Eine Ver-Ortung von NORBERT TRAWÖGER, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster
Erschienen in der KEPLER TRIBUNE Ausgabe 2/2021, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster
In den Maitagen wage ich eine erste Tagesreise. Mit dem Zug geht es nach Wien. Dabei denke ich an meinen Großvater, von dem ich gar nicht mit Sicherheit sagen kann, ob er je in der Bundeshauptstadt war. Seinen Hausruckviertler Vierkanthof, in dessen Schatten ich aufgewachsen bin, hat er in seinen über acht Lebensjahrzehnten nicht allzu oft verlassen. Sonntags war er in der Messe, im Herbst auf der Landwirtschaftsmesse im nahen Wels und als aufrechter Katholik reiste er einmal nach Rom, wo er sich im Vatikan verirrte. Die Schweizergarde kam ihm zu Hilfe und er fand wieder zu seiner Gruppe und nach Hause. Bis auf seine fanatische Marienverehrung haftete keinerlei Enge an meinem Großvater. Er akzeptierte das Ausmaß seines Territoriums, bewirtschaftete seine Felder rund um seinen Bauernhof. Sein Raum strebte nicht nach Grenzerweiterung. Das Gegebene wurde angenommen und die Möglichkeiten innerhalb gefunden. Am Tag wurde gearbeitet, in der Nacht gelesen. Nur vier Jahre Schule hinderten ihn nicht, sich lebenslang unablässig zu bilden.
In Wien angekommen, sitze ich auf einer Holzbank auf der Freyung und finde mich in einem selten guten Gespräch mit einem Freund wieder, dem ich viel länger, als es die Pandemie nötig gemacht hätte, nicht begegnet bin. Wir reden über Gott, noch mehr über die Welt und trinken köstlichen Weißwein, den wir am nahe gelegenen Stand eines Italieners beschaffen. Der Cameriere entpuppt sich als der Edelitaliener, der in Normalzeiten sein exklusives Restaurant im Innenhof des angrenzenden Palais betreibt. Er bietet neben herrlichen Getränken selten schöne Blumen an. Wenn es im Lokal die Spaghetti al Ragu di Salsiccia nicht geben kann, gibt es Trinkbares und Blumen im Freien. Wenn etwas nicht geht, geht etwas anderes. Ein Hauch von südländischem Möglichkeitssinn weht über die Freyung.
Viele Menschen haben im letzten Jahr gezeigt, dass ein Ausnahmezustand kein Unmöglichkeitszustand ist. Neue Ideen, Produkte und Vertriebswege wurden gefunden und entwickelt. Vieles wurde – wenn möglich – von innen nach außen verlagert oder frei Haus geliefert. Wir haben die Segnungen des Digitalen mit allen Vor- und Nachteilen richtig zu entdecken begonnen und bemerkt, dass wir uns diesen Raum noch gehörig erobern müssen. Was macht einen Raum zu einem menschlichen Erfahrungsgebiet? Ich erinnere mich, dass in einem unserer ersten Salonabende, den wir via Zoom übertragen haben, der nicht sichtbare Hund einer Gastgeberin gebellt hat. Dieses Tier hat der flachen Mattscheibensituation zu einem körperlichen Zauber verholfen. Es hat durch sein Bellen bewiesen: Uns gibt es wirklich. Wir sind hinter dem dünnen Glas lebendig.
Wir stehen hier am Anfang, müssen experimentieren, versuchen, lernen und an uns diese neue Kulturtechnik erfahren. Wie sehr sich die dazu notwendigen Werkzeuge und Kanäle auf dem digitalen Gebiet und unser Umgang damit entwickeln, haben die letzten Monate gezeigt. Dabei wurde deutlich, wie sehr wir überhaupt das Anfänger*innendasein und das Prozesshafte verlernt haben. In allen Bereichen sind wir am Ergebnis orientiert und an eine gewisse Perfektion gewöhnt. Wenn wir schon einen Weg, einen Hergang in Kauf nehmen müssen, dann nur, wenn uns das Resultat, das Ergebnis sicher ist und stimmt. Der alleinige Sinn scheint das Ziel. Ich trete wieder für mehr Besinnung auf die Ziellosigkeit ein. Lasst uns einfach etwas ausprobieren, etwas rausfinden, nach dem wir gar nicht gesucht haben. Den fröhlich Dilletierenden ist der Zauber des Daseins gewiss, der nötig von uns allen gebraucht wird. Freilich wollten viele nicht aus dem Jammertal des Bekannten, Tradierten, Gewohnten oder Üblichen herausfinden. Wenn dies nicht möglich ist, geht nichts und die Verantwortung dafür wird bei anderen gefunden. Vielleicht ist es eine Frage der Kultur, ob dem Möglichkeits- oder dem Unmöglichkeitsraum die dominierende Rolle zugestanden wird? Und wenn ich das Wort Kultur in den Mund nehme, frage ich mich, wie randständig unsere Kultur geworden ist. Sie ist immer weniger Möglichkeitsraum, sondern ein Interessensraum, in dem sich Wirtschaft, Tourismus oder Politik versammeln, um ihre eigenen Bedürfnisse gestillt zu sehen. Die politisch-gesellschaftliche Verantwortung ist nur mehr marginal ausgeprägt, zum anderen tun sich der Kulturbetrieb und seine Menschen zum Teil sehr schwer, außerhalb ihrer Mauern zu agieren. Mauern, denen zu oft die Durchlässigkeit fehlt, um mit den und für die Menschen in die Gesellschaft hinein wirksam werden zu können. Gerade die Zeit der Pandemie beschleunigt den schon länger in Bewegung befindlichen Paradigmenwechsel in der Kultur deutlich. Es geht um Bewegung, Aufbruch und die Wiedergewinnung einer neuen Unschuld. Wir müssen in die Welt aufbrechen, um sie zu verbessern. Ja, es geht um Weltverbesserung und Wiederverzauberung. Was für ein Idealist, höre ich jetzt manche denken und denke dabei an Hans Magnus Enzensbergers Worte: „Nicht umsonst gilt es bis auf den heutigen Tag als Gipfel der Lächerlichkeit, die Welt verbessern zu wollen, indessen die konträre Anstrengung auf eine gewisse Hochachtung immer rechnen darf.“ („Im Gegenteil“, 1981) Doch um was sonst kann es wirklich gehen, als um das ewige Versuchen, die Welt ein Stück zu verbessern, für uns, unsere Kinder.
Wenn viel von der Normalität die Rede ist, werden wir uns daran gewöhnen müssen, dass unser Normalitätsbegriff viel flexibler werden wird müssen. Die Herausforderungen der Zeit kommen auf uns zu. Die Frage ist, ob wir diesen experimentier- und entscheidungsfreudig entgegentreten. Zu oft wird vergessen, dass wir nicht Opfer unserer Umstände sind – die, nebenbei erinnert, im Weltgeschehen ohnehin die bestmöglichen sind –, sondern uns ganz gehörig als Mitgestaltende begreifen. Scheitern und Zwecklosigkeit sind erlaubt. Was wir lernen müssen, ist, vieles zu verlernen, was wir als gegeben und selbstverständlich annehmen. Wir müssen verlernen, ständig nur auf die Antwort loszugehen, ohne bereit zu sein, viel mehr Fragen zu stellen. Das Infragestellen wird zu oft mit Unsicherheit gleichgesetzt. Wir müssen verlernen, gleichzusetzen und einzuordnen, weil wir es so gewohnt sind. Viele Wünsche und Träume sollen uns erfassen und laut werden. Darüber sollten wir aber nicht vernachlässigen, uns dafür einzusetzen, aufzustehen und etwas dafür zu tun. „Wenn alles in Ordnung ist, hat die Verzweiflung ihre beste Zeit“, schrieb Marlene Streeruwitz. Bringen wir die Dinge durcheinander, bauen sie anders zusammen und gleich noch mal anders.
Ich habe einen Raum! Wir haben einen Raum, lassen Sie uns diesen wahrnehmen, betreten und mit Lust mit oder ohne Ziel Hand anlegen.