Wenn die Psyche den Richtern ein Schnippchen schlägt: Ist der Beschluss, jemanden zu verurteilen, einmal gefasst, werden entlastenden Beweisen eine geringere Bedeutung beigemessen. Warum das so ist und welche Strategien es geben könnte, um unbewusste Fehler zu vermeiden, beschäftigt Forscherinnen der JKU. Der „Advocatus Diaboli“ oder eine Gegenschrift könnten wirksame Methoden einer sorgfältigen Beweiswürdigung sein.
Ein Angeklagter steht vor Gericht. Ob er den Saal als Verurteilter verlässt, wird vor allem von einer Frage abhängen. Reichen die Beweismittel aus, um ihn schuldig zu sprechen?
Ein mögliches Motiv wird dabei ebenso eine Rolle spielen wie eine gefundene Tatwaffe oder andere Indizien, die den Täterkreis einengen. Nun liegt es an den Richtern, zu klären, wie man die Beweise richtig einschätzt. Sie haben dabei nach geltendem Recht einen weiten Spielraum, ihnen obliegt die sogenannte freie Beweiswürdigung.
Doch ganz so frei, wie man oft glaubt, sind Menschen und damit auch Richter gar nicht, wenn es um die Beweiswürdigung geht. Die eigene Psyche kann uns allen schnell einen Streich spielen. Ein Team der Johannes Kepler Universität hat es sich nun zum Ziel gesetzt, die möglichen Probleme im Zusammenhang mit der freien Beweiswürdigung aufzuzeigen und nach Lösungen zu suchen.
Hat man sich als Richter etwa einmal dazu durchgerungen, jemanden zu verurteilen, werden weitere Beweisergebnisse zu leichtfertig als Bestätigung zur schon gewonnenen Ansicht gewertet. Auch wenn der Beweis für sich allein genommen eigentlich gar nicht so aussagekräftig in diese Richtung wäre. „Man zieht sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf. Man ist sich viel sicherer, als es eigentlich angemessen wäre“, sagt Petra Velten, Vorständin des Instituts für Strafrechtswissenschaften an der JKU.
Als Beweis dafür dient etwa eine Studie, die der Wissenschaftler Mark Schweizer (sein Name verrät auch seine Herkunft) durchgeführt hat. Er legte 120 Personen einen strafrechtlichen Fall vor. Es ging um die Frage, ob der Angeklagte Geld aus einem Tresor entwendet hatte, zu dem acht Personen Zugang hatten. Die vorgelegten Beweise waren nicht eindeutig, man konnte sie sowohl als Beweis für die Schuld als auch für die Unschuld des Angeklagten deuten.
Zuerst wurden die Studienteilnehmer gefragt, ob sie den Beschuldigten verurteilen oder freisprechen. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten entschied sich für eine Verurteilung. Danach sollten die Teilnehmer sagen, für wie hoch sie die Wahrscheinlichkeit halten, dass er die Tat begangen hat. Die Gruppe jener, die den Mann freisprachen, orteten im Schnitt eine 45-prozentige Tatwahrscheinlichkeit. Die Schuldigsprecher waren hingegen der Meinung, dass der Angeklagte mit 80 Prozent Wahrscheinlichkeit die Tat begangen habe.
Nun ist es zwar nur logisch, dass die Schuldigsprecher die Prozentzahl höher ansetzten als jene, die den Mann freisprachen. Aber ein derart hoher prozentueller Unterschied bei ein und demselben Fall war doch überraschend. „Gedeutet wird das Ergebnis so, dass Menschen, die zu einer Verurteilung tendieren, sich dabei viel sicherer sind als diejenigen, die freisprechen“, erklärt Velten. In weiterer Folge wurden die Probanden gebeten, die verschiedenen Beweisergebnisse einzeln zu bewerten. Daraus wurde dann eine Gesamtwahrscheinlichkeit dafür errechnet, dass der Angeklagte die Tat begangen hat. Bei den Verurteilern ergab sich dadurch, dass sie den Angeklagten mit 69 Prozent Wahrscheinlichkeit für schuldig hielten – ein deutlich niedriger Wert als zuvor. In der Gruppe, die sich für einen Freispruch entschieden hatte, lag der Wert hingegen bei 63 Prozent, also höher als zuvor. Wenn man also die Beweisergebnisse einzeln beleuchtete, glichen sich die Ergebnisse der beiden Gruppen an. Ein Schluss aus dieser Studie lautete daher, dass Menschen bei einem Entscheidungsprozess beginnen, mögliche Widersprüche zu der einmal angenommenen Meinung intuitiv zu glätten.
Nachdenklich macht auch eine Studie der University of California-Irvine (USA). Rachel Greenspan und Nicholas Scurich erforschten darin unter anderem die Frage, inwieweit Geschworene die Freiwilligkeit eines Geständnisses unabhängig von den Beweismitteln beurteilen. Den Studienteilnehmern wurden Geständnisse präsentiert, sie wussten aber nicht, ob diese freiwillig abgelegt oder im Verhör erzwungen worden waren. Und es zeigte sich: Wer einmal das Motiv für eine Tat als überzeugend empfand, war dann auch eher der Meinung, dass das Geständnis freiwillig erfolgt sein muss und umgekehrt.
Was könnte man nun tun, damit Richter sich bei der Beurteilung der Schuld nicht so sehr auf einen unterbewusst einmal eingeschlagenen Weg verlassen? Eine Möglichkeit wäre laut den Expertinnen der JKU, dass in einem Prozess mit mehreren Richtern einer davon zum „Advocatus Diaboli“ wird. Er nimmt bewusst die Perspektive des Beschuldigten ein und hilft so, die Beweise und Argumente kontrovers zu betrachten. Der Richter würde die Tat des Angeklagten durch die neue Sichtweise anders bewerten, so die These. Ein anderer Weg wäre, schon bei der Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die Anklage anzusetzen und dem polizeilichen Abschlussbericht einen Sachverhalt von Verteidigerseite gegenüberzustellen, um frühzeitig eine ausgewogene Sicht zu gewährleisten. „Das ist zwar schon derzeit auf freiwilliger Basis möglich, es geschieht aber in der Praxis selten“, berichtet Lyane Sautner, Leiterin der Abteilung für Strafrecht und Rechtspsychologie an der Kepler Universität. „Die Strafprozessordnung gibt ein bestimmtes Prozedere vor und da ist so eine Gegenschrift, wie man sie aus dem Zivilprozess kennt, nicht standardmäßig vorgesehen.“ Aber gerade diese Gegenschrift könnte wichtig dafür sein, dass Richter nicht schon zu früh im Verfahren eine bestimmte Richtung bei der Frage der Schuld einschlagen.
Wie ist es nun mit Laienrichtern, die in Österreich als Geschworene ganz allein über Schuld und Unschuld bei Kapitalverbrechen wie Mord urteilen? Ist ihr Unterbewusstsein leichter beeinflussbar als jenes von Berufsrichtern? Eher nicht, meint Sautner. Die genannten Studien würden ganz generell die Fallstricke der Beweiswürdigung aufzeigen. „Und diese Studien haben eine große Sprengkraft, weil sie zeigen, dass die Beweiswürdigung insgesamt nicht so funktioniert, wie der Gesetzgeber sie vorgesehen hat“, sagt die Professorin. „Denn selbst wenn man ganz unvoreingenommen an die Sache herangeht, kann die Beweiswürdigung einseitig sein. Das kann sich sowohl bei Laien als auch bei Berufsrichterinnen und -richtern zeigen.“
„Es gibt viele Forschungen, die zeigen, dass bei Richtern die gleichen psychologischen Mechanismen stattfinden wie bei Geschworenen“, ergänzt die Rechtspsychologin Susanne Schmittat. „Nur scheint es so, dass sie manchmal vergessen, dass auch sie Menschen sind und menschliche Fehler begehen können“, erklärt die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung für Strafrecht und Rechtspsychologie.
Das Thema ist aber eines, das in Österreich, im Gegensatz zum englischsprachigen Raum, bisher kaum beachtet wurde. An der JKU will man die Forschung dazu aber im Rahmen des neuen Schwerpunkts „Procedural Justice“ vorantreiben. Schon jetzt laufen die Vorbereitungen dazu. Im Entwicklungsplan der Universität ist das Gebiet für die Jahre 2019 bis 2024 ix vorgesehen.
„Was im deutschen Sprachraum bisher kaum stattfindet, ist die experimentelle Forschung im juristischen Bereich“, sagt Schmittat. Also, dass man Personen verschiedene Akten vorlegt und beobachtet, wie die Versuchspersonen auf Veränderungen reagieren. Man könnte etwa auch testen, wie Probanden auf ein unterschiedliches Verhalten von Angeklagten reagieren, erklärt Velten: „Macht es einen Unterschied, ob er nur seine Unschuld beteuert? Oder wenn er auch einen anderen möglichen Tathergang skizziert?“
Keinesfalls geht es bei dem Thema um Schuldzuweisungen an Richter in der Praxis, betonen die Wissenschaftlerinnen. „Kognitive Verzerrungen sind in der Psychologie akzeptiert. Es geht gar nicht anders, als dass man voreingenommen ist. Und es wird langsam Zeit, dass unser Strafverfahren auf diese Fehlerquellen reagiert“, betont Velten.
Wie man das am besten tut, will das interdisziplinäre Team der JKU auch in Zusammenarbeit mit der Sozialpsychologin und Entscheidungsforscherin Birte Englich der Universität Köln in den nächsten Jahren herausfinden. Damit das Unterbewusstsein bei der Beweiswürdigung nicht mehr so leicht einen Streich spielen kann. Und damit die Frage über Schuld oder Unschuld künftig mit noch größerer Sicherheit richtig beantwortet wird.