Am Anfang steht Ansfelden, nicht Städte wie Bonn, Hamburg oder Wien. Die Welthauptstadt der Musik war Anziehungsort und oft Endpunkt für Klangschaffende. Der junge Ludwig van Beethoven kam aus Bonn, um bei Wolfgang Amadé Mozart in Wien in die Lehre zu gehen. Der hatte gerade keine Zeit für ihn. Als Beethoven wiederkehrte und blieb, war Mozart schon tot. So nahm er bei Joseph Haydn Unterricht. 1872 übersiedelte der in der Hansestadt Hamburg geborene Johannes Brahms für sein letztes Lebensvierteljahrhundert nach Wien, wo er 1897 knapp ein halbes Jahr nach Anton Bruckner starb. Gestorben sind sie alle in Wien, die großen Männer der vergangenen Musikgeschichte. Das hat sich geändert, wie Komponistinnen viel zu langsam, aber sicher mehr Rolle spielen, wenn auch die Musik in der Gesellschaft eine ganz andere.
Aber zurück zum Anfang und Ansfelden. Am 4..September.1824 wird dort Anton Bruckner als erstes von elf Kindern – von denen fünf überleben. – geboren. Als Sohn von Theresia (1801–1860) und Anton Bruckner (1791–1837), der als Schullehrer und Kirchenmusiker in Ansfelden tätig war. Anton Bruckner kommt vom Land, das er und das ihn nie verließ, selbst als er seine letzten Lebensjahrzehnte in der Donaumetropole Wien verbracht hat. Wenige Komponisten von Weltrang kommen aus ländlichem Umfeld. Hier ereignete sich Bruckner zwischen Kyrie rufen und Landlerschritten, Tanzboden und Kirchtürmen, Hügeln und Wäldern. Wer hört, der kann es hören. Eigen war er ganz gewiss. Bruckner gehört zu uns, gehört uns aber nicht. Seine Musik gehört der ganzen Welt, wird in der ganzen Welt gespielt und gehört. Bruckner ist mehr als Oberösterreich, von wo er aufbrach. Er ist Welt, aber er kommt von diesem Land, diesem Ort: „Locus iste“ – was nichts anderes heißt als „Dieser Ort“ – sind die Anfangsworte der lateinischen Motette für vierstimmigen gemischten Chor, die zu Bruckners Welthits zählt.
Die Sorge von Bruckners Vater für die Kirchenmusik des Orts galt früh dem musikalischen Sohn. Vielleicht, weil es sich so gehört hat. Sein Feuer wurde angezündet, die Blasbälge der Ansfeldner Orgel sorgten für reichliche Sauerstoffzufuhr. Die Orgel ist der Ort, an dem Bruckner sein Handwerk anzulegen beginnt. Über dem Hügel lag Sankt Florian, es liegt dort immer noch, wie der Entfachte selbst unter seiner Orgel. Das Stift war für den blutjungen Bruckner, wo er nach dem frühen Tod seines Vaters Sängerknabe wird, eine frühe Ahnung von einer ganz anderen Dimension. (Eine Vorahnung hat er wohl schon in Ansfelden erfahren. Der stattliche Pfarrhof wurde –.wie das Stift – vom Barockbaumeister Carlo Antonio Carlone erbaut, in dem die Pröbste von St. Florian ihre Sommerfrische verbrachten.) Die Tradition, der Kirchenraum expandiert sein Vorstellungsvermögen. Bis heute staunt man über die Ausmaße des Stifts. Eine Großmächtigkeit, die durchaus Einschüchterndes an sich hat und im besten Fall Demut auszulösen vermag. In den Weiten und Engen des sakralen Gehäuses wächst Bruckner heran. Und nicht nur das, dieser steht auf dem Land, auf der grünen Wiese, nahe der größeren Stadt Linz, die damals noch kleiner und viel ferner war als heute.
Bruckner geht nach Linz, wird Domorganist. Im Linzer Theater hört er Wagners „Tannhäuser“. Dieses Ereignis wird ihm zum Erweckungserlebnis, „gibt“ ihm die Erlaubnis zum Eigenen. Der Ausbruch ist im Gange. Er sorgt selbst unablässig dafür. Hätte er nicht ein ewiger und unvergessener Kirchenmusiker bleiben können? Ein weltberühmter Orgelimprovisator, der in Nancy, Paris und London im Klangrausch Tausende Menschen erobert. Mit über vierzig Jahren bricht er endgültig aus, um lebenslang wieder und wieder auszubrechen, auch aus dem Kirchenraum. Er findet sich und seine Sprache im weltlichen Formgelände der Sinfonie. Sinfonieskulpturen von exzessiven formalen und tonalen Dimensionen, die wie fremdartige, unverständliche Meteoriten einschlagen. Sie sind angebunden an die Tradition und blicken weit über die Horizonte zum Avantgardistischen hin. Sie erzählen keine Ich-Geschichten, sondern schlagen einen transpersonalen Raum auf. Erst mit der „Siebten“ kann er im Alter von sechzig Jahren einen ersten großen Erfolg in Leipzig und München feiern. Alles hat seine Grenzen. Nur nicht Bruckner. „Er ist jenseits“, drückt es sein Wiener Gegenspieler Johannes Brahms aus. „Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fundament verweilen“, ist ein Ausspruch, der Bruckner in die Schuhe geschoben wird. Wenngleich dessen Urheberschaft eine Unterstellung zu sein scheint, gilt dieser schöne Satz für Bruckners Schaffen in besonderem Maße. Obendrein wird dieser Satz ebenso Aristoteles angedichtet. Für diesen Fall ist er schon gut 2.100 J a h r e vor Bruckners Geburt gefallen.
Der Zweifel feiert in unseren Tagen nicht unbedingt Hochfeste. Oft und lautstark etwas zu verkünden, reicht oft als Wahrheit aus. Etwas zu hinterfragen, heißt nicht gleich, misstrauisch durch die Welt zu gehen. So sind viele Klischees und Wahrheiten rund um Bruckner in Zweifel zu ziehen. Er war gewiss ein frommer Mann, aber kein Musikant Gottes. Er ist in seiner Ambivalenz und scheinbaren Widersprüchlichkeit schwer zu fassen.
Wer sich mit dem Menschen Bruckner befasst, muss sich auseinandersetzen, stößt auf Krisen, Zweifel und Beharrlichkeit. Dies gilt auch für die Aufführungsgeschichte seines Werks, in die sich zu oft epische Breiten, Pathos und viel Weihrauch imprägniert haben, ohne am Papier, in der Partitur wirklich manifest zu sein. Der Partitur auf der Spur zu sein, heißt in dem Sinn nichts anderes, als Fragen zu stellen. Die Antworten darauf werden nicht weniger vielfältig ausfallen, denn letztlich entscheidet die Interpretin, der Interpret, was zumindest für den Moment des Erklingens wahr ist. Bruckner beherrschte sein kompositorisches Handwerk wie wenige im 19. Jahrhundert und begriff sich im Fluss der Musikgeschichte. Seine singuläre Musik zeugt vom Blick eines Avantgarde- Schaffenden, der die Zukunft voraushört. Eine andere künstlerische Perspektive einnimmt als die meisten seiner Zeitgenossen. Was Unverständnis heraufbeschwören musste.
Faszinierend an seiner Musik ist, dass sie einem nicht entgegenkommt. Es ist Musik, die offen ist, in die und der man sich bewegen, „reingehen“ kann, durch alle Poren der Klänge eindringen kann. Es ist keine Anbiederungsmusik. Was für eine Chance unserer Tage, den Flugmodus unserer Mobiltelefone in einen Hörmodus zu transformieren und in den „Space“ der Klangwelt von Anton Bruckner ein-, vielleicht auch abzutauchen. Es ist eine Erfahrung, die mehr als nur drei Minuten Dauer garantiert, man kann sich darin gesichert für mindestens eine Stunde einfinden. Die Sinfonien dauern bis zu 90 Minuten, was für eine geschenkte Zeit! „Wo ihr unübersteigliche Schranken gesetzt sind, da beginnt das Reich der Kunst, welches das auszudrücken vermag, was allem Wissen verschlossen bleibt.
Ich beuge mich vor dem ehemaligen Unterlehrer von Windhaag“, sagt Adolf Exner, der Rektor der Wiener Universität, anlässlich der Verleihung des Ehrendoktorats an Anton Bruckner im Jahre 1891. Ich denke an „Das Lied von der Wirklichkeit“ von Georg Kreisler, in dem es heißt: „In der Wirklichkeit gibt’s nie Beweise, denn die Wirklichkeit, die ist wahr. Kommt mit mir auf eine wahre Reise voller Traum und ohne Kommentar. In der Wirklichkeit sind die Träume, die kein Physiker je beschreibt. Kommt mit mir in meine Zwischenräume, wo kein Mensch die Wahrheit übertreibt.“ Kreisler würde heuer seinen 100. Geburtstag feiern. 2024 begeht Bruckner seinen 200. Geburtstag. Zweifellos eine gute Gelegenheit, uns mit ihm und uns auseinanderzusetzen, uns in die Zwischenräume zu begeben, dort, wo Nähe und Wirklichkeit stattfinden können. Nähe. Schon die Kürze des Worts lässt kaum Raum zur Distanz. Zeiten der Unsicherheit räumen uns das Recht zum Zweifel mindestens so ein wie die Besinnung darauf. Die Kunst legt uns das Menschliche, das Mögliche nahe. Sie erinnert uns daran, sie kann uns näherbringen. Bruckner macht es uns möglich. „Fantasie ist nichts für die Experten, die das Leben fürchten und den Tod“, so Georg Kreisler und mehr als ein Grund zum Feiern!