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Die blaue Ökologie
 

Warum der Ökologismus allen Unkenrufen zum Trotz unsere Zukunft bestimmen wird. Ein Essay von Zukunftsforscher MATTHIAS HORX.

Von Matthias Horx

Grafik: istock
Grafik: istock

„Wenn man die Natur verletzt und die Wunde betrachtet, dann entstehen Metaphern, die hinüberreichen in eine andere Welt.“  ERWIN SCHRÖDINGER 

In den 1990er Jahren entwickelte der Physiker Per Bak die These, dass das Gehirn aus einem Zustand namens Kritikalität seine erstaunlichen Fähigkeiten bezieht. Kritikalität beschreibt Systeme, die zwischen Ordnung und Chaos oszillieren. Wenn man zum Beispiel einen Haufen mit Reiskörnern auftürmt, kann an bestimmten kritischen Punkten ein einziges Korn die Struktur des ganzen Haufens verändern. Ähnliche Gesetze gelten für Erdbeben, Klimaumschwünge, politische Mehrheiten. Oder für die Dynamik der Liebe. Plötzlich kann alles ganz anders sein!

Könnte sich das Gesellschaftliche ähnlich „kritikal“ verhalten wie das menschliche Gehirn? So scheint es, wenn wir den seltsamen Umschwung betrachten, den „das Ökologische“ seit einiger Zeit erlebt. Wer bis vor Kurzem auf einer Talkshow Gesetze zur CO2-Reduzierung forderte oder gar Elektroautos gut fand, wurde höchstens mitleidig belächelt, wenn nicht in Grund und Boden gestampft. Politiker profilierten sich gerne mit wuchtigem antigrünem Zynismus. Ökologie galt als eine Art Punching-Ball, an dem man sich umstandslos „abputzen“ konnte; allesamt Fortschrittsfeinde mit Hang zu Zwangs-Veganisierung und Gender- Wahn.

Wie sich die Dinge doch ändern können! Selbst die Kabarettisten greifen nur noch selten zur gehässigen Müsli- und Veganer-Pointe. Lag es an der steilen Karriere von Greta Thunberg, der über Nacht die Aura einer Erlösungsfigur zugeschrieben wurde? Lag es an den besonders heißen Sommern 2018/19? Oder brauchten die Medien wieder einmal ein neues Schreckens-Thema nach der Ausländerfurcht, die „Klimakatastrophe“ eben? Vielleicht kam alles zusammen, aber dazwischen liegt eben auch viel mehr. In der plötzlichen Renaissance des Ökologischen wurde ein „Tipping Point“ sichtbar – eine latente Kritikalität, die jetzt zum Kippen kommt. Etwas bewegt sich in den Tiefenschichten der Gesellschaft, die vom allgegenwärtigen Hass- und Shitstorm-Lärm die Nase voll hat. Dass plötzlich die „Flugscham“ ein Thema wurde (auch wenn derzeit noch nicht weniger geflogen wird), dass ganz normale Mittelschicht-Menschen sich in einer neuen Ernsthaftigkeit mit Plastiktüten oder ihrem Fleischkonsum beschäftigen, ist Anzeichen für etwas Größeres. Ein fundamentaler Paradigmenwechsel, ein MIND SHIFT, wie er in der Menschheitsgeschichte immer wieder vorgekommen ist, kündigt sich an.

Die kritische Masse

Die Ursprünge des Ökologismus lassen sich bis in die Naturromantik des späten 18. Jahrhunderts zurückverfolgen, als die ersten Dampfmaschinen das Industriezeitalter ankündigten. „Alles ist Wechselwirkung“, formulierte schon Alexander von Humboldt, der soeben eine kräftige Renaissance erlebt. Ihre erste Wirksamkeit entfaltete die ökologische Bewegung auf dem Zenit des expansiven westlichen Industrialismus – in der spontanen Blüte der Hippie- und Alternativbewegung der 1960er und 1970er Jahre. Allerdings transportierte das Ökologische lange Zeit etwas durch und durch Düsteres, rein Negatives. Die Mahner und Warner des Club of Rome waren moralisierende Apokalyptiker, die enorme Aufmerksamkeit, aber kaum Wirkung erzeugten. Dieser apokalyptische Grundton verstärkte sich durch die Atomkatastrophe von Tschernobyl, die dem grünen Protest auf fatale Weise recht gab, nämlich ausschließlich im Sinne der Angst. Nach dem Desaster von Fukushima konnte man die Atomenergie (weitgehend) opfern, ohne dass die ökologische Idee weiter Fuß fasste. Doch die grünen Ideen wurden von einem dynamischen Ökonomismus überlagert, der schließlich in den digitalen Mythos überging, der bis heute – oder bis vor Kurzem – das Terrain der Zukunft besetzte.

Damit sich das Ökologische aus seinem Abseits befreien konnte, waren mehrere Umcodierungen nötig, die in den letzten Jahren nahezu unsichtbar stattfanden – hinter den Kulissen des populistischen Lärms:

• Grünes Gedankengut sickerte graduell in die Mittelschichten hinein. Vieles daran verlief entlang von Fragen der Kindererziehung, der Ernährung, der Naturerfahrung, die man in den Kindern wiederentdecken wollte. Ökologie wurde zu einer Frage des Lifestyles, der Gesundheit, der Sehnsucht nach Heilung und Lebensqualität.

• Gleichzeitig diffundierte das Ökologische in die Konsummärkte. Mütter und junge Familien machten die Biomärkte groß, Veganismus ist heute ein schnell wachsender Großstadt-Markt, und selbst in den schlimmsten Discountern sind heute BIO und REGIONAL große Umsatzbringer. Nun findet hier echte Innovation statt: Die Fleischersatzfirma „Beyond Meat“ lieferte einen der ersten spektakulären Börsengänge jenseits der Computerbranche.

• Drittens fand innerhalb der grünen Bewegung ein Diskurswandel statt. Symbolisch dafür stand die Wahl von Robert Habeck und Annalena Baerbock zu den Parteivorsitzenden in Deutschland. Sie verkörpern einen postideologischen, positivistisch-pragmatischen, konstruktiven Politikstil. „Den neuen Grünen gelingt es, Denkungsarten unterschiedlicher Systeme miteinander zu verkoppeln, um Lösungen für Probleme zu finden“, formulierte der Soziologe Armin Nassehi. Grüne Politik tastet sich mit solchen Rekombinationen in einen neuen Raum vor, erzählt eine „Third Story“ jenseits der alten Links-rechts-Logik.

Die Erreichung des grünen Tipping Points lässt sich jedoch nicht ohne die aktuelle Systemkrise des Industrialismus verstehen. Banken, Energieversorger, Flugindustrie, Autos, Pharma, Nahrungsmittelindustrie, Modebranche, Medien – praktisch alle Branchen sind an unsichtbare Grenzen des „Immer mehr“ gestoßen, jener ständigen Effizienzsteigerungslogik, die auf Dauer die Märkte zerstört. Die Wende markierte der Dieselskandal, der stellvertretend für eine „verklemmte“ Kultur der Vermeidung echten Wandels stand. Jetzt aber wird es plötzlich ernst:

• Der CEO des mächtigen Volkswagen-Konzerns hat sich zu einer radikalen CO2-Wende der Autoindustrie bekannt. Die neuen E-Produktreihen von Volkswagen versprechen Modularität, neue Nutzungskonzepte und KOMPLETTE CO2-Freiheit – auch entlang der Produktionskette.

• Der Modekonzern ZARA will ALLE seine Textilprodukte bis 2025 nachhaltig machen. • Lego hat angekündigt, seine Steine bis 2030 komplett aus nachwachsenden Rohstoffen zu produzieren,

• Der Meister der Wegwerfprodukte, Ikea, entwickelt neue Möbel-Sharing-Produkte und Recycling-Projekte.

• Sogar Harley-Davidson (!) produziert inzwischen Elektro-Motorräder!

• KLM fragt seine Kunden beim Buchen, ob sie wirklich diese Strecke fliegen müssen – und wenn, ob sie wenigstens nicht die CO2-Anteile ausgleichen möchten.

• Der größte Kohleproduzent des pazifischen Raumes, der australische Großkonzern BHP, hat ein klares Bekenntnis zur konsequenten Reduzierung von CO2 übernommen. Andrew Mackenzie bekannte sich zur Verantwortung seiner Firma für Global Warming und versprach, das Unternehmen konsequent umzusteuern.

Und so weiter, die Liste der Bekennungen für ein anderes Geschäftsmodell ist endlos. Natürlich ist es leicht, das alles wieder als simples Greenwashing zu denunzieren. Aber es geht weit über die übliche Nachhaltigkeitsrhetorik hinaus. Es handelt sich um Kernversprechen, die nur um den Preis des totalen Vertrauensverlustes revidiert werden könnten. Die „Stakes“ sind gesetzt: Große Fonds, Firmen, Banken, immer mehr Regierungen deinvestieren inzwischen den fossilen Sektor. Das Ökologische greift auf die Ökonomie über. An der Front des Ökologischen wird die Machtfrage gestellt. Und eigentlich ist sie längst entschieden. Trotz, nein gerade wegen Trump.

Der Mythos der Zukunft

Aber wie können wir sicher sein, dass das Phänomen von Dauer ist? „Warten wir doch einfach ab, bis die Klimahysterie wieder abebbt!“, empfahl Stefan Aust in einem Kommentar der Zeitung DIE WELT in der üblichen herablassenden Weise. Erzeugt die grüne Wende nicht eine gesellschaftliche Spaltung zwischen „elitären Städtern“ und „altindustrieabhängigen Unterklassen“, „Anywheres“ und „Somewheres“, wie es etwa der englische Soziologe David Gotthard postuliert? Haben nicht die „gilet jeunes“, die französischen Gelbwesten, ein für alle Mal die Unmöglichkeit von ökologischen Reformen bewiesen?

Vielleicht gaukelt unser medien- und polarisierungsgeiles Hirn das auch nur vor. Epochaler Wandel ist in der Menschheitsgeschichte immer nach einem Muster von Rekursion und Gegenwehr verlaufen. Immer, wenn neue Codierungen, neue MEME eine kritische Masse erreichen, vermehrt sich die negative Konfliktbereitschaft. Vor dem Phasensprung entsteht Übergangs-Chaos. Das war in der christlichen Transformation der Antike so, im Übergang vom Mittelalter zu Neuzeit, auch im Entstehen der Industriemoderne im frühen 20. Jahrhundert: Je stärker der Wandel, desto größer die Turbulenz. Doch gerade IN diesem Widerstand, in der reaktionären Rück-Wendung hin zu angeblichen früheren goldenen Zeiten wird der Raum frei für einen neuen Mythos.

Meme sind, im Unterschied zu den Genen, die die biologische Reproduktion steuern, Kulturmuster, Denkweisen, MINDSETS, mit denen sich Gesellschaften selbst konstruieren und in die Zukunft steuern. Meme sind Denkmuster, die selbst einer Evolution unterliegen – sie wandeln und verwandeln sich in der Kultur, der lebendigen Kommunikation von Menschen. Das Internet ist eine gigantische Mem-Maschine, die den neuronalen Raum des Menschen erweitert und gleichzeitig beschleunigt.

Das Narrativ des industriellen Fortschritts war ein Groß-Mem, das mehr als ein Jahrhundert die historische Entwicklung steuerte. Politik, Wirtschaft, Kultur, Technik, selbst die Zivilgesellschaft waren von der Idee der Maschinen-Beschleunigung, des permanenten Güterwachstums durchdrungen. Anders als industriell konnte man gar nicht denken: Alles musste Wachstum sein, Beschleunigung, Vermehrung, Vervielfältigung. Heute hat diese Utopie, dieses fundamentale Weltbild, zumindest in unserem Teil des Planeten an Kraft verloren. Industrieller Fortschritt produziert, neben CO2, weitgehend nur noch Leere und Verwirrung.

Damit ein neues historisches Mem ein altes ersetzen kann, braucht es in seinem Kern einen Mythos, der auf eine höhere Bezugsebene verweist. Um in der Sprache der Videospiele zu sprechen: Es geht um „Level-up“, um ein „upgrading“ der menschlichen Verbindungen. Alle menschliche Geschichte, von der Urhorde bis zur vernetzten globalen Kultur, ist eine Geschichte der Ausweitung von Zugehörigkeiten, die in nächsten Schritten zu neuen Kooperationsformen führten. Millionen von Jahren sind Menschen diesen aufsteigenden Pfad gegangen, von der Urhorde über die Bildung von Stämmen und die Gründung von Stadtstaaten bis zur planetaren Zivilisation, wie sie sich heute langsam und unter Schmerzen formt. Edward O. Wilson, der große Evolutionsbiologe, erklärt diesen Komplexitätsdrang der humanen Kultur mit der Logik der biologischen Evolution:

“In each major transition of evolution, altruism at a lower level of biological organization is needed to reach the one above, as in cell to organism and organism to society. The dilemma, which at first seems paradoxical, is in fact susceptible to explanation by evolution through natural selection.” (Wilson, Genesis, S. 45)

Epochenwechsel geschehen, wenn latente Meme in einer veränderten Umwelt anfangen, SINN ZU ERGEBEN. Weil sie versprechen, drängende Probleme, Knappheiten zu lösen, die in der vorher dominanten Ebene entstanden sind. Ökologie macht genau das: Sie produziert den Sinn eines größeren Zusammenhanges, eines neuen Win-win-Spiels, das die Verluste reduzieren kann, die die industrielle Revolution verursachte.

Ökologie bietet politisch eine weltbürgerliche Komponente und schließt damit an die Matrix des Humanismus an, der in der vergangenen Epoche die Ideale prägte. Ökologie findet Anschlüsse an religiöse Muster durch ein „spirituelles“ Verhältnis zur Natur. Sie formuliert ein neues Wohlstandsnarrativ, das uns von den Nöten und Exzessen einer industriellen Lebensweise befreien möchte, die uns schon rein körperlich krank macht. Statt in Kausalitäten und linearen Funktionalitäten denkt das Ökologische in „Multiplen“, in Wechselwirkungen und Systemen. So bietet es einen kompletten MINDSET zur Bewältigung der vernetzt-globalen Realität, in der wir uns heute bewegen.

Obwohl man leicht populistische Energien gegen die Ökologie mobilisieren kann – Hass ist die billigste Ressource unserer Zeit, noch billiger als Öl –, wird dieser Versuch letztlich scheitern. Es ist kein Zufall, dass die bayerische CSU plötzlich von der Grünenverachter-Partei zur Bienen- Lobby mutiert. Gerade das Traditionelle, Bodenständige, Regionale ist auf die ökologische Idee existenziell angewiesen – hier verbindet sich der Konservativismus untrennbar mit dem grünen Impuls. Auch die Spaltung zwischen Stadt und Land ist am Ende eine künstliche. Ökologische Denkweisen finden sich gleichermaßen IN UND AUSSERHALB der großen Ballungsgebiete, jeweils mit anderen Färbungen, aber letzten Endes im selben Sinn-Universum. Wir sprechen in der Trendsprache von der „progressiven Provinz“ oder vom „urban greening“ oder auch der Rückkehr der Dörfer in die Stadt.

Von der grünen zur blauen Ökologie

Vor einem guten Halbjahrhundert richtete an Bord der ersten Apollo-Kapsel, die den Mond umkreiste, ein US-amerikanischer Astronaut seine Hasselblad-Kamera auf die Erde. Eher zufällig entstand so eines der ikonografischsten Bilder der Geschichte: „Earthrise“, das Foto unseres blauen Heimatplaneten, der einsam und strahlend im All treibt. Das war der Beginn eines neuen, universellen Heimatgefühls.

„Macht Raumfahrt links?“, fragte DIE ZEIT im Februar 2019 in einem Essay. Damit meinte sie sicher nicht das „Links“ der alten Schule – klassische Linke wollen das Geld für Weltraumfahrt lieber für soziale Zwecke ausgeben. Es ging eher um die Erkenntnis, dass die tiefe Erfahrung des großen Ganzen immer eine geistige Progressivität auslöst – einen Zukunfts- Drift, eine Sehnsucht in Richtung auf die höhere Komplexität. Damit der ökologische Code den alten industriellen MINDSET allerdings wirklich ablösen kann, wird er selbst einige Wandlungen durchlaufen müssen. Diese Entwicklung nenne ich den Shift von der GRÜNEN zur BLAUEN ÖKOLOGIE. Blau ist die Farbe der Erdatmosphäre im All. Blau ist auch die Symbolfarbe des Universalismus, eines ganzheitlichen Denkens.

Die alte, die GRÜNE Ökologie basiert auf einer Spaltung zwischen menschlicher und natureller Ontologie. Da ist auf der einen Seite die heile, ja heilige Natur. Auf der anderen Seite der Mensch, der ewige Verbraucher, der Schädling, der unaufhörlich Schadstoffe verbreitet, Harmonien zerstört. Natur bildet in dieser Sichtweise ein FIXUM, eine starre Grenze menschlicher Aktivität. Technologie ist ein Feind, der zu bekämpfen ist, und eigentlich ist der Mensch ein Störer, ein ewig Schuldbeladener – durch seine pure Existenz. In einem solchen Denken wohnt jedoch zwangsläufig der Terror, die Herrschaft der Angst. Es arbeitet prinzipiell mit Metaphern der Negation, mit Untergangsphantasien, die auf der Idee des „Nicht genug“ basieren. Knappheitsdenken führt zwangsläufig zu Verteilungskämpfen und Kulturkriegen. Wer definiert die Grenzen? Wer die „Zuteilungen“ des knappen Gutes NATUR? Wie man am „Antinatalismus“ sehen kann, der unlängst wieder aufkommenden Idee, jedes Kind würde den Planeten „nur noch mehr verseuchen“, entstehen dadurch menschenfeindliche Strömungen. „Der Mensch ist doch nur ein Ungeziefer am Planeten, er wird bald verschwinden, und das ist gut so!“ Solche Äußerungen des Selbsthasses finden sich in den Kommentarspalten des Internets millionenfach gleich unter dem Ausländerhass.

Nehmen wir etwa das Beispiel Holland. Im alten, grünen Ökologie-Verständnis müssten wir dieses Land dem Meer zurückgeben, denn mehr als die Hälfte liegt unter dem Meeresspiegel. Holland ist „unnatürlich“ – weg damit! Die holländischen Gewächshäuser müssten allesamt abgerissen werden, denn in ihnen herrscht das „Künstliche“: Tomaten – und vieles mehr – werden in unfassbar effizienter Weise produziert. Was aber, wenn sich die Gewächshäuser zunehmend von Wind und Sonne mit Energie selbst versorgen? Wenn Hummeln die Bestäubung übernehmen, wenn keine Insektizide verwendet werden müssen und auch keine Unkrautvernichtungsmittel und das Ganze CO2-frei wird? Und wenn dann die Tomaten sogar noch schmecken ...??!!

Erst die BLAUE Ökologie – die planetare Hightech-Ökologie der Zukunft – verbindet das Ökologische mit dem Humanen. Blaue Ökologie will den Autonomievorteil, den Menschen durch Technik und Industrie gewonnen haben, nicht abschaffen, sondern moderieren und erweitern. Ja, wir nutzen Technologien, um unsere unmittelbare Abhängigkeit von der Natur zu verringern – eine Abhängigkeit, an der unsere Vorfahren zu Abermillionen starben und litten. Natur ist nicht friedlich, harmonisch oder gar gütig. Sie ist auch nicht „grausam“ – all das sind menschliche Zuschreibungen. Sie IST einfach. Blaue Ökologie ist jene Ökologie, die eine neue Synthese zwischen Mensch, Natur UND Technik ermöglicht. Und damit Freiheit erweitert und das Mensch-Natur-Paradox auf höherer Ebene vereint.

Erst durch die Ökologie der Fülle, des Mehrals- genug, werden wir die Global-Warming- Krise überwinden. In intelligenten Systemen ist genug für alle da! Auf diese Weise lässt sich auch der siechen Utopie des Digitalen neues Leben einhauchen: Digitalisierung kann im Rahmen von Hightech-Ökologien eine entscheidende Rolle spielen. Nicht mehr im Sinne blindwütiger Effizienz, sondern immer effektiverer, sprich intelligent verschränkter Stoffund Energiekreisläufe.

Intelligente Verschwendung

Angenommen, wir würden im Jahr 2050 tatsächlich in einer weitgehend CO2-eintragsfreien Welt aufwachen. Die atmosphärischen CO2-Level würden sogar wieder leicht zurückgehen. Was hätte sich geändert? Wie wären wir dort hingekommen?

Seit Jahrzehnten schon haben die erneuerbaren Energien, die inzwischen eine atemberaubende Innovationsphase hinter sich haben, den Strom so verbilligt, dass Elektronen fast kostenlos so gut wie überall in Fülle vorhanden sind – für den Verkehr ebenso wie für die Produktion. Deutlich sichtbar sind die Anzeichen einer Wasserstoff-Infrastruktur, in der uns so gut wie grenzenlos gespeicherte Sonnenenergie zur Verfügung steht. In dieser Cradle- to-Cradle-Welt, die jeden produzierten Gegenstand von vornherein als Wieder-Rohstoff definiert, wird eine Naturkooperation sichtbar, die nicht mehr nur „ausbeuten“ und „extrahieren“ muss. Seit Langem gelingt es auch im industriellen Maßstab, aus dem CO2, jenem Problemstoff in der Atmosphäre, der beim Verbrennen komplexer fossiler Moleküle entsteht, NEUE komplexe Moleküle zu bauen – Treibstoffe, Carbon-Fasern (für die Leichtbaufahrzeuge), Nano-Röhrchen mit hoher Festigkeit, ja sogar Nahrungsmittel (siehe SOLARIFY. eu). So ist eine „alchemische Industrie“ entstanden, deren Verfahren sich immer mehr naturellen Prozessen annähert. Neue Städte produzieren mehr Energie, als sie verbrauchen. „Blaue“ Landwirtschaft muss den Boden nicht ausbeuten, sie kann ihn sogar anreichern. Ein Drittel der Lebensmittelproduktion findet in Städten statt. Und so weiter.

In der blauen Ökologie begeben wir uns nicht in eine Unterwerfungsposition, sondern in eine wahrhaftige BEZIEHUNG zur Natur. Der Sozialphilosoph Hartmut Rosa formuliert das wie folgt:

„Der Moderne erscheint die umgebende Natur als eine zu gestaltende Welt, als Ressource und Gestaltungsobjekt. In dieser Art der Begegnung erfahren sich moderne Subjekte der Natur gegenüber als immer mächtiger werdende Täter – und in den dadurch verursachten Naturkatastrophen (etwa nuklearer Art) als immer hilflosere Opfer. Als solche ‚Opfer‘ nehmen sie sich auch dort wahr, wo sie feststellen, dass ‚die Natur‘ in ihnen selbst wirkt und physische oder psychische Prozesse steuert, die sich der Verfügbarkeit entziehen. Demgegenüber wäre ein mediopassives Naturverhältnis eines, in dem menschliche Akteure mit dem, was sie als Natur erfahren, in einem anhaltenden, dynamischen Antwortverhältnis verbunden sind: Sie formen es, und sie werden durch es geformt – so, dass sich das Wesentliche in einem fortwährenden Austauschprozess dazwischen ereignet. An die Stelle der Haltung des Beherrschens und Nutzens träte eine Haltung des Hörens und Antwortens, die eben nicht meint: Höre auf die Natur und folge ihr, sondern die auf eine eigenständige Antwort auf das Gehörte vertraut.“ (Ohnmacht. Was muss sich ändern?, „Die ZEIT“ 11. 7. 2019)

Was sich vor allem verändert hätte, wäre der geistige, mentale Umgang mit der Zukunft. Das unendliche Fürchten und Apokalyptisieren, das heute jeden Zukunftsdiskurs durchzieht und in die Knie zwingt, das ewige Arbeiten- am-Problem, das uns immer nur aufzeigt, warum es NICHT geht, wäre weitgehend verschwunden. All die Hasspolemik, die Schuldzuweisungen wären einfach nicht mehr attraktiv. Das stellt die Frage an unsere heutige Welt zurück: Tanzen wir, oder jammern wir? Suhlen wir uns in apokalyptischem Spießertum, das sich komfortabel in Untergangsfantasien einrichtet, oder lassen wir uns auf eine echte Verbindung zur Zukunft ein?

Wahrscheinlich konnte nur eine Halbautistin wie Greta Thunberg diese Fragen in voller Klarheit stellen.

Auch das ist übrigens ein typisches Anzeichen eines großen, historischen Wandels: Pünktlich zum Tipping Point erscheint scheinbar aus dem Nichts eine Person oder mehrere symbolische Menschen, in deren Leben und Tun sich der Wandel symbolisiert, in dem wir uns längst zutiefst befinden.