Die große wissenschaftliche Erkenntnis kommt immer mit einem ordentlichen Rumms. Stimmt schon, aber nicht immer ist der auch zu sehen. Die spektakulärsten Ergebnisse passieren nämlich nicht selten im Kopf.
Wissenschaft ist, wenn es ordentlich knallt und stinkt. Explosionen, blubbernde und bunte Flüssigkeiten, große Maschinen und spektakuläre Experimente: Wenn man sich die populäre Darstellung von Forschung ansieht, könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Wissenschaft nicht nur sehr gefährlich ist, sondern erst dann erfolgreich, wenn man am Ende irgendwas in die Luft gesprengt hat. Und es stimmt ja auch: Es gibt Explosionen in der Forschung; manchmal sogar absichtlich. Aber nicht jedes Experiment sieht spektakulär aus. Manchmal sehen Experimente auch überhaupt nicht aus. Etwa dann, wenn sie nur in Gedanken stattfinden. „Sich irgendwas auszudenken“ mag auf den ersten Blick nicht sonderlich wissenschaftlich klingen. Ein richtig durchgeführtes „Gedankenexperiment“ kann aber mindestens ebenso spektakuläre Ergebnisse liefern wie eine ordentliche Explosion.
Eines der berühmtesten Gedankenexperimente der Wissenschaftsgeschichte hat in letzter Konsequenz sogar die größtmögliche Explosion verursacht. Ende des 19. Jahrhunderts dachte der junge (und damals noch überhaupt nicht berühmte) Albe rt Einstein über Licht nach. Wie wäre es wohl, wenn man neben einem Lichtstrahl herlaufen könnte? Mit der gleichen Geschwindigkeit wie das Licht selbst? Was würde man da sehen? Ausprobieren konnte er dieses Experiment selbstverständlich nicht – außer in seinen Gedanken. Einstein wusste damals schon, dass Licht aus schwingenden elektrischen und magnetischen Feldern besteht, die sich mit knapp 300.000 Kilometer pro Sekunde durch den Raum ausbreiten. Einstein stellte sich nun vor, er würde ebenfalls mit dieser Geschwindigkeit neben so einem schwingenden Feld herlaufen (vermutlich stellte er sich auch vor, dass er dabei nicht allzu sehr außer Atem käme, keinen Krampf in den Waden bekommen oder über irgendwas stolpern würde). Dann müsste er eigentlich Felder sehen, die stationär neben ihm hängen. Das aber war unmöglich, denn die mathematischen Gleichungen, mit denen man damals elektromagnetische Felder beschrieb, sahen nicht vor, dass Licht stillstehen kann, egal, wie schnell sich irgend jemand bewegt (oder vorstellt, sich zu bewegen). Einsteins simples Gedanken experiment förderte also einen Widerspruch in der Beschreibung elektromagnetischer Felder zutage und er musste einige Jahre hart nachdenken (inklusive weiterer Gedankenexperimente), um ihn aufzulösen. Das Resultat war die heute berühmte Spezielle Relativitätstheorie mitsamt der noch berühmteren Formel „E=mc²“, die im Zweiten Weltkrieg die Grundlage zur Entwicklung der Atombombe wurde. Zugegeben, der Bau von Atomwaff en war weder von Einstein beabsichtigt noch die einzige relevante Auswirkung seiner Theorie. Aber hier kann defi nitiv niemand behaupten, dass die Ergebnisse eines Gedankenexperiments weniger bemerkenswert wären als die eines realen Experiments in einem Labor.
Es kommt auf den Standpunkt an
Eine isländische Hexe, Dämonen im Weltraum und marodierende Mondtiere mit Hitzeschild: Was nach einem schlechten B-Movie klingt, stammt in Wahrheit aus dem frühen 17. Jahrhundert und ist nur die Rahmenhandlung für ein Gedankenexperiment von Johannes Kepler. Der Namensgeber der Universität Linz hat nicht nur die wahre Natur der Planetenbewegung entschlüsselt, sondern sich auch überlegt, wie es wohl wäre, wenn man auf dem Mond stünde und von dort aus die Erde betrachtet. Das Ergebnis seiner Gedanken fi ndet man im Buch „Somnium“: Dämonen, von einer Hexe beschworen, sind in der Lage, Menschen durch den Raum bis zum Mond zu tragen. Und dort gibt es nicht nur seltsame Lebewesen zu sehen, die sich vor der Hitze der Sonne schützen müssen, sondern auch einen Blick auf die Welt, den man von der Erde aus nicht haben kann und im 17. Jahrhundert auch nicht anders als in Gedanken kriegen konnte. Kepler wollte aber nicht zwingend ein frühes Science-Fiction-Buch schreiben. Ihm ging es um nichts weniger als den Au_ au des Universums. Das heliozentrische Weltbild war zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch umstritten. Viele Menschen waren immer noch davon überzeugt, dass die Erde unbewegt im Zentrum des Sonnensystems steht. Keplers Gedankenexperiment sollte zeigen, dass es auf den Standpunkt ankommt. Ja, von der Erde aus betrachtet sieht es so aus, als würden wir uns nicht bewegen. Wir spüren weder die Rotation des Planeten noch seine Bewegung um die Sonne. Aber, und das beschreibt Kepler im „Somnium“ sehr detailreich, auf dem Mond wäre das nicht anders. Man würde dort nichts vom Umlauf um die Erde spüren, sondern könnte stattdessen zum Schluss kommen, dass sich alles um den Mond herum bewegt. Die Einbettung von Keplers astronomischen Überlegungen in eine märchenhafte Erzählung von durch den Weltraum reisenden Dämonen mag aus heutiger Sicht ein wenig ungewöhnlich erscheinen. Abgesehen davon handelt es sich bei Keplers Flug zum Mond aber um ein klassisches Gedankenexperiment. Erst 1969 konnte es in die Realität umgesetzt werden, dann allerdings ohne Dämonen, sondern mit Raketen.
Der komische Besucher
Der englische Theologe Edwin A. Abbott hat sicher nicht damit gerechnet, sein Gedankenexperiment jemals real erleben zu können. 1884 veröffentlichte er den Roman „Flatland. A Romance of Many Dimensions“. Er spielt in einer Welt, der es an Tiefe fehlt. Oder an Höhe, je nachdem, wie man es betrachten möchte. „Flatland“ hat nur zwei Dimensionen und wird von geometrischen Figuren bewohnt. Ungleichschenklige Dreiecke mit ihrem spitzen Winkel stellen dort beispielsweise die Soldaten. Sie stehen unter den gleichseitigen Dreiecken, zumindest gesellschaftlich, denn in einer Welt ohne dritte Dimension kann man ja nicht räumlich übereinanderstehen. Der fiktive Erzähler der Geschichte ist A. Square, wenig überraschend ein Quadrat. Ihm erscheint eines Tages ein seltsames Phänomen: Ein Punkt, der sich zu einem größer werdenden Kreis transformiert, der danach wieder kleiner wird und verschwindet. Der komische Besucher stellt sich als dreidimensionale Kugel heraus, die große Mühe hat, das flache Quadrat von der Existenz einer dritten Dimension zu überzeugen. Wäre Abbott nicht der nüchterne Theologe und Schuldirektor gewesen, der er war, dann könnte man „Flatland“ als bizarr e Drogenfantasie abtun. Aber Abbott wusste, was er schrieb und warum. Er wollte dem räumlichen Denken der Leserschaft auf die Sprünge helfen. Wir leben in einer dreidimensionalen Welt und können uns beim besten Willen keine vierte Dimension denken. Aber weniger geht immer! Eine zweidimensionale Welt wie „Flatland“ ist vorstellbar und in unseren Gedanken können wir uns nicht nur überlegen, wie ein zweidimensionales Wesen den Besuch einer dreidimensionalen Kreatur erleben würd e, sondern analog dazu spekulieren, wie sich uns eine potenzielle vierte Dimension zeigen würde. Abgesehen davon war Abbotts Buch auch noch ein satirischer Blick auf die Vorurteile und Strukturen des viktorianischen England. Der gesellschaftliche Stand der fl achen Wesen wird durch die Anzahl ihrer Seiten bestimmt. An der Spitze der Hierarchie stehen die Kreise, ganz unten die Frauen, die in Flächenland gerade Linien sind, also sogar noch eine Dimension weniger besitzen als die Männer. Was in Abbotts Buch übrigens nicht thematisiert wird, ist das Verdauungssystem der zweidimensionalen Geschöpfe. Aus gutem Grund, wie man sich leicht selbst überzeugen kann, wenn man dazu ein eigenes Gedankenexperiment durchführt …
Spaghetti mit Philosophen
Ein wirklich schräges Gedankenexperiment hat der niederländische Informatiker Edsger Dijkstra im Jahr 1971 erdacht. Es geht dabei um die Probleme bei der Kommunikation zwischen Prozessen, die gleichzeitig auf einem Computer ablaufen. Dijkstra hat sich aber lieber Philosophen beim Abendessen vorgestellt. Sie sitzen im Kreis um einen Tisch herum; auf dem Menüplan stehen Spaghetti. Jeder hat einen Teller und zwischen den Tellern liegt je eine Gabel: fünf Teller, fünf Gabeln, fünf Philosophen. Aus nur für Dijkstra erfindlichen Gründen braucht ein Philosoph aber zwei Gabeln, um zu essen. Und ein Philosoph isst nur dann, wenn er nicht gerade über etwas Wichtiges nachdenken muss. Aber wenn er hungrig wird, greift er sich die vor ihm liegenden Gabeln, zuerst die linke, dann die rechte, und haut rein, bis er satt ist und weiterdenken kann. Sollte in der Zwischenzeit ein benachbarter Philosoph hungrig werden und die Gabeln nutzen wollen, muss er warten, bis sie wieder frei sind. Ein großes Problem gibt es aber, wenn alle fünf gleichzeitig zur linken Gabel greifen. Dann gibt es für niemanden mehr eine rechte Gabel und alle warten ab, dass irgendwer eine Gabel wieder zurücklegt. Aber weil eben alle warten, wird das nie passieren und die Philosophen verhungern. Dieses Gedankenexperiment ist wahrscheinlich komplizierter als der Sachverhalt, den es illustrieren soll. Dass es niemals in der Realität durchgeführt wurde, liegt vermutlich daran, dass niemand so blöd ist, Spaghetti mit zwei Gabeln zu essen!