Norbert Trawöger denkt übers Aufhören nach und bemerkt, dass dieses mindestens zweier Anfänge bedarf – den, an dem alles beginnt, und den, an dem das Aufhören anfängt.
Von NORBERT TRAWÖGER
Erschienen in der KEPLER TRIBUNE Ausgabe 4/2022
Geht es Ihnen auch oft so, dass Sie sich fragen, womit Sie anfangen sollen? So viel Arbeit, zu viele Möglichkeiten und noch mehr Unmöglichkeiten, von denen man in der Überfülle des Dringenden erst recht eine andere ergreift, um dem längst Aufgeschobenen zu entkommen. Ich werde mich hier nicht mit den Vorteilen der Prokrastination aufhalten, muss aber aus Erfahrung sagen, dass sich einiges von selbst erledigt, wenn man die Nichterledigung aushält. (Und gebe hier zu Protokoll, dass mir diese mindestens so schwerfällt wie das Nichtstun. Aber ich übe!) Außerdem muss der Druck eines Einsendeschlusses nicht unbedingt zum Druck ausarten, sondern kann zum gehörigen Sog werden. Der große oberösterreichische Musikermensch Balduin Sulzer, dessen Biograf ich bin, meinte einmal: „Wenn eine Muse kommt, verjage ich sie sofort. Sie hält mich nur vom Arbeiten ab. Die einzig sinnvolle Form zum Ingangsetzen der Inspiration, zur Einatmung vor der schöpferischen Ausatmung ist ein Aufführungstermin!“ Bevor man entschieden hat, was man anfängt, stellt sich die Frage, wie man es anstellt. Als Anfängerin, als Anfänger wird man auf sich selbst zurückgeworfen und muss früher oder später etwas anzufangen wissen, selbst wenn es nicht freiwillig geschieht. Zu oft haben wir gar nicht die Wahl. Es ist ein Moment, in dem wir dazu gedrängt werden, den Ausgangspunkt in uns zu finden.
Wie anfangen, wo aufhören? Erste Erinnerungen führen nie an den, schon gar nicht vor den Anfang. Kein Mensch erinnert sich an seine Geburt, vor der im Mutterleib als allererster Sinn das Gehör erwacht. Fürs Aufhören gibt es ein Wort, für den Anfang nicht. Wir fangen mit den Ohren an und hören mit ihnen auf. Unser Hörsinn erlischt erst 24 Stunden nach dem Tod. Den Zeitpunkt unseres Todes kennen wir nicht, aber dessen Gewissheit bleibt unverhandelbar. Wir sollten niemals vergessen, dass es ein Leben vor dem Tod gibt. Wie am Beginn dieses Textes kurz angerissen, kann uns das Anfangen von was und wie auch immer vor große Herausforderungen stellen. Je älter ich werde, umso mehr bemerke ich, dass das Aufhören, das bewusste Beenden eine eigene Disziplin ist, in der es sich auszubilden gilt. Ich rede nicht von den oft schmerzhaften Ereignissen des Verlusts und des Verschwindens, die wir nicht in der Hand haben und erst aushalten müssen. Wem oder etwas den Rücken zuzudrehen, wer oder was einem sehr ans Herz gewachsen, dort eine Tür zuzumachen, wo man auf ewiges Bleiberecht hofft, bringt uns zeitweilig an den Rand des Erträglichen.
„Wenn ich nur aufhör’n könnt’“ ist ein immer noch wirksamer Slogan eines Kekserzeugers, der in den 1970er Jahren erfunden wurde. Einer Zeit, der man nachsagt, sie wäre die goldene Zeit der Werbung gewesen, da es noch genug Zeit gab, so etwas zu erfinden. Der Satz entstand angeblich, weil ein Texter viel Zeit hatte und nicht so schnell aufhören musste, darüber nachzudenken. (Wie weit ein Einfall Zeit braucht, steht auf einem anderen Blatt. Aber ohne sie zu haben, passiert naturgemäß gar nichts oder viel zu viel!) Nur falls wer fragt, ich kann nur mit der helleren Kekssorte nicht aufhören. Die dunklere stellt kein Problem dar, da ich sie erst gar nicht anfange. Sie schmeckt mir nicht. Auf die Helleren zu verzichten, fällt mir leicht, wenn ich sie aus Selbstschutz erst gar nicht kaufe. Was nicht angefangen wird, braucht nicht beendet zu werden. Das Aufhören verlangt nach mindestens zwei Anfängen, dem, an dem alles beginnt, und dem, an dem das Aufhören anfängt. Mitunter ist es gut, auf jemanden zu hören, der einen ans Aufhören erinnert. Man sollte für solche Menschen zeitgerecht sorgen. Ohne nationale Klischees bedienen zu wollen, ist Österreich nicht gerade berühmt für eine ausgeprägte Rücktrittskultur. Man tritt unter seltenen Umständen vielleicht „zur Seite“ oder „ist dann mal weg“, um bald darauf wieder da zu sein. Wer auf einem guten Sessel zu sitzen kommt, braucht hierzulande keinen Kleber, um darauf sitzen zu bleiben. Durchhaltevermögen und ein gutes Maß an Ignoranz reichen völlig aus.
Wie hört man das Rauchen auf? Am besten gleich, aber das beantwortet die Frage nach dem Wie nicht. Wie hören wir auf, uns über das Verhalten des Nachbarn aufzuregen, der im Stiegenhaus wieder nicht ordentlich gegrüßt hat? Wann hören wir auf, dem anderen die Schuld an den eigenen Unzulänglichkeiten zu geben? Wann beenden wir das ewige Jammern, obwohl wir an einem Logenplatz im Weltgeschehen leben dürfen? Wie hört man einen Krieg auf, den man nicht begonnen hat? Wie hören wir auf, auf Kosten anderer zu leben? Unser Wohlstand begründet sich darauf, dass andere Menschen in fernen Ländern kräftig dafür bezahlen. Wann hören wir auf, die Klimakatastrophe zu ignorieren? Wann hören wir auf, die Gnade, den Zufall unserer Geburt in einem der reichsten Länder der Erde, als klar verdient zu betrachten?
Hört! Es ist Nacht, es ist Winter im Herzen des Wanderers. Nachdem ihn seine Geliebte verlassen hat, gibt es nichts, was ihn noch zurückhält. Nachts bricht er auf, eilt aus der Stadt, will alles hinter sich lassen. Doch es fällt ihm nicht leicht: immer wieder blickt er zurück und schwelgt in süßer Erinnerung an glücklichere Tage. Die Rede ist von Franz Schuberts „Winterreise“, die Sie Ende Jänner in einem Salonereignis live hören können. Der Theologe und Psychotherapeut Arnold Mettnitzer wird uns in diesen „schauerlichen Zyklus“ hineinbegleiten. Die Künstlerin und Forscherin Barbara Ungepflegt eröffnet das Salonjahr mit exklusiven Leerzeichen, Löchern, Lücken und Rissen. Der Politikwissenschafter Anton Pelinka ist in der Dunkelkammer von Karin Wagner zu Gast. Fakt oder Fake, fragen die JKU-Statistiker Werner G. Müller und Andreas Quatember. Der Essayist Franz Schuh fragt, wie frei die Medien sind, und die Philosophin Lisz Hirn, ob Politik böse macht. Einem eminent wichtigen Thema unserer Tage, der Armut, widmet sich die Aktivistin Daniela Brodesser. Sie berichtet ungeschönt über armutsbedingte Ausgrenzung, Beschämung und Verzweiflung und ihre Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Im Jahr 2021 waren in Deutschland und Österreich etwa 15 bis 17 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet, rund 14,5 Millionen Menschen. Dennoch wissen wir nichts über Armut. Viele und mehr Fragen und mögliche Antworten erwarten Sie im ersten Quartal im Kepler Salon!
Den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören zu erwischen ist eine Kunst. Am besten verabschiedet man sich dann, wenn es am schönsten ist, sagt der Volksmund. Aber wer gibt einem die Garantie, dass es nicht noch viel schöner wird? Noch größer scheint es mir, eine Kunstfertigkeit zu entwickeln, die die Möglichkeit des bewussten Beendens, des Änderns als echte Möglichkeit erachtet.
Der Kepler Salon ist seit 2009 ein Wissensvermittlungs- und Diskursort, der in Europa einzigartig ist. Seit 2019 wird er von der Johannes Kepler Universität getragen. Im kommenden Jahr trage ich zehn Jahre die Verantwortung für diesen unglaublichen Möglichkeitsraum, was im zweiten Quartal bewussten programmatischen Ausdruck finden wird. Ich liebe den Salon und seine Menschen mehr denn je. Der Salon gehört zu mir, dennoch ist es Zeit aufzubrechen. Ende Juni 2023 werde ich meine Aufgabe beenden. Ich höre auf, um neue Anfänge für die Institution und mich zuzulassen. Eines sei Ihnen versichert, ich werde es bis zum letzten Tag wissen wollen, auf Erkenntnisse, Einblicke, Perspektiven, Zusammenhänge und völlig Unbekanntes neugierig sein. Und vor allem, was wären wir ohne Du, das uns zuhört, das uns anspricht, das sich uns zuwendet, einem Du, in dessen Gesicht wir viel mehr lesen, als je in Worte fassbar ist. Das Um und Auf ist das Menschliche, das Wir! Ich freue mich aufs Begegnen, Feiern und werde mich im Nichtstun und Aufhören üben. Der Anfänge wegen. Bleiben Sie mir und vor allem dem Kepler Salon gewogen!