Der NSU-Prozess war eines der aufsehenerregendsten Verfahren der letzten Jahre. Ein Plädoyer für den Rechtsstaat von Gerichtsreporterin und Prozessbeobachterin GISELA FRIEDRICHSEN.
Wieso hat der NSU-Prozess so lange gedauert?“, fragen viele Menschen verständnislos, die von Beate Zschäpe als der Dritten im Bunde des Mördertrios schon von Anfang an überzeugt waren. Das Oberlandesgericht München aber verhandelte mehr als fünf Jahre lang, vom 6. Mai 2013 bis zum 11. Juli 2018, bis es sie und vier Mitangeklagte verurteilte. Was das gekostet hat: 60 bis 70 Millionen Euro wohl, 150.000 Euro im Schnitt je Verhandlungstag. Fünf Verteidiger für die Hauptangeklagte, 70 Anwälte für die Opfer. War das nötig? 300.000 Seiten Akten. Rund 600 Zeugen, ein Heer von Sachverständigen. Superlative auf allen Gebieten. Und trotzdem blieben bis zum Schluss offene Fragen. Was ist los mit diesem Rechtsstaat?
Die Skandalisierung wegen der Platzzuteilung an die Presse. Die undurchsichtige Rolle der Geheimdienste. Der mysteriöse Doppelmord der mutmaßlichen Haupttäter. Dazu der groteske Streit um die Pflichtverteidiger, denen die Hauptangeklagte nach zwei Jahren ihr Vertrauen entziehen zu müssen glaubte, um sie durch einen unerfahrenen und einen Anwalt von fragwürdigem Ruf zu ersetzen. Dazu eine Nebenklage, die sich als Gegnerin von Verteidigung und Staatsanwaltschaft zugleich eine vom Gesetzgeber nicht vorgesehene Rolle anmaßte. Fernsehfilme beschäftigten sich mit dem Stoff während laufender Hauptverhandlung, in Talkshows wurde er diskutiert und auf Bühnen als großes Theater aufgeführt. Kein Zweifel: Beate Zschäpe war vorverurteilt, wie es schlimmer kaum vorstellbar ist.
Überdimensioniert waren auch die Erwartungen. Nicht nur ein normaler – wenn auch bedeutender und spektakulärer – Strafprozess sollte es werden, sondern ein historischer, vergleichbar mit den Frankfurter Auschwitz-Prozessen (in denen es allerdings nicht um neun Morde an Migranten und einer Polizistin ging, sondern um die fabrikmäßige Vernichtung von Millionen Menschen). Die Fragen der Opfer nach dem Wie und dem Warum der Verbrechen, nach dem Netz aus potenziellen Unterstützern, Mitwissern und Mittätern bestimmten die Thematik.
Nun ist die Enttäuschung groß. Das Ergebnis des NSU-Prozesses gilt als unbefriedigend, der Rechtsstaat habe versagt. Denn „nichts“ sei aufgeklärt worden, die „wirklichen“ Fragen nach weiteren eingeweihten Helfern seien nicht beantwortet, die „eigentlichen“ Täter nicht namhaft gemacht worden. Der Prozess habe die Hoffnungen, die in ihn gesetzt wurden, nicht erfüllt. Dass Zschäpe wegen Mittäterschaft zu lebenslänglich verurteilt wurde und die anderen Angeklagten zum Teil zu hohen Haftstrafen, ging in der allgemeinen Empörung fast unter. Dass bei Zschäpe eine besondere Schwere der Schuld festgestellt wurde, was eine vorzeitige Entlassung voraussichtlich unmöglich macht, sollte das Urteil Rechtskraft erlangen, wurde weder gewürdigt noch als Genugtuung anerkannt. Die meisten Opfer seien am Urteil nicht sonderlich interessiert gewesen, teilten deren Anwälte mit. Die Aufklärung – oder vielmehr die erwartete Bestätigung –, dass der NSU aus viel mehr Personen als nur aus Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe bestanden habe, sei den Opfern und der Öffentlichkeit versagt worden. Der Prozess sei eine Farce gewesen, ein Versuch des Generalbundesanwalts, durch die Fokussierung auf eine Dreierzelle die Geheimdienste aus dem Prozess herauszuhalten. Eine Show zur Verdeckung staatlichen Versagens, wenn nicht gar staatlicher Beteiligung an den Verbrechen. Die Täter hätten früher gefasst und weitere Morde verhindert werden können, argumentierte etwa der Opferanwalt Mehmet Daimagüler, wäre bei den Ermittlungen das Motiv „Hass auf Ausländer“ von Anfang an ernsthaft verfolgt worden. Doch „institutioneller Rassismus“ habe dies verhindert.
Befindet sich der Rechtsstaat also in einer Krise, wenn es nicht einmal einem hochprofessionell und akribisch arbeitenden Gericht gelingt, Rechtsfrieden herzustellen? Dazu Krisensymptome allerorten: Der Staat dulde Parallelgesellschaften, Vielehen, eine Scharia- Justiz. Er schaffe es nicht, Menschen außer Landes zu bringen, die kein Recht haben, hier zu sein. Nicht einmal rechtmäßig abzuschiebende Straftäter werde er los und so fort. Unverständliche Urteile, die nicht die Wunden der Opfer heilten, sondern weitere schüfen und – zumindest einer gefühlten – Ungerechtigkeit Vorschub leisteten. So und ähnlich lauten die pauschalen Vorwürfe gegen den Rechtsstaat, von denen auch der NSU-Prozess nicht verschont blieb. Es geht in der Justiz nicht anders zu als im normalen Leben: Nicht Institutionen versagen, sondern einzelne Personen, die in ihnen arbeiten. Durch die überbordende Rolle der Nebenklage gerieten die Angeklagten im NSU-Prozess zeitweise an den Rand des Verfahrens. Nicht die Frage, wer getötet oder dies möglich gemacht hatte, stand häufig im Zentrum, sondern die Behauptung, es gebe noch viel mehr Personen, „die unglaublich nah dran waren“ und die als Mittäter vom Staat nach wie vor geschützt würden. Weil der Generalbundesanwalt etwa insgeheim das Treiben des NSU guthieß? Sollte er sich mit dem Staatsschutzsenat gemeinsam zur Rechtsbeugung und Strafvereitelung verschworen haben? Eine absurde These.
Die Versuche der Nebenklage, weite Teile der Hauptverhandlung für ihre Zwecke zu usurpieren, überdeckten die wahren Probleme dieses Strafverfahrens. Die Frage etwa, ob es hinzunehmen ist, wenn, wie geschehen, den NSU betreffende Akten eine Woche nach deren Entdeckung in einer Behörde geschreddert werden, um Ermittlungsfehler zu vertuschen. Oder wenn der Innenminister eines Bundeslandes Akten sperren lässt, weil ihm die Anonymität seiner V-Leute wichtiger ist als die Aufklärung einer Mordserie. Es drängt sich auch die Frage auf, ob die Hauptangeklagte nach dem Bruch mit ihren Stammverteidigern noch ordnungsgemäß verteidigt war. Der Vorsitzende gestand dem Junganwalt Mathias Grasel, 31, der sich nach 218 ihm unbekannten Verhandlungstagen auf das Abenteuer als vierter Pflichtverteidiger einließ, eine Einarbeitungszeit von nicht einmal drei Wochen zu. Widerspruch dagegen legte Grasel nicht ein, dazu fehlte es ihm wohl an Mut und Erfahrung. Auch in der Öffentlichkeit erhob sich kein Sturm der Entrüstung. Der Mann im Hintergrund, Hermann Borchert, gab im Dezember 2015 dann ohne Kenntnis der Beweisaufnahme eine aus seiner Feder stammende Erklärung zur Sache für Zschäpe ab, die Verteidiger Wolfgang Stahl zu Recht „prozessualen Selbstmord“ nannte. Der Senat nahm’s gelassen, Zschäpe wollte es ja so.
Nein, der Rechtsstaat hat im NSU-Verfahren nicht versagt. Dass er von den Ansprüchen der zahlreichen Opferanwälte – eine Familie etwa beschäftigte gleich neun Juristen – überfordert war, sollte den Gesetzgeber aber über eine Neuordnung der Nebenklage nachdenken lassen. Denn die Angehörigen und Verletzten erschienen am Ende des Prozesses unzufriedener und verunsicherter denn je. Die Urteile über die Angeklagten hingegen entsprachen dem Prozessergebnis. Und das ist schließlich das Ziel eines Strafprozesses im Rechtsstaat.