Die Zukunft wirkt durch Dauerkrisen wie eine einzige Katastrophe und dass es schnell zurück in die gute alte Zeit gehen kann, glaubt seit dem Krieg in der Ukraine auch niemand mehr. So wie bisher können wir aber nicht weitermachen. Das ahnen fast alle. Aber begreifen wir es auch? Ein Essay von Stephan Lessenich.
Für die demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften stellt sich das 21. Jahrhundert als eine Zeit der Aneinanderreihung von Krisen dar. Krisen, die zuletzt in immer kürzeren Abständen aufeinanderfolgten – und in ihren Effekten kumulierten, denn die Folgen der jeweils vorherigen waren noch lange nicht ausgestanden, als auch schon die nächste vor der Tür stand. Zunächst Finanz- und Migrations-, zuletzt Corona- und Ukraine-Krise, über alldem schwebend die Klima krise: Schon jede für sich erschütterte alte Gewissheiten. Sie alle zusammen aber lassen jenes Gestern, als die Welt noch in Ordnung schien, eine Ewigkeit entfernt erscheinen.
Das Gefühl, dass die Welt aus dem Lot ist, dass die Dinge womöglich unaufhaltsam ins Rutschen geraten sind, ist heute nicht mehr nur auf benachteiligte Sozialmilieus oder die jüngere Generation beschränkt. Es ist zum Lebensgefühl einer ganzen Gesellschaft geworden. Dass die Zukunft uns etwas Besseres zu bieten haben könnte als die Vergangenheit, dass die Institutionenordnung der Gegenwart den ökonomischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen der Zeit gewachsen sein könnte: Wer glaubt das ernsthaft noch?
Der völlig unverhoffte Corona-Schock hat uns über zwei Jahre hinweg in den kollektiven Ausnahmezustand versetzt. Die pandemische Situation wirkte wie eine gesellschaftliche Zwischenzeit: Das individuelle und kollektive Leben glich einem seltsamen Schwebezustand, den wir lieber heute als morgen wieder verlassen wollten. Doch dann geriet die Zwischenzeit zur „Zeitenwende“, urplötzlich machte der Ukraine-Krieg jede Hoffnung auf die Rückkehr der „guten alten Zeiten“ zunichte.
Sicher, die Restauration der alten Welt steht gleichwohl noch auf der politischen Agenda westlicher Gesellschaften: Das moderne Vorstellungssyndrom ökonomischen Wachstums, technologischer Naturbeherrschung, nationaler Souveränität, sozialer Integration und kultureller Dominanz ist nach wie vor lebendig. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht mehr so. Die Verunsicherung ist allgemein, die Verdrängung wird zunehmend schwieriger, die Einschläge – im wahrsten Sinne des Wortes – kommen näher.
Der nötige Wandel ist viel größer, als viele glauben
Gleichwohl aber ist das ganze Ausmaß jenes Wandels, der unausweichlich bevorsteht, gesellschaftlich noch gar nicht begriffen: Man denke nur an das, was in der Öffentlichkeit als „Klimawandel“ verhandelt wird – und was in seiner weitgehenden Fixierung auf CO2-Emissionen die Reich- und Tragweite der durch industrielle Produktions- und Konsumweisen angetriebenen erdsystemischen Transformationen nicht einmal in Ansätzen zu erfassen vermag. Oder auch an das, was sich nicht erst ankündigt, sondern heute schon Realität ist: Eine durch das Zusammenspiel von Wirtschaftskrisen, militärischen Konflikten und ökologischen Zerstörungen angefachte, von der COVID-19-Pandemie und dem Ukraine-Krieg befeuerte Nahrungsmittelkrise, die die Zahl der weltweit von akuter Hungersnot betroffenen Menschen binnen kürzester Zeit auf historisch nie dagewesene Werte hat anschwellen lassen.
Wenn aber alldem so ist: Wo könnte da noch irgendeine Hoffnung liegen? Wir leben in einer Gesellschaft, der das Alte verloren geht, die etwas Neues aber noch nicht denken kann. Wie also umgehen mit der Tatsache einer schon von der bloßen Vorstellung ganz anderer gesellschaftlicher Vorstellungen traumatisierten Gesellschaft?
Niemand sollte sich in der privilegierten Position wähnen, in derart vertrackten gesellschaftlichen Verhältnissen Rat zu wissen. Doch lässt sich zumindest sagen, worin die große Herausforderung der gegenwärtigen Konstellation liegt: Nämlich in der gemeinschaftlichen Anerkennung der zutiefst irrationalen Rationalität, der die Gesellschaft, in der wir leben, bis auf den heutigen Tag folgt.
Ganz gleich, worum es jeweils geht, ob um Finanz- oder Klima-, Pandemie- oder Energiepolitik: Es gilt, die Macht der Illusion zu brechen. Der Illusion nämlich, dass wir mit den alten Rezepten weiter-, ja auch nur ansatzweis e durchkommen könnten. Wie ist es möglich, dass sowohl die Bemühungen um die Rettung des Weltklimas wie auch die Aktivitäten zu dessen Zerstörung sich auf einem historischen Allzeithoch befinden? Was sagt es uns, wenn in Deutschland ein grüner Wirtschaftsminister in die moralische Zwickmühle gerät, zur Aufrechterhaltung unserer letztlich unhaltbaren Lebensweise die Energielieferungen des einen Despoten durch die eines anderen ersetzen zu müssen? Wie kann es sein, dass sich die strukturellen Widersprüche unserer gesellschaftlichen Existenz offenbaren, wir in unserem Alltag aber doch weiterhin so tun, als ob nichts wäre?
Die selbst produzierten Zwänge können abgelegt werden
Hier liegt wohl einer der Schlüssel zur Realisierung – zur Wahrnehmung und Verwirklichung – der Möglichkeiten einer „anderen Gesellschaft“: In der Anerkennung des Eigenanteils der gesellschaftlich Handelnden an der Herstellung und Fortführung der sie bindenden Verhältnisse. Wir leben in einer Gesellschaft der selbst produzierten Zwänge – die auch nur durch uns selbst, und durch niemand anderen, abgestreift werden können.
Was daher zuallererst ansteht, ist eine Transformation der sozialen Vorstellungswelt: Ein wahres Neudenken der kollektiven Möglichkeiten einer Befreiung von Zwängen, die wir immer noch als Freiheiten missverstehen. Die grenzenlose Politik der „unausgeschöpften Potenziale“, die uns nun seit Jahrzehnten angetrieben hat, hat sich endgültig erschöpft. Statt nach den allerletzten Möglichkeiten des Weiter-So zu suchen, müssen wir endlich nach den nicht realisierten Potenzialen des Anderen fragen. Nur so haben wir – wenn überhaupt – noch eine Zukunft.