Die Lernsoftware GeoGebra hat Millionen Userinnen und Usern gezeigt, dass Mathematik vielleicht doch nicht so schlimm ist. Entwickelt hat sie Markus Hohenwarter von der Kepler Universität Linz – und es damit geschafft, Mathe zu einem spannenden Experiment zu machen. Auch auf dem Smartphone.
Fast wäre es nichts geworden mit GeoGebra. Als der junge Lehramtsstudent Markus Hohenwarter seinem Informatikprofessor vorschlug, als Abschlussarbeit eine Lernsoftware zu programmieren, die Geometrie und Algebra vereint, riet dieser ihm davon ab. Er fand es schlicht nicht interessant genug. Doch Hohenwarter ließ nicht locker. Denn: Während des Studiums an der Universität Salzburg hatte es ihn immer frustriert, auf separate Lernprogramme zurückgreifen zu müssen. „Mit der einen Software konnte ich nur rechnen, mit der anderen nur geometrisch konstruieren. Ich war immer gezwungen, in einer Welt zu bleiben“, sagt Hohenwarter. Also fing er einfach an zu programmieren. Ein halbes Jahr später stellte Hohenwarter seinem Professor die Ergebnisse erneut vor – dieses Mal erkannte dieser das Potenzial des Projekts.
Das war im Jahr 2000. Heute nutzen rund 100 Millionen Menschen GeoGebra, können auf über eine Million digitale Arbeitsblätter in 60 Sprachen zurückgreifen, und Markus Hohenwarter hat zahlreiche Auszeichnungen für seine Lernsoftware erhalten. An der Johannes Kepler Universität Linz arbeitet er mittlerweile mit einem Team von 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der stetigen Weiterentwicklung von GeoGebra.
Markus Hohenwarter hätte mit diesem Erfolg nie gerechnet. Betrachtet man aber die Entwicklung digitaler Lernformen insgesamt, überrascht es nicht, dass GeoGebra für viele Schülerinnen und Schüler wie auch Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr aus dem Mathematikunterricht wegzudenken ist. So nutzt laut einer Umfrage des Rates für Kulturelle Bildung mehr als die Hälfte der befragten Jugendlichen YouTube-Videos, um für den Unterricht zu lernen. In einer Studie des deutschen Branchenverbandes Bitkom bestätigten 88 Prozent der befragten Lehrerinnen und Lehrer, dass ihre Schülerinnen und Schüler durch digitale Medien leichter zu motivieren sind. Auch die Mehrheit der Lehrbeauftragten selbst möchte intensiver mit digitalen Lernformen arbeiten, so die Bitkom-Studie. Die Nachfrage nach digitalen Lernformen ist groß – sowohl bei Lehrerinnen und Lehrern als auch bei Schülerinnen und Schülern.
Mathematik erlebbar machen
Warum das so ist, kann Markus Hohenwarter ziemlich schnell beantworten. „Das Problem der Mathematik ist, dass sie so abstrakt ist. Die Schülerinnen und Schüler können zwar irgendeine Gleichung lösen, eine konkrete Vorstellung davon haben sie aber nicht.“ Da setzt GeoGebra an: Die Schülerinnen und Schüler können durch Schieberegler ausprobieren, wie sich ein Funktionsgraph verändert, wenn sie nur einen Parameter variieren. Wie bei einem chemischen Versuch sehen sie sofort eine Reaktion. Dank GeoGebra wird Mathematik zu einem Experiment.
Der Linzer Mathematiklehrer Hubert Pöchtrager nutzt GeoGebra seit vielen Jahren. Er berichtet, dass sich die Qualität des Unterrichts durch den Einsatz der Lernsoftware verbessert habe. Früher hat man den Lehrsatz des Pythagoras einfach auswendig gelernt, es zählte die Formel am Ende. „Heute ist den Schülerinnen und Schülern klar, dass wir über die einzelnen Dreiecksseiten die Quadratflächen berechnen“, sagt Pöchtrager. „Im Gegensatz zu früher können sie eine Herleitung wirklich nachvollziehen, weil sie diese selbst entdeckt haben.“ Seinen Kollegen Andreas Lindner überzeugt die intuitive Bedienung von GeoGebra: „Die Kinder müssen sich die Technologie nicht aneignen, sie können ganz unmittelbar einsteigen.“
Neu ist auch die Augmented-Reality- Funktion in der 3-D-App von Geo- Gebra. Ähnlich wie bei dem Smartphone- Spiel „Pokémon GO“ lassen sich mathematische Graphen oder geometrische Formen visuell darstellen. „Die Kinder legen das Koordinatensystem einfach vor sich auf den Tisch und können ihre Konstruktion über das Handydisplay von allen Seiten betrachten, verändern oder sogar um sie herumlaufen“, sagt Entwickler Markus Hohenwarter.
Bei all den positiven Aspekten weiß der GeoGebra-Entwickler um die Vorbehalte gegenüber digitalen Unterrichtsformen. „Eine Angst ist, dass sich mit Smartphones oder Laptops im Unterricht leichter schummeln lässt“, so Hohenwarter. Doch für diesen Fall haben die Linzer mit dem amerikanischen Tech-Uternehmen Apple einen Prüfungsmodus entwickelt, der jegliche Kommunikation nach außen verhindert. Die Schülerinnen und Schüler können weder auf andere Apps zugreifen noch im Internet surfen.
Zentrale Rolle des Smartphones
Einer finnischen Studie zufolge kann Technologie im Unterricht leistungsschwache Schülerinnen und Schüler jedoch auch überfordern. Markus Hohenwarter kennt dieses Problem. Für ihn ist es deshalb umso wichtiger, dass sich die Schülerinnen und Schüler im Unterricht gegenseitig unterstützen. „Wir kommen schließlich in die Schule, um gemeinsam zu lernen, Lösungswege zu diskutieren und Ideen auszutauschen.“ Deswegen arbeiten er und sein Team daran, diesen Aspekt des sozialen Lernens durch GeoGebra zu unterstützen und die Schülerinnen und Schüler über die Lern-App zu vernetzen.
Eine besondere Rolle kommt dabei den Smartphones zu. Sie machen den Zugang zu GeoGebra leichter. Denn nicht jede Schülerin oder jeder Schüler besitzt einen Laptop, ein Smartphone haben dagegen die allermeisten Jugendlichen. Außerdem bietet das mobile Endgerät viel bessere Möglichkeiten, den Unterricht zu gestalten: Acht Apps haben Hohenwarter und sein Team schon entwickelt, die untereinander vernetzt sind. Markus Hohenwarter dazu: „Das Smartphone kann man besser in den Unterricht integrieren. Die Schülerinnen und Schüler sitzen nicht mehr isoliert vor dem Computer, sondern nutzen ihr Handy wie einen Taschenrechner. Man nimmt ihn zur Hand, wenn es sinnvoll ist. Man kann ihn aber auch schnell wieder beiseitelegen.“
Eine Mathe-Community entsteht
Dass auch über Mathematik eine Gemeinschaft entstehen kann, hat Markus Hohenwarter am eigenen Leib erfahren. „Das ist eigentlich einer der schönsten Aspekte an GeoGebra. Mit der Zeit ist über das Nutzerinnen- und Nutzerforum eine richtige Community gewachsen“, sagt Hohenwarter. Es gibt etwa 300 Freiwillige, die sich engagieren. Das ist typisch für die Open-Source- Bewegung: Die Nutzerinnen und Nutzer programmieren neue Funktionen, erstellen Unterrichtsmaterialien für die Website oder übersetzen die Anwendungen, um die kostenfreie Software für noch mehr Menschen zugänglich zu machen. Und die meisten wollen nicht einmal Geld dafür. „Ein amerikanischer Lehrer hatte beispielsweise einen großen Teil unseres Statistikprogramms programmiert, da wollte ich ihm eine Aufwandsentschädigung anbieten“, sagt Hohenwarter. „Doch er lehnte ab. Er wollte nur, dass sein Foto auf unserer Website erscheint.“
Dieses Engagement erklärt Hohenwarter mit der Begeisterung für das Fach. „Wir alle haben einfach Spaß an Mathe. Unser Traum wäre es, dass mehr Kinder Mathe als eine Art Hobby begreifen und vielleicht dem Mathe- Club ihrer Schule beitreten“, sagt Markus Hohenwarter. Wie gut seine Entwicklung bei Schülerinnen und Schülern ankommt, konnte er erst kürzlich beim Linz AG Viertelmarathon feststellen. „Ich habe gemeinsam mit einem Kollegen teilgenommen, und wir trugen unsere GeoGebra-Shirts. Da kam ein junger Mann auf uns zu und bedankte sich. Dank GeoGebra hatte er die Matura geschafft.“