Noch nie galt dem Menschen seine Autonomie so viel wie zu unserer Zeit. Wer kann, hält sich mit Verbindlichkeit zurück. Eine Verabredung zum Familientreffen zum Wochenende? Hängt davon ab, wie das Wetter wird. Könnte sein, dass ein Mountainbike- Trail dann attraktiver ist als Kaffee und Kuchen mit den Blutsverwandten. Eine Abendveranstaltung im beruflichen Kontext? Anmeldung ja, aber wenn mir kurzfristig was anderes wichtig ist, muss ich mich doch nicht hinquälen. Pech für den Veranstalter. Die Selbstbestimmung wird zum kleinen Hausaltar. Auf dem man sich in der Regel selbst beweihräuchert. Das verschiebt gesellschaftlich einige bisher gültige Grenzen.
Banales Beispiel: Durch die Pandemie mit ihren Hausarresten verstärkte sich der Wunsch, ins Grüne zu wechseln. An sich kein Problem, wären da nicht einige besondere Verhaltensweisen. Ein Jäger entdeckte auf der Suche nach seinem Rehwild biwakierende Zeitgenossen im Wald. Die Tiere hatten angesichts der Eindringlinge das Weite gesucht. Diese suchen das Besondere, selbstverständlich für sich selbst. Ersucht die Waldaufsicht Wanderer, Radfahrer oder Waldbader, auf den ausgewiesenen Wegen und Flächen zu bleiben, sind sie vor tätlichen Übergriffen nicht mehr sicher. Was man als Allgemeingut sieht, definiert das Individuum. Solange es sich um den Besitz der anderen handelt, versteht sich. Der invasive Zugang in die Sphären anderer erspart sich die Mühe des Aushandelns, Abgleichens, Vereinbarens. „Das steht mir zu“, wiegt schwerer. Die Frage, woher sich diese Gewissheit ableitet, kennt nur den kurzen Weg zu sich zurück. „Weil es meine Freiheit ist.“ Mag sein, dass wir im Pendelschlag der menschlichen Entwicklungsgeschichte gerade an jenem Pol sind, der den über Jahrhunderte gepflegten Unterordnungen des Einzelnen unter das Gemeinsame gegenüberliegt. Wir haben gelernt, „ich“ zu sagen, und das machen wir geradezu blindwütig.
Schon vor Jahren ortete die Sozial wissenschaftlerin Marianne Gronemeyer eine „angestrengte Diesseitigkeit“. Die Menschen, so ihre These, hätten nach Aufgabe des Trans zendenten, nach dem Ende der Hoffnung auf ein – möglicherweise sogar besseres – Weiterleben nach dem Tod, das Leben als letzte Gelegenheit begriffen. Was immer möglich sei, müsse man herausholen, denn nichts kommt wieder. So sei der Drang, manchmal sogar der Zwang entstanden, in die lächerlich kurzen Lebensjahre alles zu packen, was es zu erleben gäbe. Gepaart mit dem Wunsch, sich von anderen zu unterscheiden, zieht es Legionen von Individualisten zur Weltreise mit Kindern oder auch bloß ins nächste Tattoo-Studio. Wer etwas Besonderes erlebt oder auch nur hofft, es zu sein, braucht eine Bühne und braucht Publikum. Ohne das Echo, ohne Beifall, ohne Bewunderung ist die Mühe der Unterscheidung mehr Plage als Lustgewinn. Welch ein Glück, dass in den vergangenen Jahren Social Media diese Bedürfnisse schnell, einfach und quasi gratis befriedigt. A selfie a day keeps depression away. So weit, so bekannt. Doch an diesem Punkt scheint sich die Geschichte nun zu drehen. Aus der vermeintlichen Selbstbestimmung wird de facto eine Fremdbestimmung. Der Algorithmus ist stärker als jedes Ich, er zwingt es in die Knie der Anbetung. Mit Likes und Kommentaren wird gelenkt, was frei begonnen hat. Auch das wäre noch kein Problem, bliebe es eine private Narretei. Längst hat der Wunsch nach uneingeschränkter Individualität aber das Niveau einer kollektiven Täuschung erreicht. In den Echokammern der Smart-Phone- Welten entstehen neue Glaubensgemeinschaften. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie dem Einzelnen Selbstbestimmung suggerieren, längst aber zur Fremdbestimmung geworden sind. Das ist gerade dort nichts ohne die anderen. Wem es gelingt, in der Welt der Kurznachrichten und Videotrailer genügend Follower an sich zu binden, der macht die besten Geschäfte. Die Botschaften müssen gefällig genug, glaubwürdig nahe am Bauchgefühl und aufregend einfach sein. Es hat etwas von den Methoden der längst in der Rumpelkammer der Geschichte deponierten Kirchen. Einprägsame Bilder, kurze Sprüche, heroenhafte Prediger, eine ansprechende Liturgie – das Hochamt der Fremdbestimmung hat sich ein neues Gewand gesucht. Auch das wäre als kurioses Unterhaltungsprogramm nicht weiter störend. Doch die fremdgesteuerte Selbstbestimmung unserer Tage ist in ihrer subtilen Form nicht zuletzt eine Gefährdung der Demokratie. Diese braucht informierte Zeitgenossen und solche, die im oft mühevollen Abgleich von Interessen das Eigene und das Gemeinsame verhandeln. Um das zu können, braucht es auch gemeinsame Foren. Es braucht die Fähigkeit, nicht nur den eigenen Gefühlen oder Vermutungen zu folgen, sondern sich auf einer Faktenlage zu verständigen. Die Psychiaterin Adelheid Kastner provoziert dieser Tage mit ihrem Buch über „Dummheit“. Auch wenn der Begriff nicht eindeutig zu definieren sei, könne man sagen, dass dumm ist, wer sich wider bessere Möglichkeiten nicht seines Gehirns bediene. Das suche, so man es lasse, nach plausiblen Fakten und hielte sich nicht bei vorläufigen Gefühlen auf.
„Glaubst du an Corona?“, wurde ich vor kurzem gefragt. Ich war perplex und im Moment unfähig, eine adäquate Antwort zu geben. Kann man an Viren glauben oder nicht? Ist es ein Zeichen von Selbstbestimmung, die Erkenntnisse der Wissenschaft abzulehnen und sich an Sonderpredigern zu orientieren? Während mehrfach überprüfte wissenschaftliche Erkenntnisse meist kollaborativ entstehen und daher auch nicht die Wissenschaftler an sich in den Vordergrund stellen, halten sich die Glaubenden an einzelne Personen. An deren Glaubwürdigkeit machen sie ihre eigenen Entscheidungen fest. Was selbstbestimmt wirkt, ist ängstliches Klammern. Auf das Gesamte eines Gemeinwesens gesehen, birgt das die Gefahr, wieder Führer und charismatische Manipulatoren an die Spitze zu bringen. Wer seinen Anhängern das Gefühl vermitteln kann, tatsächlich anders als die anderen zu sein, vor allem aber klüger, besser, schlauer, schöpft die Likes ab.
Fremdbestimmung, die de facto Unterwerfung ist, unterscheidet sich von jener, die sich notwendigerweise aus dem Zusammenleben mit anderen ergibt. Sie ist eine soziale Toleranz, die erlernt werden kann. Wer anerkennt, dass wir, weil wir Individuen sind, unterschiedliche Interessen haben, und zwar gleichwertig, schafft die Basis für die nächsten Schritte. Entgegen der Vorstellung einer selbstbezogenen Autonomie entsteht Respekt füreinander nur, wo jeder auch von sich absehen kann. Zuhören ist eine der Qualitäten, die sich so ausbilden. Aus ihr folgt, dass der Geist beweglich wird, dass die Gefühle fließend werden, das Wahrnehmen einen größeren Horizont als den eigenen erschließt. Das Abtreten egoistischer Interessen und Vorteile im Interesse eines gemeinsamen guten Lebens wirkt dann wie eine Einwilligung in Fremdbestimmung. Paradoxerweise ist aber gerade das ein Höchstmaß an Selbstbestimmung. Der eigene Vorteil kann wachsen, wenn es auch der aller anderen tut. Im klassischen Wirtschaftsjargon heißt das „Win-win-Situation“. Aber muss es immer Gewinnen sein? Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, einschließlich der privaten Lebensführung, hat vermutlich den Blick darauf verstellt, dass wir in erster Linie endliche und dadurch auch extrem verletzliche Lebewesen sind. Erst in der Balance von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung wird das erträglich. Wer das kleine Ego als Maß aller Dinge akzeptiert, muss auch daran scheitern.