Damit wir wirklich fürs Leben lernen, muss in unserem Kopf ganz schön viel zusammenpassen. Unser Gedächtnis entsteht, indem unser Gehirn unsere Erfahrungen quasi immer wieder wiederholt. Das geschieht vor allem in Phasen der Ruhe. Eine bestimme Art von Nervenzellen ist dabei besonders aktiv – und besonders schnell. Die Neuroanatomin Maren Engelhardt erforscht, warum das so ist.
Ein nicht genau datierter Tag der frühen 1890-er Jahre, mitten in Madrid: Der spanische Mediziner Ramón y Cajal sitzt in seinem bescheidenen Forschungslabor. Über sein geliebtes Zeiss-Mikroskop gebeugt, zeichnet er mit filigranen Linien die Bahnen einer Pyramidenzelle nach, die aus dem Gehirn eines jungen Hasen stammt. Vielleicht stutzt er für einen Moment, als er bemerkt, dass sich das Exemplar, das er vor sich hat, von anderen unterscheidet, die er zuvor mit der sogenannten Golgi-Methode angefärbt hatte: Jener Teil, der ein Nervensignal in Form eines elektrischen Impulses an andere Zellen weiterleitet, entspringt nämlich nicht wie sonst am pyramidenförmigen Zellkörper (siehe Abbildung). Er nimmt eine Abkürzung und geht am Zellkörper, dem sogenannten Soma, vorbei.
Es ist nicht das einzige Mal, dass Cajal während des Mikroskopierens auf diese sonderbare Anordnung trifft. „Entgegen der allgemeinen Meinung ist das Soma nicht immer an der Weiterleitung der empfangenen Nervenimpulse beteiligt", schreibt der Pionier der Neurowissenschaften 1937 in seiner Autobiografie. „Das war allerdings reine Spekulation,“ sagt Maren Engelhardt, die das Institut für Anatomie und Zellbiologie an der Johannes Kepler Universität Linz leitet. Caja hätte das damals ja gar nicht messen können.
Engelhardt ist Neuroanatomin und mitverantwortlich dafür, dass Fachleute dieser lange wenig beachteten Art von Nervenzelle jüngst wieder mehr Aufmerksamkeit schenken. Einer nun erschienenen Studie zufolge ist sie an der Übertragung von Gedächtnisspuren ins Langzeitgedächtnis beteiligt. Sie beeinflusst also, wie wir lernen und was wir behalten. Ihre außergewöhnliche Gestalt spielt dabei wohl eine entscheidende Rolle, berichtet das Forscher*innenteam um Alexander Hodapp und Martin Both von der Universität Heidelberg in der Fachzeitschrift Science, bei dem neben dem Labor von Maren Engelhardt auch Neurowissenschaftler*innen der Universität Tübingen mitwirkten.
Der Hippocampus als Ort der Erinnerung
Um sich etwas dauerhaft einprägen zu können, muss das Gehirn zunächst einmal unsere Erfahrungen neuronal abbilden. Daran sind Nervenzellen aus verschiedenen Arealen beteiligt, eine Erinnerung ist schließlich sinnesübergreifend. Für viele Menschen weckt etwa der weihnachtliche Duft von Zimtstangen und getrockneten Orangenscheiben nostalgische Gedanken an die Kindheit. Meistens sind diese auch mit ganz konkreten Orten und Menschen verknüpft.
Der Hippocampus spielt eine wichtige Rolle bei der Verfestigung solcher weit verzweigten Gedächtnisspuren. Er liegt leicht zusammengerollt tief im Inneren des Schläfenlappens auf beiden Seiten des Gehirns und erinnert durch die gekrümmte Form an das namensgebende Seepferdchen. Menschen mit Schädigungen in dieser Region können häufig keine neuen Erinnerungen abspeichern. Trotzdem sind Sie oft in der Lage, Anekdoten aus ihrer Jugend zum Besten zu geben. Wenn Gedächtnisspuren erst einmal gespeichert sind, lassen sie sich auch ohne den Hippocampus wieder abrufen.
Neurowissenschaftler*innen gehen davon aus, dass sich Erinnerungen durch sogenannte Replays, also Wiederholungen, verfestigen und ins Langzeitgedächtnis übertragen werden. In Momenten der Ruhe übt das Gehirn also ein bestimmtes Aktivitätsmuster immer wieder, bis es sich im wahrsten Sinne des Wortes eingeprägt hat. Lernt man beispielsweise nach einem Umzug den neuen Weg zum Supermarkt, werden im Gehirn jene Nervenzellen erneut aktiv, die auf dem Weg zum Einkaufsladen bestimmte Orte markierten. Dafür erzeugt der Hippocampus ein unverkennbares Signal: Zunächst steigt die elektrische Spannung im Umfeld der Nervenzellen rasch an, dann schlägt sie schnelle Wellen, bevor sie wieder auf das Ausgangsniveau abfällt. Wegen des „scharfen“ Anstiegs und dem charakteristischen Zittern, nennt man die Änderung im elektrischen Potential „Sharp-Wave-Ripples“ (das Kräuseln der scharfen Wellen).
Es ist eine Glanzleistung der Koordination: viele Nervenzellen müssen sehr schnell angesteuert und wieder abgeschaltet werden, damit das Wellenmuster entstehen kann. „Wir verstehen aber gar nicht, wie das funktioniert“, sagt Engelhardt. Hier kommen laut den Studienautor*innen die sogenannten „Axon-carrying dendrites“-Neurone (kurz: AcD-Neurone) ins Spiel. Jene Zellen also, bei denen das Empfänger-Dendrit einen direkten Draht zum Sender-Axon hat.
Schon 2014 entdeckte ein Team um Christian Thome, damals noch an der Universität Heidelberg und nun auch an der JKU, dass sich im Hippocampus von Mäusen besonders viele dieser Zellen befinden, also in der Hirnregion, die die Sharp-Wave-Ripples erzeugt. In bestimmten Gebieten traf das auf über die Hälfte der Nervenzellen zu. „Unsere jetzige Studie ist einfach nur die logische Fortsetzung von diesen Experimenten“, sagt Engelhardt. Dabei haben die Wissenschaftler*innen nicht nur die Form der Nervenzellen untersucht, sondern ihnen in Mäusehirnen bei der Arbeit zugesehen. Das Ergebnis: Während der Sharp-Wave-Ripples waren die AcD-Neurone im Vergleich zu herkömmlichen Pyramidenzellen besonders häufig aktiv. Außerdem entluden sie sich in einem mehr als doppelt so schnellen Rhythmus.
Die Forschenden vermuten, dass sie damit herausgefunden haben, wie die Neuronen ausgewählt werden, die etwas zu den Sharp-Wave-Ripples beisteuern können. „Denn während der Oszillationen (Schwingungen, Anm. d. Red.) kommt es immer dazu, dass gewisse Zellen stumm geschaltet werden“, erklärt Engelhardt. Diese Hemmung der Zellkörper spielt etwa eine wichtige Rolle in der Synchronisation der beteiligten Hirnareale. „Die dafür verantwortlichen Interneurone suchen sich aber nicht aus wen sie ansteuern, sondern hemmen einfach die Zellkörper aller Nervenzellen, die sie erreichen“. Weil das Axon von AcD-Zellen direkt am Dendriten anliegt und nicht vom Zellkörper abgeht, könnten diese Neuronen der Hemmung durch Interneurone ausweichen.
Die unerhörte Präzision von Wellen
Eventuell ermöglichen die Pyramidenzellen mit der eingebauten Abkürzung zudem die hohe zeitliche Präzision, auf die es bei dem schnellen Wellensignal im Hippocampus ankommt. Dass der ankommende Impuls nicht erst den Umweg über den Zellkörper machen muss, sondern direkt von einem Zellfortsatz in den anderen abbiegen kann, spart Zeit.
Bislang beschränken sich die Erkenntnisse aber auf Mäuse. Zwar befinden sich die wiederentdeckten Nervenzellen auch im Gehirn von Menschen, wie ein Team um Petra Wahle von der Ruhr-Universität Bochum zeigte, dem auch Engelhardt angehörte. Die menschlichen Gewebeproben stammten allerdings nicht aus dem Hippocampus, in den untersuchten Hirnregionen traten die AcD-Neurone nur selten auf. „Jetzt wollen wir herausfinden, wie das im Hippocampus des Menschen aussieht“, sagt die Neuroanatomin. „Das machen wir zusammen mit den Neurochirurg*innen hier am Campus in Linz“. Bis zur Veröffentlichung dauert es aber noch.
Engelhardt ist von den aktuellen Ergebnisse auch deshalb begeistert, weil sich dazu Expert*innen aus verschiedenen Fachbereichen zusammengetan haben. Während Physiolog*innen meist die Funktion von Dingen untersuchen, beschäftigen sich Anatom*innen mit deren Struktur. Für die Studie trafen beide Welten aufeinander – mit Erfolg: „Diese Daten ordnen vielleicht zum ersten Mal Zellen ganz bestimmte Funktionen während der Ripples zu, die aber nicht aufgrund physikalischer Eigenschaften dieser Zellen existieren, sondern wegen ihrer Form“, so die Neurobiologin.
Die Form seiner Forschungsobjekte war auch der Ausgangspunkt für die Arbeit von Ramón y Cajal. Der Spanier war vor allem auf der Suche nach ihren Grenzen, denn im 19. Jahrhundert herrschte ein erbitterter Streit zwischen den großen Namen der Medizin: Ausgerechnet der Erfinder der Färbemethode mit der Cajal arbeitete, der Italiener Camillo Golgi, war sein ausgemachter Widersacher. Nicht zuletzt, weil er davon überzeugt war, dass das Gehirn einem riesigen Spinnennetz ähnelt und nicht aus voneinander getrennten Zellen zusammengesetzt sein kann. Ironie des Schicksals, dass sich die beiden Herren 1906 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin teilen mussten. Denn mit seinen akribischen Tuschezeichnungen entwarf Cajal die Grundlage für eine andere Sichtweise: der sogenannten „Neuronen Doktrin“. Für einen eindeutigen Beweis reichte der Zoom seines „exzellenten Zeiss Modells“, wie er es bezeichnete, dann aber doch nicht mehr aus. Erst mit der Entwicklung des Elektronenmikroskops wurde endgültig klar, dass sich im Gehirn unvorstellbar viele individuelle Neurone tummeln – und keines gleicht dem anderen.