturg und Philosoph Carl Hegemann in seinem Essay „Glücklich im Unglück“ beschreibt, ragt das Glück ins Unglück (und umgekehrt) hinein. Dem Glück ist immer – zumindest eine kleine – Spur des Unglücks immanent. Wie auch in jedem Unglück ein Hauch von Glück liegt.

Leerzeichen im typographischen Sinn verstanden, waren in antiken Texten nicht üblich: in der sog. scriptura continua gab es keine Trennung zwischen den Wörtern. Die Buchstaben der Wörter folgten ohne Leerzeichen, Satzzeichen oder Großbuchstaben am Wortanfang aufeinander. Die dichte Anordnung des Textes zwang den/die Leser_in zur sorgfältigen und in den meisten Fällen lauten Lektüre. Erst im 7. Jahrhundert wurden in der Schrift Leerzeichen eingeführt. Die Leerzeichen erleichtern das Erkennen und Verstehen der Texte. Wie das Leerzeichen generell Distanz ermöglicht, Überblick verschafft, uns ein Abstandhalten (von Seiendem) ermöglicht. Leerzeichen, wie überhaupt leere Zeichen und bezeichnete Leeren, sollen hier isoliert von anderen Zeichen, die auf einen Inhalt verweisen und deshalb nicht leer sind, betrachtet und sozusagen auf ein Podest gestellt werden: Signifikanten verweisen auf Signifikate, sie bezeichnen etwas, das selbst kein Zeichen ist. Das trifft auch für Leerzeichen zu, nur ist das Etwas, das sie bezeichnen, nicht etwas, sondern nichts. Leerzeichen verweisen auf die Leere und indem sie das tun, machen sie etwas aus der Leere, das die Leere verschwinden lässt. „Das Nichts ist immer ein Nichts von etwas“ hat Adorno im Zusammenhang mit seiner Deutung von Becketts Theater-stücken formuliert, die exemplarisch für ein Theater der Leere stehen. Das exklusive Leerzeichen, das nicht einfach dem Reich der übrigen Zeichen subsumiert wird, kann in seiner Besonderheit, die es von allen anderen Zeichen unterscheidet, gewürdigt und gleichzeitig zerstört werden. Denn es gibt keine vollständige Leere, so wie es keine absolute Fülle gibt. Zeichen und Leerzeichen, Etwas und Nichts sind aufeinander angewiesen, durchdringen sich gegenseitig. Dieser Verweisungszusammenhang scheint zentral zu sein. Der Versuch, die Leere von ihrer Umgebung zu isolieren und rein verfügbar zu machen, produziert gerade nicht Leere, sondern zeigt die Angewiesenheit und den Einfluss dieser Leere auf ihre Umgebung, die von ihr unterbrochen und kontrastiert wird. Das kann an höchst verschiedenartigen Leerstellen, Lücken, Löchern, Rissen, Unterbrechungen, Pausen (in der Musik und in der Arbeit) demonstriert werden: die Anordnung der beiden Finger zwischen Adam und Gottvater bei Michelangelos Fresko in der Sixtinischen Kapelle, die Zahnlücke, das seit über zwanzig Jahren brennende Loch in der turkmenischen Wüste, der Blick ins Narrenkastl (engl. „to stare into space“), der Riss in der Strumpfhose oder sogar in der Annullierung einer kirchlichen Ehe. Die Exklusivität der Leerzeichen wackelt und die der Leere entgegengesetzte Fülle wird selbst zur Leere. Dieses Paradox kann man sich vielleicht exemplarisch am schwarzen Quadrat von Malewitsch klarmachen. Nichts ist mehr selbstverständlich, alles wird unwahrscheinlich. Konsequent betrachtet, verwandeln sich alle Prozesse und Handlungen in Leerzeichen, landen im Nichts, aber dieses Nichts ist wiederum angewiesen auf etwas, das nicht Nichts ist. Während Menschen sich mit etwas (mit Gegenständen, Sachverhalten, Aufgaben, dem eigenen Körper, fremden Organismen oder auch mit Gendersternchen) beschäftigen, um nicht zu verschwinden, also um dem Nichts zu entgehen, und nicht Gefahr laufen wollen, als „Null“ bezeichnet zu werden, kommen sie gleichzeitig der Leere näher, um feststellen zu müssen, dass immer (noch) eine Leerstelle fehlt. Und auf einmal werden überall Leerzeichen bemerkbar, diesseits wie jenseits von Geschriebenem. Das Wechselspiel von An- und Abwesenheit bekommt Raum, wie das Anwesende ins Abwesende und umgekehrt greift, wie und inwiefern das eine das andere für sich braucht, unter welchen Bedingungen beide kurz- oder langfristig die Plätze tauschen – all das sind Fragen, die uns bei genauerer Betrachtung von Leerzeichen in den Sinn kommen.

Die Komplexität und Komplikationen, die sich durch die Markierung eines Leerzeichens ergeben können, werden deutlich, wenn Leerzeichen nachträglich und aus ideologischen Gründen in Texte eingefügt werden: So zum Beispiel durch die flächendeckende Einfügung der derzeit üblichen Leerzeichen für geschlechtergerechte und faire Sprache in Adolf Hitlers Text „Mein Kampf“. Durch das Einfügen der gendergerechten Leerzeichen wird die vormalige Auslassung (die genderunsensible Sprache bei Hitler) nicht einfach ausgestellt oder getilgt. Durch die „Durchlöcherung“ des Textes, denn die eingefügten Leerzeichen, die alle möglichen Geschlechter mitmeinen möchten (und dabei ausgerechnet die nichtbinären Geschlechter unglücklicherweise in die Lücke verbannen), schlagen nun potenziell alle, auch die Opfer der nationalsozialistischen Ideologie und Machenschaften, auf die Seite der Täter_innen.

Diese Übersetzung in gendergerechte und faire Sprache bzw. das dahinterliegende Anliegen, „alle mitzumeinen“, führt drastisch vor Augen, dass Menschen jeglicher geschlechtlicher Identität Mitläufer_innen, Hetzer_innen, das faschistische und menschenverachtende Regime unterstützende, entsetzliche Verbrecher_innen waren und deprimierenderweise bis in die Gegenwart noch sind bzw. sein können.

Das Leerzeichen in seinen unterschiedlichsten Varianten und Einbettungen erinnert und ermahnt an das Nichts, an die Endlichkeit, an den Punkt, wo nichts zu sein scheint. Unsere Sehgewohnheiten sind auf Leerzeichen, auch abseits von Pandemie und Krieg, auf Leerzeichen trainiert. Leerzeichen sortieren und unterbrechen. Stopp. Halt. Aus.

Vor dem Loch, in den Abgrund schauend, das eigene Ende vor Augen, kann die Auseinandersetzung mit der Leere vielleicht helfen, die Leerzeichen der Zeit zu erkennen.