Die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich und ihre kleine Schwester in der Romandie, die École Polytechnique Fédérale de Lausanne, zählen zu den renommiertesten Hochschulen der Welt. Wie machen die Schweizer das?
Eine bronzene Büste von Albert Einstein rauscht ins Bild, ein Roboter wankt über die mit sagenhafter Aussicht gesegnete Polyterrasse vor dem Hauptgebäude, ein Student klammert sich an eine kleine Rakete und wird damit in den blauen Himmel katapultiert. Alles ist weichgezeichnet oder elektrifiziert. Und durch alles tanzen rappende Studierende und singen Dinge wie: „We rise. We shine. Shape our diamond and refi ne it. Become a master’s at ETH.“ Die ETH, eine der weltweit renommiertesten technischen Hochschulen, wirbt in einem Imagefilm von 2018 mit knalligen Klischees um Studierende. Der Tenor: Hier erfinden wahnsinnig coole Menschen wahnsinnig cooles Zeug. Und das alles in bester Laune. In den Kommentaren zum Video auf YouTube schreibt jemand: „Einstein würde sich in seinem Grab umdrehen – in relativer Geschwindigkeit.“
Wer die ETH besucht, sieht keine Roboter und Raketen und tanzenden Studierenden auf der Polyterrasse. Das Hauptgebäude der Hochschule, da, wo ein Teil der Studierenden ein- und ausgeht, ist ein ruhiger, ehrwürdiger Koloss in der Zürcher Häuserlandschaft. Über 150 Jahre alt ist die ETH, gegründet 1855 unter dem Namen Polytechnikum – zu einer Zeit, als es in der erst jungen Schweiz nur kantonale Universitäten gab. Eine überkantonale Hochschule war ein Novum. 1911 wurde das Polytechnikum in den Namen mit der berühmten Abkürzung umgetauft. Stetig wuchs die Hochschule, dauernd mussten Gebäude in der Stadt dazugekauft werden. Ende der 70er Jahre baute die ETH einen zweiten großen Standort auf dem Hönggerberg. 15 Shuttlebusminuten vom Hauptgebäude entfernt, auf einer Anhöhe, die nicht einmal im Entferntesten an einen Berg erinnert, befinden sich seither Labors, Werkstätten und weitere Vorlesungssäle. Heute besteht die ETH Zürich insgesamt aus 16 Departementen, von Maschinenbau über Klimawissenschaften zu Architektur, aus 500 Professuren und rund 20.000 Studierenden.
Auffällig an der Hochschule ist aber nicht ihre Größe, sondern ihr Renommee: 21 Nobelpreisträger sind mit der ETH assoziiert, darunter die Ikone der Physik, Albert Einstein. Die „Liste bekannter Persönlichkeiten der ETH Zürich“ auf Wikipedia ist beachtlich, ebenso die der Spitzenplätze in den Rankings, die die ETH seit Jahren belegt. Zuletzt ging in diesem Jahr der sechste Rang des QS World University Rankings an die ETH – hinter Namen wie Harvard, Stanford oder Oxford.
Ein Geisteswissenschaftler im Tech-Olymp
Namen, Zahlen, Ranglisten – ein Versuch, den Erfolg zu messen. Doch wie kommt der eigentlich zustande? Und was braucht es dafür? Einer, der es wissen muss, ist Professor Doktor David Gugerli. Gugerli ist Historiker an der ETH und Professor für Technikgeschichte. Mehrere Jahre lang präsidierte er die Strategiekommission der Hochschule, 2005 veröffentlichte er als Co-Autor eine Studie über die Geschichte der ETH. Titel: „Die Zukunftsmaschine. Konjunkturen der ETH Zürich 1855–2005“. Gugerli betreut Doktorierende und beschäftigt sich mit modernen Wissenssystemen und Wissensgesellschaften. Ein Geisteswissenschaftler im Tech-Olymp.
Was hat er zur Geschichte und zum Erfolg der ETH zu sagen? Was macht eine technische Hochschule gut? Gugerlis Antwort darauf, worin die Aufgabe einer technischen Hochschule bestehe, fällt überraschend kurz und überraschend einfach aus: „Sie bildet Ingenieure und Naturwissenschaftler aus.“ Punkt. Nein, vielleicht noch dies: „Die Lehre basiert auf eigener Forschung.“ Alles andere, so scheint es, ist für Gugerli Nebensache. Nicht unwichtig, das nicht, aber eben doch Nebensache.
Drittmittel? Wachstum? Erfolgreiche Spin-off s? Tolle Produkte? „Die Bildungspolitiker haben die Tendenz, sich auf solche Indikatoren zu stützen. Daran wird eine Hochschule gemessen – auch in den Rankings. Dabei ist die Kompetenz einer Hochschule nicht an ihrem Rankingplatz ersichtlich.“ Überhaupt, apropos Produkte: Das wichtigste Produkt seien die Abgängerinnen und Abgänger der Eidgenössischen Hochschule, die Menschen, die letztendlich all ihr Wissen in die Gesellschaft, in die Verwaltung, in die Wirtschaft tragen. Sieben Bereiche zählt die ETH auf ihrer Website auf, in denen die jährlich 2.500 Absolventinnen und Absolventen schließlich landen: Forschung, Lehre und Schulunterricht, Banken und Versicherungen, Statistik, Technik, Informatik und Datenverarbeitung, Unternehmensorganisation. Dort wird oft sichtbar, was diese Menschen aus der ETH mitgebracht haben. Unsichtbar bleibt hingegen manche Arbeit, mancher Lernprozess, der sie erst dahin führt.
Man müsse, sagt Gugerli, an einer Hochschule oft Dinge tun, die niemanden interessieren würden, keinen Eff ekt hätten. „Ressourcen kann man planen. Aber Wissenschaft nicht.“ Manchmal komme Schrott dabei heraus, manchmal nicht mal das. „Überraschungen sind schlicht nicht kalkulierbar“, sagt Gugerli. Und der Zweck von Lehre und Forschung ist komplex: „Es geht nicht darum, ob der ETH Tefl on oder Transmitter zu verdanken sind. Es geht um mehr als technische Lösungen für Probleme. Es geht darum, Verfahren zu entwickeln, mit denen man künftige Probleme lösen kann.“ Die Lösung künftiger Probleme bestimmt die Philosophie der ETH, wohin man auch schaut. „Wo Zukunft passiert“ ist der Titel einer Broschüre aus dem Jahr 2019.
Das klingt gut, aber was muss dafür gegeben sein? Gugerli liefert ein kleines Einmaleins der Hochschulstrategie in vier Punkten:
- Erstens: Die Konzentration gilt der Ausbildung von Studierenden mit hoher Problemlösungskompetenz, auch für Probleme – nochmals –, die es noch nicht gäbe.
- Zweitens: Die Konzentration gelte nicht den Rankings. „Sonst könnte man auch eine Migros-Clubschule oder einen Freizeitpark machen.“
- Drittens: Es dürfe niemals versucht werden, „Forschung zu planen und zu steuern“. Wenn Forschung, beziehungsweise eine Hochschule, das Erwartete zu liefern habe, komme sie nicht vom Fleck oder müsse unkritisch werden.
- Viertens: „Die Umdeutung von politischen Problemen in technische Fragen schlägt spätestens dann zurück, wenn die ‚Lösung‘ gefunden wurde und sich selber wieder als neues politisches Problem präsentiert.“ Diese Trennung von Technik und Politik habe Vorteile, die Leute würden einander nicht dreinreden, doch sie sei fatal, wenn es um soziotechnische Fragen gehe. Und: „Fast alle Fragen unserer Zeit sind soziotechnische Fragen.“
Das Imagevideo der EPFL kommt ohne Hiphop aus
Im Video stehen die rappenden Studierenden irgendwann auf dem Pult der Rektorin Sarah Springman, der ihr Auftritt in diesem Video zweifellos hoch angerechnet werden muss. „Dance on the rector’s table like a particle in CERN. You can make it in two hours if you make your tires burn“, heißt es, dann wird aus unerfindlichen Gründen ein Formel-1-Wagen gestartet – auf der Fahrt ins Nirgendwo.
Das Imagevideo der EPFL kommt ohne Hiphop aus, hier wird zwar ebenfalls an einer Rakete herumgebastelt, aber zu dramatischen Orchesterklängen statt zweifelhaften Reimen. Die École Polytechnique Fédérale de Lausanne ist als solche rund 100 Jahre jünger als die ETH und mit über 340 Professorinnen und Professoren und etwa 15.000 Studierenden ein Stück kleiner. Doch in Sachen Renommee steht die Hochschule, die neben diversen Forschungsanstalten zum sogenannten „ETH-Bereich“ gehört, in fast nichts nach: Platz 14 ging im QS Ranking an die EPFL. Und in Sachen Lage übertrumpft die EPFL die ETH bei weitem: ein großzügiger Hochschulcampus – direkt am Genfersee.
Sie führt zwei Disziplinen zusammen Warum gedeiht nur unweit der ETH Zürich eine ebenso renommierte zweite technische Hochschule? Anruf bei Emmanuel Barraud, Pressesprecher der EPFL. Die EPFL sei zwar als solche – Gründungsjahr 1969 – sehr jung, sagt Barraud, doch sie gehe aus der technischen Sektion der Universität Lausanne hervor. Auch da reicht die Geschichte also ein Stück weit zurück, auch da handelt es sich bei der Hochschule um ein stetig wachsendes Gebilde. Ende der 60er wurde also aus dem kantonalen technischen Teil der Universität Lausanne die EPFL, fortan eidgenössisch, und damit die kleine Schwester der ETH.
Wie Barraud erzählt, wuchs die EPFL vor allem in den letzten zwanzig Jahren rasant. „Vorher war die EPFL vor allem eine beliebte Hochschule in den Ingenieurswissenschaften, der Architektur, der Mathematik. Dann wurde sie polytechnischer.“ Damit wuchs die EPFL um Studierende. Und dass 2002 die „School of Life Sciences“ gegründet wurde – ein multidisziplinärer, forschungsnaher Studiengang innerhalb der Hochschule, der Medizin mit Technologie verbindet, machte die EPFL noch attraktiver für potenzielle Studierende und Dozierende. „Das war damals ziemlich einzigartig“, sagt Barraud, „eine Ausbildung in Lebenswissenschaften anzubieten mit einem klaren Fokus auf dem technologischen Aspekt.“ Die EPFL ersetzte damit kein universitäres Medizinstudium, sondern führte zwei Disziplinen zusammen.
„Das Interdisziplinäre ist der Schlüssel zum Erfolg“, sagt Barraud. Studierende an der EPFL würden viel an Projekten arbeiten, Teams mit Ingenieur* innen aus allen Feldern bilden, um beispielsweise Technologien zu entwickeln, die bei der Behandlung von Parkinson helfen könnten. Ausbildung, Forschung, Innovation – die Heilige Dreifaltigkeit der technischen Hochschulen in der Schweiz. Geprägt hat diesen Weg der EPFL vor allem der damalige Präsident Patrick Aebischer. Aebischer war Neurowissenschaftler, ein Mediziner also, der für seine Vorstellung einer Umgestaltung der EPFL nach amerikanischen Gesichtspunkten noch vor seinem Amtsantritt 1999 harsch kritisiert wurde und später auf Geheiß des Aufsichtsrates sein Verwaltungsratsmandat bei Nestlé beenden musste. Am Beispiel von Aebischer wird deutlich, wie sehr eine Hochschule eben auch ein politisches Feld ist: Die Ernennung Aebischers war eine Entscheidung des Bundesrates. Wer weiß, wie sich die kleine Schwester der ETH unter einem anderen Präsidium entwickelt hätte?
Barraud sagt: „Eine Strategie für eine Hochschule zu erarbeiten ist nie eine Einzelarbeit. Und für die EPFL war und ist es nach wie vor wichtig, polytechnisch zu sein. Aber natürlich – die Spuren dieser Entwicklung sind sichtbar.“ Martin Vetterli, der aktuelle Präsident der EPFL, ist Mathematiker. „Er betont nun eher die basic sciences“, sagt Barraud. Heißt: Mathematik, Physik, Chemie.
Das höchste Ziel: Talente anziehen
Ein steiler Aufstieg? Barraud sagt, das Renommee sei auch im 20. Jahrhundert gut gewesen. Was sich aber wohl verändert habe, sei die Internationalisierung der Hochschule: „Früher bedeutete ein Diplom von der EPFL, dass man einen guten Job in der Schweiz bekommt. Heute kommen Menschen aus aller Welt an die EPFL und arbeiten dann auch auf der ganzen Welt.“ Und die Rankings? Barraud schlägt in die gleiche Kerbe wie Gugerli: Natürlich seien die Rankings nicht unwichtig, immerhin würden sich diese wohl viele anschauen, bevor sie an die EPFL kämen. Und natürlich sei es ihr höchstes Ziel, „die besten Talente“ anzuziehen. „Doch wir machen nie strategische Entscheidungen von einem Rankingplatz abhängig. Außerdem ist es nicht so wichtig, auf welchem Platz wir genau liegen. Die Hauptsache ist, dass unser Name kein unbeschriebenes Blatt ist – in der ganzen Welt.“
Die Bedürfnisse des Landes berücksichtigen – was auch immer das heißt
Neben der Internationalisierung, den Start-ups, Spin-off s, Incubators und Hubs geht fast vergessen, dass sowohl die EPFL als auch die ETH national stark in der kleinen Schweiz verankert sind. So regelt das ETH-Gesetz in der Schweizer Verfassung den Zweck von ETH und EPFL, zum Beispiel, Studierende auszubilden, die permanente Weiterbildung zu sichern, den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern oder Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Zum Zweck gehört aber auch, dass die Hochschulen „die Bedürfnisse des Landes“ berücksichtigen, was auch immer das heißen mag. Von den Zielen, zum Beispiel der Förderung fächerübergreifenden Denkens bis zum Einbezug von Sozial- und Geisteswissenschaften oder der Erleichterung von Kinderbetreuung für Hochschulangehörige, ist alles in der Verfassung verankert. Und: Der Bundesrat legt für jeweils vier Jahre die strategischen Ziele für den ETH-Bereich fest und bestimmt die Schwerpunkte, nach denen die finanziellen Mittel den Hoch schulen zugewiesen werden. Der Rückhalt der beiden Hochschulen sowohl in der Politik als auch in der Bevölkerung ist deshalb nicht zu unterschätzen. Schlechte Presse sägt am Thron der Bildungsinstitutionen. Im vergangenen Jahr beispielsweise stand die ETH wegen mehrerer Plagiats- und Mobbingfälle in der Kritik – und das nicht zum ersten Mal. Die Vorwürfe wogen schwer, die ETH eröffnete eine Untersuchung und bekleckerte sich auch bei diesem Vorgehen nicht gerade mit Ruhm. In einer internen Umfrage gab dieses Jahr jede vierte Frau an, dass sie sich in den letzten zwei Jahren in irgendeiner Weise diskriminiert gefühlt habe. Bei den Männern war es jeder zwanzigste. Auch eine Institution wie die ETH ist, wie keine, nicht davor gefeit, dass Machtpositionen ausgenutzt werden oder unsauber gearbeitet wird.
Sicher ist: Unberührt von gesellschaftlichen Forderungen und Kritik sind Bildungsinstitutionen bei weitem nicht. Auch was zum Beispiel den Frauenanteil betriff t, bemühen sich sowohl ETH als auch EPFL seit Jahren, die gesellschaftliche Realität einzuholen. Doch weiterhin gilt: Je höher die akademische Stufe, desto kleiner der Frauenanteil. Trotz alledem ist der Status, den die beiden Häuser in der Schweiz genießen, ungebrochen hoch. Beide sind über Jahrzehnte gewachsene, kulturell und gesellschaftlich im Land, in der ganzen Welt verankerte Häuser. Ganz abgesehen von erfolgreichen Start-ups oder bahnbrechenden Innovationen sind sie ein wichtiger Teil der Gesellschaft. Barraud von der EPFL betont: „Wir sollten immer wieder sagen, dass wir für die Menschen arbeiten.“