Spitzensportler gehen an ihre Grenzen und riskieren viel, um an ihr Ziel zu kommen. Wie Flüchtlinge.
Die Tabletten gegen Seekrankheit waren nach ein paar Wochen fast alle geschluckt. „Ich hatte ja keine Ahnung, was da auf mich zukommt“, sagt Janice Jakait – wieder festen Boden unter den Füßen. Wenn die 41jährige Deutsche von ihrem Abenteuer im Jahr 2011 erzählt, ist man froh, nur davon zu hören und nicht dabei gewesen zu sein. Alles ing damit an, dass Janice nicht mehr glücklich war – ohne zu wissen, warum. „Ich hatte alles. Einen sicheren Job, Geld, Freunde. Und trotzdem: Irgendwie konnte ich mich über nichts mehr freuen.“ Sie litt an Depressionen und schrammte am Abgrund entlang. Stand auf der Golden Gate Bridge in San Francisco. Sprang nicht. Stattdessen ging sie weiter und entdeckte am anderen Ende der Brücke ein besonderes Boot. Ein Ruderboot, sieben Meter lang, mit einem Sturmanker, genügend Stauraum im Rumpf und einer kleinen Kammer, in der es sich alles andere als bequem, aber schlafen lassen würde. Ihr Entschluss war gefasst: „Wenn ich überlege, von einer Brücke zu springen, kann ich auch überlegen, über den Atlantik zu rudern.“ Es war ebenfalls im Jahr 2011, als sich Ahmad entschied, in ein Boot zu steigen.
Doch während Janice in Portugal ablegte, glitt Ahmads Boot in Libyen ins Wasser. Ziel: Italien. „Ich hatte gehört, dass die Überfahrten riskant sind. Dass es so viele Tote gibt, habe ich nicht gewusst“, sagt der 22jährige Syrer. Die erste Fahrt endete bereits kurz nach dem Start. „Das Boot war leck und wir drehten wieder um. Das zweite Mal entdeckte uns die libysche Polizei und schickte uns zurück. Beim dritten Versuch hatte das Boot schon ein Loch, als wir losfuhren. Es gab eine Wasserpumpe, die das Wasser sofort wieder ins Meer leiten sollte. Doch nach vier Stunden Fahrt iel sie aus“, erzählt Ahmad. „Wir gerieten in Panik, Menschen fingen an zu weinen.“ Das Boot kehrte um, alle schöpften mit Händen und Kübeln, was sie konnten. „Wir erreichten die libysche Küste und ich schwor, dass ich es nicht mehr versuchen würde.“
Auch Janice verfluchte ihr Vorhaben immer wieder. Sie war völlig unvorbereitet auf den Wellengang im Atlantik. „Ich bin in Portugal gestartet. Der Plan war, die Schiffsautobahnen vor der Küste möglichst zu umschiffen“, erzählt sie und zeigt auf einer Seekarte auf mehrere lila Balken im Meer. „Dort sind die Tanker unterwegs. Da willst du nicht hin.“ Doch genau da kam sie hin. „Ich bin drei Tage durchgerudert, ohne Schlaf, aber die Strömung war zu stark.“ Also funkte sie die Kolosse, die vor ihr aus dem Meer ragten, an und bat, auf das Ruderboot achtzugeben. Die Verbindung knackte. „Did you say rowing boat?“, fragte ungläubig eine Stimme. Nachdem Janice bejahte und die Tankerkapitäne den Punkt auf den Wellen ausgemacht hatten, fragten sie: „Und wo wollen sie hin?“ Nach Amerika. Das war der Plan. Auf Ahmads Boot, jenes beim vierten Versuch, gab es kein Funkgerät. Aber 340 Leute an Bord, kein Essen, kein Wasser, keine Tabletten gegen Seekrankheit. „Nach sechs Stunden spuckte der Motor und verstummte. Weit und breit nichts als Meer“, erzählt Ahmad. „Ich schloss die Augen. Beim nächsten Blinzeln machte ich einen Punkt am Horizont aus. ,Bitte, bitte, bewegt euch nicht’, sagte ich in die Stille hinein. ,Bleibt alle auf euren Plätzen, sonst kippen wir. Aber ich habe einen Hubschrauber gesehen.’ “ Ahmad und die anderen Flüchtlinge an Bord wurden schließlich von einem Tanker gerettet, einem ähnlichen wie jenen, die Janice den Weg auf dem Atlantik frei machten.
Janice und Ahmad haben immensen Mut bewiesen und sich ins Ungewisse gestürzt. Und doch reagiert die Welt völlig unterschiedlich auf sie. Janice steht, nachdem sich ihr Körper wieder an festen Boden unter den Füßen gewöhnt hat, fester und zuversichtlicher im Leben als je zuvor. Freunde und Fremde gratulieren ihr zu ihrer Leistung. Ahmad jedoch hat das Flüchtlingsheim in Salzburg, in dem er anfangs unterkam, nur durch die Hintertür betreten. „Flüchtling, das bedeutet für die meisten hier, dass man Geld bekommt, ohne zu arbeiten. Im Bus sehen mich die Leute an, als wäre ich berühmt. Aber ich bin nicht berühmt. Also muss es etwas anderes sein. Es prangt auf meiner Stirn wie ein Stempel: Ich bin Flüchtling.“
Johann Bacher, Soziologe an der Johannes Kepler Universität Linz, hat sich zur unterschiedlichen Wahrnehmung der beiden Gedanken gemacht. „Ahmad erhält keine Bewunderung, weil gleiche Handlungen nicht gleich beurteilt werden.“ Aus der Sozialforschung wisse man, dass Empathie sich nur dann einstellt, wenn Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten mit dem jeweiligen Menschen vorhanden sind. „Dass wir alle Menschen sind, reicht leider nicht“, räumt Bacher ein. „Es braucht mehr. Gespräche beginnen, Menschen beim Namen nennen, einzelne Gesichter aus der Fluchtbewegung hervortreten lassen. Was es braucht, um Empathie entstehen zu lassen, ist die persönliche Begegnung.“