Ohne die Wissenschaft hätte die Politik gerade wenig zu sagen. Wenn wir Glück haben, hört sie noch weiter zu. Gedanken von Susanne Schneider über merkwürdige Zeiten.
Was sind das nur für Zeiten, in denen Epidemiologen oder Virologen wie Rockstars durch die Medien gereicht werden? Ausnahmezeiten, ungewöhnliche Zeiten, sicher, aber eben auch sehr, sehr merkwürdige Zeiten.
Zeiten, in denen tatsächlich gewählte Kanzler und Ministerpräsidenten Virologen wie dem Berliner Christian Drosten hinterhertrotten und um Neuigkeiten betteln, die sie ihrem Wahlvolk verkünden können, Zeiten, in denen Infektiologen und Immunologen zu Stars werden, an deren Mündern Millionen hängen wie an Günter Weiss aus Innsbruck oder Anthony Fauci aus den USA. In Schweden ist gar ein Kult um einen eher langweilig wirkenden schwedischen Beamten wie Anders Tegnell entstanden: Rapper besingen ihn und in Facebook-Gruppen schreiben Frauen, er sei Teil ihrer Träume. Tegnell ist ein schwedischer Epidemiologe, der für die Gesundheitsbehörde arbeitet, täglich um 14 Uhr in Stockholm vor die Kameras und Mikrofone tritt und sagt, dass das Land auch im Hinblick auf Corona beste Resultate produziere, „wie es das schon immer getan hat“. Wenn er da mal recht behält. Eine schwedische Zeitung jedenfalls nannte ihn bereits den „Gesandten des Herrn“.
Apropos: Wo ist eigentlich der echte, also der im Himmel? Der Papst, sein Stellvertreter auf Erden, muss fast allein die Messe im Petersdom lesen, gut, dafür kann er nichts, und die Pfarrer und Popen und Imame und Hindu-Priester auf der ganzen Welt mühen sich redlich ab mit den Online-Übertragungen, aber wäre es nicht trotzdem jetzt besonders wichtig, dass endlich mal einer, zwei oder warum nicht drei von ihnen ihre Stimme genauso erhöben wie all die Wissenschaftler und Politiker, die im Moment ununterbrochen zu Wort kommen? Wäre es nicht an der Zeit in diesen merkwürdigen Zeiten, dass ein Bischof oder Kardinal eine, sagen wir, Pressekonferenz abhält, aufsteht und – mit etwas frommeren Worten als hier – seinen Milliarden Schäfchen verkündet, dass Corona und Glaube in gewisser Hinsicht Halbgeschwister sind? Keiner hat sie je gesehen, keiner weiß, was morgen sein wird, und beten, um sich nicht anzustecken, nützt vielleicht wenig, schadet aber ganz sicher nicht. Nur: Keiner von ihnen ist laut zu hören.
Dabei könnten alle Anführer von Glaubensgemeinschaften ziemlich toll angeben mit dem Umstand, dass der bis zum Corona-Ausbruch größte Götze, die Wirtschaft, eben doch weltweit fast runtergefahren werden kann gegen null, etwas, was bis vor kurzem unvorstellbar, unmöglich, ja ein Sakrileg schien: Wagte es jemand, auch nur einen Hauch Kritik beispielsweise am unermesslichen Erfolg der Autobranche zu üben, weil das vielleicht der Umwelt … Spätestens an diesem Punkt wurde er mundtot gemacht und das ewige Lobbyisten-Lied gesungen von den Arbeitsplätzen und dem Wirtschaftswachstum und den Anforderungen einer globalen Welt. Und plötzlich? Plötzlich steht der Mensch wieder über allem, ist das Wichtigste überhaupt, ihm, also uns, und der Gesundheit wird alles, wirklich alles untergeordnet. Der Niedergang der Weltwirtschaft und Milliardenschulden sind Pipifax im Vergleich zu einem Menschenleben! Ist das nicht ein großartiger, urchristlicher Gedanke? Einer, den sich die Kirchen dieser Welt zu Recht ans Hemd heften könnten? Nur: Statt Bischöfen verkünden Sebastian Kurz oder Rudolf Anschober oder Emmanuel Macron, was ihnen die Wissenschaft vorgelegt hat, und beschwören das Wahlvolk mit den immer gleichen Worten: Wir wissen sehr wenig, wir müssen alle zusammenhalten, wir müssen alle Regeln befolgen, um durch diese dunklen Zeiten zu kommen. Aber die Zukunft wird uns dafür belohnen. Nun könnte ein „Gott sei mit Dir und Deinem Volke“ folgen. Aber es folgt keines, weil kein Theologe da ist, weit und breit. Irgendwie schwänzen die gerade ihre Berufung, oder?
Ziemlich heftig erwischt hat es die „Fridays for Future“-Bewegung und mit ihr Greta Thunberg. Von denen redet augenblicklich keiner mehr. Dabei machen die Schwedin und ihre Mitstreiter auf der ganzen Welt doch nichts anderes als all die Virologen jetzt: Warnen, flehen. Wissenschaftlich fundierte Zahlen präsentieren, die in ihrem Fall den Raubbau an der Erde und die Verschmutzung der Umwelt drastisch unterstreichen. Warum haben die Politiker nicht auf deren ja teils dramatische Warnungen gehört? Doch auf die Wissenschaftler, die irgendwas mit Corona zu tun haben, schon? Weil Greta Thunberg keine Wissenschaftlerin ist? Ziemlich sicher. Weil die meisten Anführer*innen der „Fridays for Future“-Bewegung Frauen sind? Mindestens eine Überlegung wert.
Es gibt wohl eine hoffnungsfrohe und eine hoffnungslose Aussicht, dass sich – mit oder nach der Bewältigung der Corona-Krise – das Augenmerk endlich mit aller Vehemenz, die notwendig ist, auf den ziemlich katastrophalen Zustand unseres Klimas lenkt. Die eher hoffnungslose: Eine weitere Katastrophe; wenn beispielsweise die Donau in Linz und Wien so viel Hochwasser mit sich führte, dass die Menschen um ihr Leben fürchteten, dann hätten wir ähnliche Zustände wie jetzt in der Corona-Krise: Alle Hebel würden von der Politik in Bewegung gesetzt, alle Wissenschaftler befragt, die Menschen müssten evakuiert und der Wasserpegel zum Sinken gebracht werden. Egal, zu welchem Preis. Die hoffnungsfrohe: Dass Politiker aus der Verbreitung des Corona-Virus gelernt haben und die Wissenschaft nun ernst nehmen. Dass es was nützt, sehen alle doch jetzt.