NORBERT TRAWÖGER findet, dass wir uns jenseits des Gewohnten mehr für uns anstrengen sollten.
T oni Sailer, der mit seinen drei olympischen Goldmedaillen und sieben Weltmeistertiteln zu den erfolgreichsten Skirennläufern Österreichs zählt, wurde in einem Interview gefragt, was der Grund für seine Schnelligkeit sei. Er antwortete in breitem Tiroler Dialekt: „Da muast en Schi afoch laffn låssn!“ Nicht einmal über seine Antwort musste er nachdenken. Sie lief heraus. Sailer benannte das Laufenlassen, das Zulassen, das Hingeben als sein Erfolgsrezept. Er erwähnte nicht, dass zum Erreichen eines Weltklasseniveaus Talent und, laut Studien, ein kritisches Minimum an Zeit von mindestens 10.000 Trainingsstunden und natürlich entsprechende Trainingsmöglichkeiten notwendig sind. Was erforderlich macht, im frühesten Kindesalter anzufangen, um so viel wie möglich üben und trainieren zu können. Dies gilt für Sportler, Musikerinnen, Maler, Artistinnen, Tanzende oder Akrobaten gleichermaßen. Der Schwerkraft entkommt man so wenig wie dem Talent, das erst recht geübt werden will. Es gibt viel zu tun, bis es läuft, um es laufen lassen zu können. Ausdauer, Frustration, Druck, Verletzungen physischer oder psychischer Art sind dabei Schlagworte im wahrsten Wortsinn. Es geschehen zu lassen bedingt nicht nur Loslassen. Es braucht Möglichkeiten und Menschen, die mehr im Sinn haben.
Dabei kommt mir Balduin Sulzer in den Sinn, der große oberösterreichische Musikermensch wäre am 15. März 90 Jahre alt geworden. Seine Einmaligkeit und Originalität lebte der weltoffene Zisterzienserpater mit und in seinem ganzen Dasein aus. Er war ein Mensch, der tief mit dem Boden seiner Heimat verwurzelt war und seinen Blick in die weite Welt zu richten wusste. Durch das Wahrnehmen der Welt entwickelte er ständig sein Bewusstsein für das Mögliche weiter. Sein Qualitätsbegriff definierte sich dadurch, dass er nach dem Bestmöglichen trachtete und dabei in seiner Beurteilung auf „Weltklasse umschalten“ – um Schüler*innen zu zitieren – konnte. Weltklasse heißt, dass Sulzer einen Sinn für das Mögliche hatte, der sich nicht am Landesüblichen orientieren muss, sondern an dem, was wirklich möglich ist: Ob beim Erwecken und Fördern der Potenziale seiner Schüler*innen, bei der Arbeit mit seinem Mozartchor (Sulzer war Grammy nominierter Chorleiter!) oder als Rezensent, der den Nagel auf den Kopf traf und Musizierenden damit neue Ein- und Ausblicke verschaffte. Dabei war er nie als Spezialist zu spüren, auch wenn er es in höchstem Maße war, sondern als dringlicher Universalist. Zu seinem Neunziger wurde ich, der ihm nicht nur als sein Biograf sehr verbunden war, gefragt, wie er mich geprägt habe. Meine Antwort war: „Das Ortsübliche nicht zu akzeptieren, denn es ist selten das Mögliche.“
Es vergeht kein Tag, an dem nicht nach dem Kreativen, dem Neuen, dem Innovativen gerufen wird. Kaum eine Stellenausschreibung verzichtet auf die Forderung dieser Eigenschaft, die uns allen grundgelegt ist. Gesucht werden der altbekannte Kreativdirektor, die kreative Assistenz der Geschäftsführung, die kreative Allrounderin, der kreative Beikoch, eine Kreativanimateurin im Sozialbereich oder der kreative Organisationsjunkie. Diese kreativen Stellenbeschreibungen entspringen nicht meinem Erfindungsgeist, möchte ich nachdrücklich anmerken! Großkonzerne installieren Chefinnovationsprediger*innen („Chief Innovation Evangelist“), die die Belegschaft zur Leichtigkeit des Kreativen bekehren sollen. Es wird beständig nach kreativer Innovation verlangt, als ob Erneuerung ohne schöpferische Kraft überhaupt denkbar wäre. Wir sind in vielen Bereichen an Grenzen des bisher Möglichen gekommen, daher sind die Innovationsbescherenden, kreativen Out-of-the-box- Denkenden gerufen, Kreativitäter*innen zu werden, um unerhörte, weltrettende „Kreativitaten“ zu begehen. Kreativität verlangt viel Übung, Training, Disziplin. Wir sind gewohnt, schnell in den Kategorien des Machbaren zu denken. Das Machbare lässt das Unmögliche oder andere Möglichkeiten unmöglich bleiben. Deshalb braucht es Strategien, Selbstüberlistungsmechanismen, Räume und Menschen, die einem helfen, einen anstiften und leiten, aus der eigenen Suppe zu finden und den Tellerrand zu überwinden. Wir sind oft in unseren eigenen Mustern und erprobten Vorgangsweisen gefangen. In der Schule wurden wir gelehrt, was richtig oder falsch ist, und dann soll man später im Berufsleben auf einmal Eigenes entscheiden und erfinden. Ich meine dies ganz und gar nicht als Aufforderung zur endlosen Leistungssteigerung, wie sie der Kapitalismus ständig von uns zu fordern scheint. Menschen ohne Fantasie haben keine Hoffnung. Fantasie ist nicht nur Kindern, Realitätsfremden, Kunstschaffenden oder Kriminellen vorbehalten. Sie ist der Ausgangspunkt fürs Schöpferische und Gestaltende. Wer sich auf den Kopf stellt, fällt mitunter erst dann auf die Füße. Um sich für das Eigene verausgaben zu können, muss man aber erst wissen, für was man brennt. Das Eigene kann das Andere, das Neue, das Gesuchte sein und widerspricht unserer „Wir sind wir“- Mentalität.
Ist es eine Frage der Kultur, ob dem Möglichkeits- oder dem Unmöglichkeitsraum fürs Mögliche und Unmögliche die dominierende Rolle zugestanden wird? Was brauchen wir? Mut und Anstrengung. Mut, nicht in dem Sinn, vielleicht ein bisschen mehr von dem zu tun, was wir ohnehin getan hätten. Das ist „Gratismut“ – hat mir eine Schriftstellerin einen präzisen Begriff dafür geschenkt. Wir brauchen mehr von der Sorte Wagemut, auch um Räume zu etablieren, in denen man sich nicht mit am Üblichen orientiert und sich damit zufriedengibt. Haben wir in diesen unseren Tagen noch andere Möglichkeiten, als uns zu fragen, was wir besser im Sinne von (besser) anders machen können? Dafür müssen wir uns anstrengen, für uns. Sich zu verausgaben, birgt die Gefahr in sich, Dinge zu entdecken, die jenseits des Horizonts von „Wir sind wir“ liegen. Dieser Gefahr sollten wir uns öfter ausliefern lernen, um uns an das Ungewohnte zu gewöhnen. Das Ortsübliche beschert uns Lösungen, die vielleicht geprobt und gesichert sind, aber nicht mehr.
Ich möchte mit diesem Mäandern im Möglichkeitsraum anstiften, darüber nachzudenken, wo wir uns für uns verausgaben können. (Das kann gelegentlich auch im Nichtstun sein.) Vor einigen Jahren habe ich den wunderbaren Linzer Künstler und Kurator Gerhard Brandl gebeten, den Kepler Salon regelmäßig mit wechselnden zeitgenössischen künstlerischen Positionen zu versehen. Versehen ist wieder so ein schönes deutsches Wort. Ehe man sich versieht, hat man etwas erblickt. Es war meine Absicht, den Salon nicht als weiteren Ausstellungsort zur Präsentation von Kunst zu begreifen, sondern künstlerische Spuren gesetzt zu wissen, über die man überraschend im Alltag eines Salonbesuchs stolpert. Brandl hat zuletzt die großartige Keramikkünstlerin Charlotte Wiesmann gebeten, mit ihren Objekten Spuren in den Salon zu setzen. „Es muss doch mehr als alles geben“, hat uns Wiesmann einen Satz der Theologin Dorothee Sölle in den Salon geschrieben. Was für ein Satz, der uns daran erinnert, unseren Sehnsüchten, Leidenschaften zu folgen. Aufdrehen ist angesagt, nicht Abdrehen, um das Titelbild von Dieter Decker auf dieser Seite aufzunehmen. In welche Richtung wir drehen, liegt an uns.