Gentherapie gilt als eine der großen Hoffnungen auf Heilung seltener Krankheiten. Aber sie ist nicht unumstritten. Denn sie mäandert zwischen medizinischem Fortschritt, Grenzüberschreitungen und ethischen Herausforderungen. Eine Annäherung in drei Teilen.
1. Der Aufreger
Es war „the darkest hour of biology“, sagt Genetikerin Irene Tiemann-Boege von der Johannes Kepler Universität Linz (JKU). Ein Experiment am Menschen, ethisch zweifelhaft, das verboten ist und zu Recht verboten sein muss. Im November 2018 verkündete der chinesische Wissenschaftler He Jiankui in einem YouTube-Video, er habe das Erbgut von Zwillingen so verändert, dass sich die Babys nicht mit dem HI-Virus anstecken können. Beweise legte er damals nicht vor, auch die Identitäten der beiden Mädchen mit den Pseudonymen Lulu und Nana blieben geheim.
Der Vater der Mädchen soll HIV-infiziert sein, und um eine mögliche Ansteckung zu verhindern, brach He Jiankui ein Gesetz der Forschung: Er implantierte mit Hilfe der Genschere CRISPR eine HIV-Resistenz in menschliche Embryonen. Damit griff er direkt in das Immunsystem der Mädchen ein. Im Gegensatz zur herkömmlichen Gentherapie, bei der nicht die Embryos verändert, sondern gezielt Zellen kranker Organe behandelt werden. Und vor allem fand der Eingriff dort statt, wo Gentherapien bisher nicht eingesetzt werden: in der Keimbahn des Menschen.
Die Gene eines Embryos zu verändern ist ein schwerwiegender Eingriff ins Erbgut. Es bedeutet, dass die Manipulationen ab dann in allen Zellen des so veränderten Menschen zu finden sind – also künftig auch über Ei- und Samenzellen an weitere Generationen vererbt werden können. Und es ist ein Eingriff, der die Folgen nicht absehen lässt. Denn das Editieren eines Gens kann auch an anderen Stellen des Erbguts zu Veränderungen führen. Dreht man an einer Schraube, drehen sich andere mit. Noch schlimmer: Man könne noch nicht einmal absehen, inwieweit das Drehen der Schraube überhaupt etwas Positives bewegt, sagt Tiemann-Boege. Man kennt die Auswirkungen auf das Immunsystem nicht, es gibt „off targets“, die DNA kann also ab und zu an unspezifischen Stellen angegriffen werden. Nichts davon sei momentan absehbar, nichts auszuschließen.
Konkret geht es bei dem Fall der Zwillingsmädchen in China um ein Eiweiß, das vom Gen CCR5 codiert wird und ein wichtiges Tor für das HI-Virus ist. Menschen, denen das Gen fehlt, haben ein geringeres Risiko, sich mit HIV zu infizieren. In einer Studie der University of California in Berkeley haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 400.000 Menschen im Alter von 40 bis 78 Jahren untersucht, die unterschiedliche Genvarianten von CCR5 in sich tragen. Das Ergebnis: Menschen mit der Genmutation, also Menschen, die zwar resistent gegen das HI-Virus sind, haben jedoch dafür eine bis zu 21 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit, 76 Jahre alt zu werden. Warum das so ist, ist nicht ganz klar. Tatsache bleibt aber: Es ist ein Protein, das im Körper eine Aufgabe hat. Zerstört man dieses Protein mittels Mutation, ist das an anderer Stelle ein Problem für den Körper. So ist etwa die Sterblichkeitsrate bei einer Grippe- Infektion um ein Vierfaches höher. Es kann also sein, dass die Mädchen jetzt gegen das HI-Virus immun sind, an anderer Stelle aber ein höheres Risiko haben zu erkranken.
2. Der Stand der Forschung
Genveränderungen sind an sich nicht schlimm oder gefährlich, wenn sie krankheitsverursachende Gene betreffen. Im Gegenteil: Gene verändern sich ständig auf natürliche Weise, so funktioniert Evolution. Nun haben Forscherinnen und Forscher seit einigen Jahrzehnten die technischen Mittel, um gezielt ins Erbgut einzugreifen, was, wie jede neue Technik, Chancen, aber auch immense Risiken birgt: Die Genschere CRISPR/Cas9 gilt als die bedeutendste wissenschaftliche Entdeckung des 21. Jahrhunderts. Die Methode funktioniert nach dem Vorbild von Bakterien und kann Erbgut gezielt schneiden, verändern und wieder einbauen. Egal, ob es um die DNA von Pflanzen, Tieren oder eben um jene von Menschen geht. Gene können mit der Schere eingefügt, entfernt oder ausgeschaltet werden. CRISPR steht für „clustered regularly interspaced short palindromic repeats“, es sind Abschnitte sich wiederholender DNA, also kurze palindromische Wiederholungssequenzen. Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna veröffentlichten 2012 die erste wissenschaftliche Dokumentation dazu.
Die Begeisterung in Fachkreisen war zu Beginn enorm, versprach die Genschere doch, das Erbgut so präzise und zielgenau verändern zu können, dass die Gefahr von Schäden auf ein Minimum reduziert wird. Und sie bot erstmals die Möglichkeit, geschädigte Gene direkt zu reparieren. Doch die möglichen Risiken sind nicht zu unterschätzen – ebenso wie die vorliegende Aufgabe: Viele Milliarden von Körperzellen müssen mit Genscheren behandelt werden, damit die Therapie eine spürbare Wirkung entfalten kann. Dabei muss die Fehlerrate so gering wie nur möglich sein, um zu verhindern, dass eine unglückliche Mutation in einer dieser Körperzellen zu Krebs führt. „Je nach Literatur bewegt sich die Möglichkeit, dass die Schere doch an Stellen schneidet, wo sie nicht soll, bei bis zu zwei Prozent“, sagt Primar Hans-Christoph Duba, Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik am Kepler Universitätsklinikum. Schon oft seien Erfolge und Aussichten der Gentherapie euphorisch begrüßt worden, die Ergebnisse meistens im Sand verlaufen. Vieles stecke noch in den Kinderschuhen.
Seit den 90er-Jahren hoffen Forscherinnen und Forscher, dass Gentherapien Krankheiten von Grund auf heilen würden, anstatt sie mittels Medikamenten zu behandeln. Der erste große Dämpfer kam 1999, als der erst 18-jährige US-Amerikaner Jesse Gelsinger, der an einer Studie teilnahm, an einem Organversagen starb – vier Tage nach dem Versuch, eine erblich bedingte Stoffwechselstörung seiner Leber mit einem gesunden Gen zu korrigieren. Erste Therapieerfolge mit der Genschere gab es im November 2019: In Deutschland ist es gelungen, die angeborene Blutkrankheit Beta-Thalassämie erfolgreich zu therapieren, in den USA die Sichelzellerkrankung. Ein medizinischer Meilenstein. Es sei wichtig, dass es die Genschere gebe, nun sei es die Aufgabe, sie zu verfeinern, sagt Irene Tiemann-Boege und erzählt von einer erfolgreichen Gentherapie für sogenannte Schmetterlingskinder. Hierbei werden Stammzellen der Haut entnommen, das kaputte Gen wird ausgetauscht. Die Haut mit den gesunden Zellen wächst und wird den Kindern wieder implantiert. „Diesen Kindern kann man heute beim Fußballspielen zusehen – etwas, das mit ihrer Krankheit ansonsten unmöglich gewesen wäre“, sagt sie. Auch in der Onkologie gibt es eine Gentherapie, bei der man versucht, die Immunzellen besser vorzubereiten, um sie aktiver gegen den Krebs zu machen. Und, so die Hoffnung der Forscherinnen und Forscher, Gentherapien könnten die entscheidende Wende bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer, Chorea Huntington und anderen bringen.
Die Genschere wird in Zukunft wahrscheinlich für gewisse genetische Krankheiten die ideale Methode sein, sagt Primar Duba. Tatsächlich aber liege der Schwerpunkt, und so sollte es auch sein, darauf, die Funktion der Gene besser verstehen zu lernen – um dann passende Mechanismen zu finden, die medikamentös beeinflusst werden können.
3. Die Ethik und das Superbaby
Das Gentherapie-Mittel Zolgensma gilt als das teuerste Medikament der Welt, eine einzelne Infusion mit dem Wirkstoff kostet 2,1 Millionen Dollar. Derzeit befindet sich das Medikament, das bei der spinalen Muskelatrophie (SMA) eingesetzt werden kann, im Zulassungsverfahren. Nun hat der Schweizer Pharmakonzern Novartis für Aufregung gesorgt, denn er hat verkündet, das Medikament Hundert Kindern unter zwei Jahren kostenlos zur Verfügung zu stellen – indem eine Kommission eine Verlosung abhält. Krankenkassen verurteilen dieses „Glücksspiel“, und tatsächlich wirft es die Frage auf: Wem wird künftig Heilung vorbehalten sein? Pharmakonzerne vertreten die hohen Preise mit Entwicklungskosten, aber nicht nur. Sie geben auch offen zu, dass die Nachfrage das Angebot bestimmt. „Der Preis spiegelt den Wert wider, den diese Behandlung für Patientinnen und Patienten und das Gesundheitssystem hat, als auch die sehr geringe Zahl von Patientinnen und Patienten“, heißt es von Seiten Novartis’. Neben den Kosten gibt es einen weiteren ethisch interessanten Punkt bei der Gentherapie: Die Geburt der ersten genetisch veränderten Babys erschütterte die wissenschaftliche Welt vor allem deshalb, weil der Eingriff in deren Keimbahnen stattfand, wobei nach derzeitigem Stand nicht absehbar ist, zu welchen weiteren Mutationen es im Körper kommen kann.
2019 veröffentlichte der Deutsche Ethikrat eine 230 Seiten umfassende Stellungnahme zu Gentherapien, worin sich das Expertinnen- und Expertengremium mit ethischen Fragen beschäftigt. Die Conclusio? Ein Eingriff in die Keimbahn sei nicht unvorstellbar, derzeit aber aufgrund der ethischen Folgen nicht absehbar und deswegen ein Risiko. Die Verfahren sind zu unausgereift, die Gefahr unerwünschter gesundheitlicher Folgen zu groß. Forscherinnen und Forscher sagen, es müsse einen internationalen und verbindlichen Konsens darüber geben, wie man mit dem Eingriff in die menschliche Evolution umgehen möchte. Eine Möglichkeit wäre etwa ein internationaler Vertrag, ähnlich wie im Fall der Kernenergie. Wenn Experiment. Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, erklärt, es drohe eine Wild-West- Mentalität in der Forschung bei Eingriffen in die menschliche Keimbahn. Es sei Aufgabe der Politik, auf globaler Ebene Institutionen zu schaffen, die den Fortgang der Wissenschaft registrieren. Tatsächlich hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Komitee mit diesem Ziel eingerichtet, aber kontrollieren, was in den jeweiligen Laboren der unterschiedlichen Länder vor sich geht, kann sie nicht. Doch wenn die Wissenschaft das Erbgut von Menschen dauerhaft verändern kann, wird sich das Selbstverständnis der Menschheit ändern – und damit unsere Gesellschaft. Dabei gebe es oft eine Alternative: Wenn etwa nur die Mutter oder der Vater einen Gendefekt hat, kann, wenn das gewünscht ist, bei einer künstlichen Befruchtung das Erbgut mittels Präimplantationsdiagnostik untersucht und Embryonen können gezielt ohne Gendefekt ausgewählt und in die Gebärmutter eingesetzt werden. So, wie es momentan schon bei Gentests während der Schwangerschaft passiert. Tatsächlich beginne die Optimierung des Menschen weit vor der Humangenetik, sagt Uli Meyer, Professor am Institut für Soziologie an der JKU. Bildung sei Optimierung, genauso wie Sport, jede Verbesserungsidee von Körper und Geist. „Aktuell beginnt die Optimierung häufig mit Fitnesstrackern, Nahrungsergänzungsmitteln und Proteinshakes, erstreckt sich über die Verwendung von Medikamenten, ohne dass eine medizinische Indikation vorliegen würde, und geht bis hin zu Schönheitsoperationen. Gesichtsfaltenglättung wird inzwischen als „Botox to go“ angeboten, also Optimierung im Vorbeigehen quasi. All diese Optimierungsbestrebungen liegen noch weit vor Gentherapien.“
Doch wie weit kann und will sich der Mensch optimieren? Transhumanismus sei hier ein Stichwort, sagt Meyer, also die Philosophie, die menschlichen Möglichkeiten intellektuell, physisch oder psychisch, mit Hilfe von Technik zu erweitern. „Ein Beispiel: Fehlt einem Menschen ein Arm, versucht die klassische für einzelne Staaten unterschiedliche, individuelle Regeln gelten, wird es kompliziert. Denn klar ist: Solange es die nötige Technik gibt, wird sie benutzt werden – und das nicht nur auf legalem Weg. CRISPR-Werkzeuge kann man im Internet bestellen, zur Anwendung braucht es zwar ein Labor und einiges an Fachwissen, aber nichts, was nicht machbar wäre. Es gibt vermutlich weltweit kleine Labors, die mit der Not von Menschen unseriöse Geschäfte machen, sagt Tiemann-Boege. Regulierungsbehörden gebe es in Europa und den USA genug, so Primar Duba, aber „es wird immer jemanden geben, der an Behörden vorbeigehen will“. Es sei ein gutes Zeichen, dass man so hart gegen die Manipulation an den Embryos der chinesischen Mädchen vorgehe. Über He wurde ein Berufsverbot verhängt, er wurde zu Gefängnis und einer Geldstrafe von 380.000 Euro verurteilt.
Doch welche Krankheiten sollen genetisch repariert werden dürfen, und was genau definiert Krankheit überhaupt? Der russische Mikrobiologe Denis Rebrikov will in seinem Heimatland ein Experiment mit CRISPR/Cas9 starten und die DNA von Embryos verändern, die Kinder tauber Eltern sind, also eine genetisch bedingte Form der Taubheit mittels Genmanipulation beheben. Und das, obwohl weder Nebenwirkungen absehbar noch die Folgen ausreichend einzuschätzen sind. Dabei haben Menschen, die taub sind, nur eine bedingt eingeschränkte Lebensqualität, wenn überhaupt. Die Frage ist: Handelt es sich um eine Krankheit – und selbst wenn, um eine so schwerwiegende, dass eine Genmanipulation angebracht ist? Auch beim Anderssein kann man eine Richtung einschlagen, die sehr positiv ist, sagt Irene Tiemann-Boege. Tatsächlich besteht unsere Gesellschaft aus Menschen mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen. Das unüberlegte und tiefgreifende Manipulieren dieser Schwächen kann uns auch die Stärken kosten. „Das Projekt ist opportunistisch, unethisch und beschädigt das Ansehen einer Technologie, die helfen soll, nicht schaden“, sagt etwa Jennifer Doudna, die Mitentwicklerin der CRISPR/Cas9-Methode über Rebrikovs Prothetik, den menschlichen Arm so präzise wie möglich nachzubilden. Und dann gibt es die transhumanistische Perspektive, die sagt, bauen wir doch einen verbesserten Arm. In diesem Fall geht es um die Überwindung der Beschränkungen des menschlichen Körpers.“ Zumindest wenn es um den genetisch verbesserten Supermenschen geht, ist er einstweilen noch im Reich von Science-Fiction- Autorinnen und -autoren zu belassen. „Es ist momentan nicht möglich, ein Superbaby zu bauen“, sagt Primar Duba und verweist auf eine Studie von November 2019, die testet, ob es möglich wäre, komplexe, polygene Merkmale, wie beispielsweise Intelligenz, zu optimieren. Forscherinnen und Forscher um Shai Carmi von der Hebräischen Universität Jerusalem sind dem nachgegangen. Das Ergebnis: „Unter aktueller Technologie und mit fünf lebensfähigen Embryonen pro Paar läge der durchschnittliche Vorteil bei 2,5 IQ-Punkten und 2,5 Zentimetern Körpergröße“, schreiben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Und dann habe jedes Neugeborene noch fünfzig bis hundert Mutationen, die nicht von den Eltern kommen, ergänzt Duba – somit wäre ein genetisches Verändern der Keimbahn nicht nur ethisch fragwürdig, es würde auch wenig bringen, denn knapp drei IQ-Punkte mehr machen nicht den Übermenschen. „Das momentane Hauptaugenmerk in der Forschung liegt darauf, neue funktionelle Gene zu finden“, sagt Duba. Tatsächlich: Mit Stand vom 29. Jänner hat die internationale Gen-Datenbank 25.319 Einträge – und von lediglich 5.755 weiß die Wissenschaft exakt, welches Gen welche Funktion hat und welche Erkrankung verursacht.