Zur JKU Startseite
Kepler Tribune
Was ist das?

Institute, Schools und andere Einrichtungen oder Angebote haben einen Webauftritt mit eigenen Inhalten und Menüs.

Um die Navigation zu erleichtern, ist hier erkennbar, wo man sich gerade befindet.

Das vermessene Selbst

Mit Wearables wie zum Beispiel Fitnessarmbändern, Smartwatches oder auch Smartphones durchdringen Computersysteme zusehends unser Alltagsleben. Das bringt einige Herausforderungen mit sich. Es eröffnet aber auch der Wissenschaft und Forschung völlig neue Möglichkeiten. Auch an der JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ.

Von MARTIN KUGLER

Ein Mensch läuft in seiner illustrierten Datenwolke
Illustration: Istock

 Für die Menschen war es immer schon attraktiv, ein Ding ständig mit sich herumtragen zu können, auf dessen Funktion man nicht verzichten will. So setzte sich etwa die Erfindung eines gewissen Herrn Henlein um das Jahr 1500 herum schnell und flächendeckend durch – zumindest bei denen, die es sich leisten konnten: Bis dahin konnte man die genaue Uhrzeit nur auf Kirchen, allenfalls auch auf Rathäusern ablesen. Diese mechanischen Uhren waren ziemliche Ungetümer mit großen Zahnrädern und an Seilen hängenden Gewichten. Peter Henlein miniaturisierte diesen Mechanismus und packte ihn in eine kleine Dose. Daraus entwickelten sich Taschenuhren und schließlich Armbanduhren. Ein anderes, neueres Beispiel ist der Walkman, der erstmals 1979 die Möglichkeit bot, die Lieblingsmusik überall und jederzeit zu hören – anfangs mit Musikkassetten als Medium, später mit CDs, heute in Form von MP3-Files.

In den vergangenen Jahren ist das Mitnehmen von allerlei Gerätschaften, um sie allzeit verfügbar zu haben, geradezu explodiert, und diese Gadgets haben auch einen eigenen Namen bekommen: „Wearables“ – als Kurzform für „Wearable Technology“ oder „Wearable Computing“. Die Geräte verdanken ihre Existenz allesamt den modernen digitalen Technologien, die immer leistungsfähiger und gleichzeitig immer kleiner werden. Neu ist überdies, dass die meisten Wearables in Netzwerke eingebunden sind – dass also Daten des Nutzers erfasst und an Rechenzentralen geschickt werden, wo diese verarbeitet werden; die Ergebnisse kommen zurück zum User. Dadurch sollen Informationen kreiert werden, die zum einen das Leben der Nutzer verbessern – sie sollen es beispielsweise ermöglichen, das Leben gesünder, effizienter oder attraktiver zu machen. Zum anderen können die Daten aber auch dazu beitragen, die Menschheit insgesamt voranzubringen, etwa bei der Lösung von Verkehrs- oder Umweltproblemen.

Derzeit extrem beliebt sind Wearables im Sportbereich: Fitnessarmbänder können mit geeigneten Sensoren allerlei Informationen über Aktivitäten und damit verbundene physiologische Daten registrieren – von Blutdruck und Herzfrequenz über Geschwindigkeit und Wegstrecke bis hin zur Zusammensetzung von Schweiß. Die Auswertung dieser Informationen ermöglicht den Nutzern zum Beispiel einen guten Überblick über Trainingsfortschritte. Im Kommen sind auch Smartwatches, die in vielen Fällen mit Handys gekoppelt werden und deren Bedienung vereinfachen. Es gibt aber auch immer mehr Kleidungsstücke, in die digitale Technologien integriert werden – das reicht von Pullovern, die beheizbar sind, über Jacken, die in der Dunkelheit oder bei Berührung (oder wenn ein Anruf das Handy erreicht) zu leuchten beginnen, bis zum Einbau von Steuerelementen zum Beispiel für Handys und von medizinischen Sensoren, um kritische Vitaldaten zu überwachen. Vorgestellt wurden auch schon Kleidungsstücke, die auf Knopfdruck ihre Farbe ändern.

Am Markt sind bereits Babysocken, die über das Befinden des Nachwuchses Auskunft geben, Haar- und Zahnbürsten, die Anweisungen über den richtigen Gebrauch geben, Tierhalsbänder, die Daten über das Wohlergehen der geliebten Vierbeiner liefern, oder „Smart Jewellery“, also Schmuckstücke wie Broschen, Ohr- oder Fingerringe, die zum Beispiel physiologische Daten der Träger erfassen. Smarte Fahrradhelme schalten per Gestenerkennung Blinker aus und ein. Gesichtsmasken erkennen gedachte Wörter, ohne dass diese laut ausgesprochen werden müssen. Auf Messen gezeigt wurden sogar schon Schuhe, deren Sohlen auf Befehl eines Navigationssystems zu vibrieren beginnen, wenn man vom geplanten Weg abzukommen droht.

Die ultimativen Tausendsassas unter den Wearables sind freilich unsere Smartphones. Ich habe kürzlich einmal nachgezählt, wie viele Funktionen mir mein Hosentaschencomputer ermöglicht, für die ich früher eigene Geräte oder Gegenstände mit mir führen musste. Ich kam auf 16 verschiedene Funktionalitäten: Neben dem Telefonieren sind das auch Internet, Fotoapparat, Diktiergerät, Wecker, Stadtplan, Taschenrechner, MP3-Player, Wörterbücher, Lyriksammlung, Taschenlampe, Zugfahrplan, Schrittzähler, Metronom, Stimmgerät und zurzeit das Spiel Quarto. Und das ist bei Weitem nicht alles, was das Ding könnte – ich nutze es zum Beispiel nicht als Kalender, als Schrittzähler, zum Einkaufen und Bezahlen, als Navigationsgerät oder als Fernseher.

Was die Zukunft bringen wird, ist derzeit nicht abschätzbar. Was durch geschickte Kombination alles möglich ist, hat indes eine Arbeitsgruppe um Alois Ferscha, Leiter des Instituts für Pervasive Computing an der Johannes Kepler Universität Linz, in den vergangenen Jahren demonstriert: Konzipiert wurde unter anderem eine Brille, die mit Displays, Spracherkennung, Umwelt- und Bewegungssensoren, Sensoren zur Erfassung von Körperreaktionen oder Positionserkennung ausgestattet ist und über Funktechnologien mit leistungsfähigen Computern verbunden ist. Getestet wurden etwa Anwendungen als Sportbrille, die zum einen den Herzschlag des Trägers misst und diesem zum anderen eine Laufroute einblendet und auf intelligente Weise Anweisungen gibt, wo man abbiegen muss; getestet wurde weiters eine Diätbrille, die automatisch Nährwerteigenschaften von Lebensmitteln erkennt und Empfehlungen gibt; für den Fremdenverkehr wurde ein System entwickelt, das registriert, wohin ein Tourist blickt, und auf Wunsch Informationen über Sehenswürdigkeiten einblendet; und für Chirurgen wurde eine Datenbrille konzipiert, die unter anderem wichtige Vitaldaten des Patienten am OP-Tisch einblendet, ohne dass der Arzt dadurch abgelenkt wird.

Denkbar ist vieles: Wearables könnten künftig auch eine Gestenerkennung zur Steuerung von Computersystemen (anstatt Maus und Keyboard) ermöglichen. Neuartige Sensoren könnten überdies den Stresslevel von Menschen erkennen oder automatisch den Blutalkoholgehalt messen, bevor man sich ans Steuer eines (autonomen) Autos setzen darf.  

Der Siegeszug der Wearables hat wichtige Konsequenzen: Es werden die Visionen des „Ubiquitous Computing“ (Allgegenwärtigkeit von Rechnern) und des „Pervasive Computing“ (Vernetzung des Alltags) Wirklichkeit, wodurch digitale Technologien unser Alltagsleben in immer mehr Bereichen völlig durchdringen: Es entsteht ein gigantisches „Internet of Things“, das eng mit Daten über das Verhalten von Menschen verknüpft ist. Big-Data-Analysen aus diesen Quellen können in vielen Bereichen großen Nutzen stiften, sie bringen aber auch eine Reihe von Risiken mit sich. Etwa, dass unbefugte Personen Zugriff auf sensible Daten bekommen oder dass Unternehmen oder Behörden detaillierte Bewegungs-, Verhaltens- oder Kaufprofile erstellen können.

Neben solchen Sicherheits- und Privatsphäre-Bedenken treibt Datenschützer überdies die Sorge um, dass Daten auch von vielen Menschen gesammelt werden, die dies nicht wollen – etwa durch Kameras, die den öffentlichen Bereich erfassen. Um noch einmal das Beispiel von intelligenten Brillen zu bemühen: Der US-Internetgigant Google hat vor einigen Jahren Pläne für „Google Glass“ (mit integrierter Kamera) vorerst auf Eis gelegt, weil die öffentlichen Proteste (und der Preis) einfach zu groß waren. Obwohl bei Fitnessarmbändern und Smart-watches die Bedenken hinsichtlich Datensicherheit und Privatheit nicht viel kleiner sind, spielt dies in diesen Bereichen interessanterweise kaum eine Rolle – diese Gadgets boomen wie eh und je.

Weniger Sicherheitsbedenken, dafür potenziell noch größeren Nutzen gibt es beim Einsatz von Wearables in der Industrie. Hier werden derzeit riesige Anstrengungen unternommen – auch in Österreich. Erst im Vorjahr wurde das COMET- Kompetenzzentrum „Pro2Future“ gegründet, in dem unter der Leitung von JKU-Professor Alois Ferscha mehr als 30 Partner aus Wissenschaft und Industrie neue Produktionssysteme entwickeln, die mit menschenähnlichen kognitiven Fähigkeiten wie Wahrnehmen, Verstehen, Lernen oder Schlussfolgern ausgestattet sind und ein kognitionsgesteuertes autonomes Handeln ermöglichen.

Eines der Ziele ist es dabei, die Interaktion und die kollaborative Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine deutlich zu verbessern – und ein Mittel dafür sind Wearables –, wie etwa durch mit Bildschirmen und Sensoren ausgestattete Helme, die den Arbeitskräften eine Kommunikation mit den Steuerungscomputern ermöglichen. Eine wichtige Technologie dabei ist das Eyetracking (Analyse der Blickrichtung der Augen), das nicht nur über die Aktivitäten des Menschen Auskunft gibt, sondern auch über emotionale Zustände oder kognitive Belastungen.

Die Datenflut aus intelligenten Armbändern, Smartphones, Schmuck- oder Kleidungsstücken ist indes auch für ganz andere Wissenschaftszweige interessant. Etwa für die Psychologie: Der Linzer Forscher Bernad Batinic (JKU-Institut für Pädagogik und Psychologie) sieht in den Daten von Wearables eine reiche Quelle für Informationen, die weit über die Qualität von traditionell erhobenen Daten hinausgehen. Antworten in Interviews oder Fragebögen sind allein schon wegen des Phänomens von sozial erwünschten Angaben immer subjektiv gefärbt bzw. verfälscht und überdies schwer überprüfbar. Wenn man hingegen Daten über das „wirkliche“ Verhalten von Menschen erheben kann – und das ist mit Wearables wie Fitnessarmbändern oder Smartphones heute möglich –, können viel genauere Einblicke in psychische Phänomene genommen werden. Wenn zum Beispiel jemand unter stressbedingter Schlaflosigkeit leidet, können die Fragebogenangaben dadurch ergänzt werden, dass man die Betroffenen quasi auf Sensormatten bettet. Datenschutzprobleme befürchtet Batinic dabei keine, weil die Daten ausschließlich in einem bestimmten Zeitraum in klar definierten Projekten erhoben werden.