Manche Erkrankungen merken Menschen lange nicht, obwohl sie tödlich ausgehen können. Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen treten sogar gemeinsam auf. Am neu gegründeten Klinischen Forschungsinstitut am Med Campus der JKU Linz suchen Forschende nach Erklärungen dafür – vor allem aber nach Lösungen.
von Judith Hecht
Seit Jahrzehnten sind Herz-Kreislauferkrankungen in Österreich die häufigste Todesursache, sie sind mit großem Abstand für mehr Todesfälle verantwortlich als etwa der Krebs. Und Österreich ist dabei keine Ausnahme, in vielen Ländern der Welt ist das so, und zwar schon lange.
Das ist die schlechte Nachricht. Doch es gibt auch gute: Zum einen kann jeder von uns mit einem vernünftigen Lebensstil – also mit gesunder Ernährung, regelmäßiger Bewegung oder dem Verzicht auf Nikotin – sein Erkrankungsrisiko reduzieren. Zum anderen hat die Forschung in den vergangenen Jahren eine Fülle neuer Erkenntnisse gebracht. Wir wissen jetzt viel mehr über Ursachen und Risiken von Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes, wir erkennen Zusammenhänge und verstehen Wechselwirkungen besser. Vor allem aber gibt es große Fortschritte in der Behandlung: Neue Untersuchungsmethoden, wirksamere Medikamente, minimal invasive Eingriffe, hoch technisierte Operationstechniken bedeuten für die betroffenen Patient*innen vor allem eines: weniger Leid und mehr Lebensqualität.
Doch immer noch ist vieles unbekannt. Am Med Campus der Johannes Kepler Universität Linz (JKU) haben Forscher*innen nun die Möglichkeit, ihre wissenschaftliche Arbeit noch intensiver und effizienter zu betreiben, als sie das bisher schon getan haben. Die JKU, das Kepler Universitätsklinikum (KUK) und das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Linz haben gemeinsam ein neues Institut gegründet, in dem Wissenschaftler*innen verschiedenster Disziplinen die Mechanismen des Zusammenspiels von kardiologischen, vaskulären und metabolischen Erkrankungen erforschen werden.
Das ist auch dringend notwendig, denn was die meisten nicht wissen: die Hälfte der Menschen, die einen Herzinfarkt bekommen, leidet auch an der metabolischen Erkrankung Diabetes mellitus. „Dass Menschen mit Diabetes ein deutlich höheres Risiko haben, Probleme mit dem Herzen zu bekommen, ist schon lange bekannt. Wie aber interagieren das kardiovaskuläre und das metabolische Stoffwechselsystem genau? Wie können wir gefährdete Patientengruppen frühzeitig herausfiltern? Wie können Schädigungen verhindert oder zumindest abgemildert werden? Das sind nur einige Fragen von vielen, auf die wir Antworten finden wollen“, sagt Andreas Zierer, Leiter der Universitätsklinik für Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie der JKU. Er zählt neben Clemens Steinwender, dem Vorstand der Klinik für Kardiologie und internistische Intensivmedizin am KUK, Martin Clodi, dem Leiter der internen Abteilung bei den Barmherzigen Brüdern, und David Bernhard, dem Leiter der Abteilung Pathophysiologie der JKU, zu den Gründungsmitgliedern des neuen Klinischen Forschungsinstituts (kurz KFI). Anfang 2023 wird es seine Arbeit aufnehmen.
Schonendere Behandlungsmöglichkeiten
Wie unglaublich viel sich in den vergangenen Jahrzehnten in allen Bereichen der Medizin getan hat, lässt sich schon an den zahlreichen Spezialdisziplinen erkennen, die sich im Laufe der Zeit etabliert haben. In der internen Medizin haben sich etwa Nephrologie, Pneumologie, Rheumatologie, Endokrinologie und Diabetologie – um nur einige zu nennen – zu eigenen Sonderfächern entwickelt. Die Kardiologie war dabei eines der ersten Spezialgebiete, das sich im 20. Jahrhundert herauskristallisiert hat.“ Und mittlerweile gibt es auch innerhalb unseres Fachs einen sehr hohen Grad an Spezialisierung“, sagt der Kardiologe Clemens Steinwender. Man könne sich gar nicht mehr vorstellen, dass sich früher ein*e Kardiolog*in um alle Herz-Kreislauferkrankungen gekümmert hat – von Herzrhythmusstörungen und Herzklappenfehlern bis hin zum Herzinfarkt.
Für Patient*innen bedeutet diese Entwicklung im Idealfall, von Mediziner*innen behandelt zu werden, die nicht nur ein besonderes Know how mitbringen, sondern auch mit der Behandlung der jeweiligen Erkrankung viel Erfahrung haben. Welch große Vorteile die Spezialisierung, aber auch der Einsatz moderner Technik in seinem Fach für die Erkrankten gebracht hat, erklärt Clemens Steinwender an zwei Beispielen: „Herzrhythmusstörungen können dazu führen, dass das Herz entweder zu schnell oder zu langsam schlägt. Im ersten Fall können wir heute mithilfe eines weichen Katheters, an dessen Spitze Elektroden sind, über die Leistengefäße zum Herz vordringen. Dort angelangt tasten wir die Herzinnenseite ab und können auf den Millimeter genau jene Stellen veröden, von denen die Störungen ausgehen. Für Patient*innen ist dieses relativ neue Verfahren ein besonders schonendes, weil es ohne den Einsatz von Röntgenstrahlen auskommt.“
Menschen, deren Herz zu langsam schlägt, profitieren ebenfalls von den Innovationen der Medizintechnik. 2013 implantierte Clemens Steinwender weltweit erstmals einen sondenlosen Herzschrittmacher. „Mit Einsatz dieses Geräts, das die Größe einer Vitamintablette hat, können viele Komplikationen, die herkömmliche Schrittmacher verursachten, verhindert werden. Die älteren Modelle haben mehrere Sonden, an denen sich im Laufe der Zeit aber Bakterien ansiedeln und Infektionen im ganzen Körper auslösen können“, sagt Steinwender. Durch Materialermüdung wiederum können Brüche der elektrischen Leitungen innerhalb der Sonden auftreten und damit zu Fehlfunktionen des Schrittmachers führen. All das kann durch die Miniatur-Herzschrittmacher verhindert werden, denn sie sind so klein, dass sie direkt ins Herz implantiert werden. „Nach fast zehn Jahren sehen wir anhand mehrerer Studien, dass dieses Behandlungskonzept sehr gut funktioniert“, sagt der Kardiologe. „Die gefürchteten Keimauflagerungen treten so gut wie nicht mehr auf, weil sie keinen Nährboden mehr haben.“
Spezialisierung erfordert mehr Kooperation
So gut und notwendig Spezialisierung in der Medizin auch ist, sie führt in der Praxis leider immer wieder dazu, dass Expert*innen medizinische Probleme nur aus ihrer fachlichen Perspektive betrachten. Doch ein Tunnelblick dient Patient*innen nicht – genauso wenig wie Pfründedenken und falsch verstandene Konkurrenz. Dessen sind sich die Wissenschaftler*innen an der JKU und am Keplerklinikum bewusst, und haben deshalb schon in der Vergangenheit großen Wert auf interdisziplinäre Kooperation gelegt.
„From bench to bedside“ („vom Labortisch zum Krankenbett“) nennt sich der klinisch orientierte Forschungsansatz, der am neuen Forschungsinstitut noch intensiviert werden wird. Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung von Früherkennungstests, um Aortenaneurysmen, also Erweiterungen der Hauptschlagader, möglichst früh zu identifizieren. Bei diesem Projekt arbeiten Forschende der Abteilung für Pathophysiologie Hand in Hand mit Herzchirug*innen und Kardiolg*innen des Kepleruniversitätsklinikums.
Doch der Reihe nach: Aneurysma nennt man die Ausbuchtung eines Blutgefäßes. Es entsteht durch eine Schädigung oder Schwächung der Gefäßwand, es kann aber auch angeboren sein. Der überwiegende Teil der Aneurysmen betrifft die Hauptschlagader (sogenanntes Aortenaneurysma). An jener Stelle, an der die Wand des Blutgefäßes schwach ist, besteht die Gefahr, dass es zu einem Riss und in der Folge zu einer innerlichen Blutung kommt. Je größer das Aneurysma, umso höher ist dieses Risiko. Eine solche Ruptur bedeutet akute Lebensgefahr. Eine erfolgreiche Behandlung ist nur möglich, wenn die Betroffenen in Windeseile operiert werden. „Das Problem ist, dass Aortenaneurysmen kaum Symptome hervorrufen. Wenn man sie entdeckt, dann zumeist zufällig im Zuge einer bildgebenden Untersuchung“, erklärt Pathophysiologe David Bernhard.
In enger Zusammenarbeit mit Herzchirurg Andreas Zierer ist es ihm aufgrund von Blut- und Harnuntersuchungen betroffener Patient*innen gelungen, sogenannte Biomarker zu identifizieren, die auf eine Neigung zu einem Aortenaneurysma schließen lassen. „Diese Marker haben wir mittlerweile an klinischen Proben getestet, nun wollen wir sie im realen Leben der Klinik ausprobieren. Die Zukunftsvision ist, bei Neugeborenen-Screenings oder im Rahmen von Blutuntersuchungen oder Blutspenden mithilfe eines günstigen Testsystems ein bevölkerungsweites Screening durchzuführen, um eine Früherkennung eines Aortenaneurysmas zu ermöglichen.“ Eine weitere Hoffnung ist, dass Betroffene mit diesen Tests einmal ein Instrument zur Verfügung haben, mit dem sie selbst feststellen können, ob ihre Erkrankung weiter fortschreitet, ergänzt Bernhard. „Ist das der Fall, können sie sofort ihren Internisten aufsuchen, um abzuklären, ob eine Intervention notwendig ist.“
Der Lebensstil macht viel aus
Auch der Diabetologe Martin Clodi beschäftigt sich mit seiner Arbeitsgruppe seit Jahren intensiv damit, Biomarker zu finden, die kardiovaskuläre Risiken bei Diabetikern anzeigen, um drohende Komplikationen zu minimieren. Wie Bluthochdruck und ein hoher Cholesterinspiegel zählt auch Diabetes zu den sogenannten „Silent Killers“. Lautlose Killer werden sie genannt, weil Betroffene lange Zeit von ihrer Erkrankung gar nichts bemerken. Das macht sie besonders verhängnisvoll. Denn treten die ersten Symptome auf, ist es meist bereits zu nachhaltigen körperlichen Schädigungen gekommen. Das erklärt, warum sich Forscher wie Clodi so stark auf die Prävention sowie die Früherkennung dieser Krankheiten fokussieren.
Fest steht, dass die genetische Disposition für viele Silent Killers eine große Rolle spielt. So auch Diabetes: „Ein Beispiel: Der sogenannte Altersdiabetes (Diabetes mellitus Typ II) ist genetisch festgelegt. Ein Kind eines Diabetes Typ II-Elternteils bekommt zu 40 Prozent Diabetes, wenn beide Elternteile betroffen sind, liegt die Wahrscheinlichkeit sogar bei 70 Prozent“, erklärt Martin Clodi. Man könne aber die Symptomatik dieser Erkrankung über viele Jahre, vielleicht sogar jahrzehntelang hinausschieben, wenn man auf seinen Blutdruck und Cholesterinwert achte, schlank bleibt und sich bewegt, sagt Clodi. „Dass Diabetes heute nicht erst im Alter, sondern immer früher ausbricht, hat vor allem damit zu tun, dass 50 Prozent der österreichischen Bevölkerung übergewichtig ist.“
Besonders schädlich ist das viszerale Fett, auch „Bauchfett“ genannt. Es ist – warum, das weiß man noch nicht genau – metabolisch besonders aktiv und produziert Substanzen, die Insulin entgegenwirken. Zu glauben, man könne sich mit speziellen Diäten gezielt des lästigen Speckgürtels entledigen, ist ein frommer Wunsch, sagt Clodi: „In aller Regel verlieren wir aber nur dann Gewicht – und zwar überall –, wenn wir weniger essen und uns mehr bewegen.“
Sich nur darauf zu verlassen, dass Diabetes heute sehr gut medikamentös behandelbar ist, davon rät der Mediziner ab. Es zahle sich in jedem Fall aus, sich um seinen Körper zu kümmern, man lebe so nicht nur länger, sondern auch besser. Das sei allerdings nicht jedem bewusst, bedauert Clodi. „Kürzlich hat ein Patient mit Diabetes zu mir gesagt: ‚Mir ist alles wurscht, ich sterbe lieber früher, bevor ich auf irgendetwas verzichte.‘ Eine Haltung, die ich respektieren kann. Das Problem ist nur, dass mit einem maßlosen Lebensstil die letzten Jahre nicht angenehm, sondern sehr leidvoll verlaufen können. Niereninsuffizienz, Erschöpfung oder Herzinfarkt, damit lässt es sich nicht gut leben.“
Bei einem Herzinfarkt zählt jede Minute
Apropos Herzinfarkt: Wie die Lebensqualität von Menschen nach einem Herzinfarkt aussieht, hängt vor allem davon ab, wie schnell Betroffene ins Krankenhaus kommen und versorgt werden. Denn bei einem Herzinfarkt wird ein Teil des Herzens von der Sauerstoffversorgung abgeschnitten, das umliegende Herzgewebe wird nicht mehr voll versorgt und stirbt nach einiger Zeit endgültig ab. „Zeit ist Herzmuskel“ lautet die einprägsame Formel.
„Verzögert sich die Behandlung nach einem Infarktgeschehen, steigt das Risiko, die nächsten zwölf Monate nicht zu überleben, mit jeder halben Stunde um 7,5 Prozent an“, erklärt Marina Müller. Gemeinsam mit dem Pathophysiologen David Bernhard forscht die Doktorandin gerade daran, wie es gelingen kann, die Zeit bis zur Behandlung zu minimieren. „Ideal wäre es, wenn nicht erst im Krankenhaus mit der Therapie der Herzinfarktpatient*innen begonnen wird, sondern gleich vor Ort, in der Rettung, ein Wirkstoff verabreicht wird, der das Absterben des Herzmuskels verhindert“, sagt Bernhard. Mit 5‘-Methoxyleoligin könnte das prinzipiell gelingen. Die Substanz, die ursprünglich aus der Wurzel der Edelweißblume gewonnen wurde, schützt den Herzmuskel auf beachtliche Weise. Das konnte nicht nur an Zellkulturen, sondern auch bei Versuchen mit Ratten nachgewiesen werden.
Was bei den Tieren möglich ist, kann allerdings unmöglich auf den Menschen Eins zu Eins angewandt werden. „In meiner Doktorarbeit versuche ich deshalb herauszufinden, wie dieses Mittel in Zukunft am besten und auch unkompliziert verabreicht werden kann, damit es im Ernstfall möglichst schnell genau dort hinkommt und wirkt, wo es wirken soll“, sagt Marina Müller.
Von 1.000 Substanzen schafft es eine auf dem Markt
Eine sehr komplexe Aufgabe, wie die Wissenschaftlerin aus vielen Tagen und Nächten im Labor weiß. Und fortwährend tauchen neue Fragen auf, die es zu lösen gilt. Bei aller Begeisterung für ihre Pionierarbeit bleibt Müller deshalb nüchtern: „Wir freuen uns momentan über vielversprechende Ergebnisse, aber mit jedem neuen Versuch kann sich die Situation sofort ändern. Zur Orientierung: Von 1000 Substanzen, die Forscher*innen entdecken, schafft es nur eine bis zur Marktreife. Die Rahmenbedingungen für schnelle Tests könnten mit dem KFI noch besser werden: „Ob Mediziner*innen, Biologi*innen, Chemiker*innen, Pharmakolog*innen, wenn wir quasi nur über den Gang gehen müssen, um etwas miteinander zu diskutieren, sparen wir uns so viel Zeit, denn der ständige Austausch ist unglaublich befruchtend“, sagt die Doktorandin Marina Müller.
Das sieht der Herzchirurg Zierer genauso. Mit großem Interesse verfolgt er die Forschung von Marina Müller und David Bernhard. Schließlich sieht er jeden Tag jene Menschen, deren Herzprobleme so groß sind, dass weder mit Medikamenten noch einem gesünderen Lebensstil noch irgendetwas auszurichten ist. Dazu ist es zu spät. Nur mehr ein chirurgischer Eingriff kann in dieser Krankheitsphase helfen. Aber so ein Eingriff am offenen Herzen ist für die Betroffene nicht nur eine enorme Belastung, die Therapie ist in jeder Hinsicht höchst aufwendig: „Wir sprechen hier von Operationen, während derer sich im Schnitt acht Leute mehrere Stunden intensiv nur um einen einzigen Patienten kümmern müssen. Dass es in einer Zeit, in der es so viele hoch technisierte Behandlungsmöglichkeiten gibt, nicht anders geht, darüber schüttle ich selbst manchmal den Kopf.“
So sehr Zierer sein Fach liebt, dem Herzchirurgen ist daran gelegen, Wege zu finden, um künftig derart schwere Eingriffe zu verhindern. „Zum einen geht es darum, immer über den eigenen Tellerrand hinauszusehen und zum anderen: bis es so weit ist, dass beispielsweise Bypass- oder Herzklappenoperationen nicht mehr notwendig sein werden, dauert es ohnehin viel länger, als wir uns das alle wünschen.“
Für die die Forschenden am KFI gibt es also mit Garantie genug zu tun. Und die Ziele, die sie sich gesetzt haben, sind ambitioniert. Erste Forschungsergebnisse von bereits laufenden Kooperationen wollen die Wissenschaftler*innen bereits im ersten Halbjahr 2023 veröffentlichen.