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Die Fiktion des Wir

1989 hat die liberale Demokratie zur globalen Herrschaftsform gemacht. Die Welt wurde eins, es entstand ein erhabenes Wir-Gefühl. Damit ist es vorbei. Gedanken nach der Zeitenwende.

Von Martin Meyer

Cover

Als der amerikanische Politologe Francis Fukuyama kurz nach dem großen weltpolitischen Umbruch von 1989 seine Theorie vom Ende der Geschichte präsentierte, was letztlich nichts anderes meinen sollte, als dass der Sieg der liberalen Demokratie als Herrschaftsform globalen Stils unausweichlich werde, erfüllte dieser Befund ein breites Publikum mit Ehrfurcht und Zuversicht. Endlich, so dachte man. Der totalitäre Widersacher mit Sitz in Moskau war in die Knie gegangen, die Freiheit schwebte auch über den Türmen und Zinnen des Kremls. Ein erhabenes Wir-Gefühl machte sich breit, und umso mehr, als auch die Berliner Mauer gefallen war, die über Jahrzehnte hinweg zum Inbegriff der Repression geworden war.

Wir-Gefühle sind wichtig. Sie sprechen aus, was viele, in letzter Konsequenz sogar die Menschheit, betrifft. Dasselbe gilt für die Sprache, in der wir mit unserem Wir großzügig umgehen und möglichst viele adressieren wollen. Ist es nicht berechtigt, dass «wir» eine Welt des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands wollen? Ist es nicht legitim, darauf zu hoffen, dass „wir" dereinst, doch im Prinzip immer schneller, zu einer globalen Gemeinschaft zusammenwachsen, die „uns" dazu befähigt, alle dringlichen Probleme, vom Klimawandel über die geopolitischen Rivalitäten bis zum Anerkennungsverkehr zwischen den diversen Geschlechtern, lösen zu können?

Es ist eben nicht einfach Achtlosigkeit, die uns beflügelt, wenn wir im Wir-Ton kommunizieren; auch dann nicht, wenn dieses Wir bei wachsenden Distanzen zwischen den angesprochenen Individuen und Gruppen zunehmend abstrakt wird. Vielmehr verstehen wir uns dabei als Gattung oder als die Geschöpfe des Herrn oder wenigstens als moralisch mündige Zeitgenossen, die stolz darauf sind, zusammenzugehören. Aristoteles nannte uns deshalb das Zoon politikon; das Lebewesen in der Gemeinschaft der Polis.

Fukuyama extrapolierte diese griechische Polis, die übrigens alles andere als ein harmonischer Verbund von Gleichen war, in die Richtung einer weltgeschichtlichen Entwicklung. Das Ende der Geschichte, so seine aus dem Zusammenbruch der osteuropäischen Diktaturen gezogene Beobachtung oder Theorie, wäre nunmehr nichts anderes als ein Zustand, den schon Kant in seiner Vision vom ewigen Frieden herbeigewünscht hatte.

Bekanntlich ist es anders gekommen. Der Einmarsch von Putins Truppen in die Ukraine, am 24. Februar dieses Jahres gegen fast alle Prophezeiungen westlicher Expert*innen mit großer Brutalität auf den Weg gebracht, hat auch endgültig die Illusion zerstört, dass Europa eine längst gefestigte Friedensordnung erreicht habe, die solche Atavismen wie einen Angriffskrieg gegen einen souveränen Nachbarstaat schlicht nicht mehr zulassen könne. Das Ganze, so dachte man dann nicht zu Unrecht bis heute, sei eigentlich ein historisches Unding, eine Monstrosität von der Beschaffenheit eines Albtraums, der in den Programmen der modernen Realitäten keine Daseinsberechtigung mehr hatte.

Das russische Gegen-Wir
Nun aber war das russische Wir, dem sowohl Gerhard Schröder wie dessen Nachfolgerin Angela Merkel über viele Jahre geduldig hofiert hatten, plötzlich zum Gegen-Wir geworden. Über Nacht waren alle Pläne, Positionen und Programme, die von gemeinsamen Überzeugungen im europäischen Haus gehandelt hatten, zur Makulatur geworden. Es war ein böses Erwachen. Vor allem auch deshalb, weil man sich in eine Wir-Seligkeit begeben hatte, die etwas anderes als brüderliche Verständigungen gar nicht mehr zugelassen haben sollte.

Interessant ist, dass daraus ein wiederum neues Gegen-Wir entstand: eine Koalition von Willigen unter Führung der Vereinigten Staaten, die überraschend schnell gegen den Tyrannen im Kreml mobil zu machen begann, woran sich bis zur Drucklegung dieses Texts noch nichts geändert hat. Dass sich auch innerhalb dieser Achse des Guten da und dort ein internes Gegen-Wir zu formieren begann, das insbesondere in Deutschland um sich griff, konnte nicht wirklich überraschen. Putin-Versteher*innen von Sahra Wagenknecht bis zur AfD sowie Intellektuelle von Alice Schwarzer bis zu Richard David Precht erhoben den Finger, bewirtschafteten ihre Wichtigkeit und fühlten sich stark.

Auch diese Warner*innen oder eher: Profiteure von Aufmerksamkeit rekurrierten auf ein Wir. Das Wir implizierte oft nicht nur sie selbst und ihre Peer Groups, sondern eigentlich alle verständigen Menschen, die sich zum eigenen Vorteil von den Gründen der Gegner*innen der unbedingten Unterstützung der Ukraine überzeugen lassen sollten. Wir, so könnte man zwecks Veranschaulichung der Vorgänge formulieren, möchten uns doch bitte nicht den USA und ihren hegemonialen Ansprüchen im Verbund mit dem langen Arm der Nato wieder beugen.

Als dann auch noch der Philosoph Jürgen Habermas, der Übergroßväter aller aufgeklärt deliberierenden Wohlstandsgebildeten, das Wort ergriff, um vor einem stärkeren militärischen Engagement seiner Landsleute zu warnen, hatte ein zusätzliches Wir seinen Ritterschlag erhalten. Es war vermeintlich das Wir der schieren Vernunft und natürlich auch des Eingedenkens dessen, was die Deutschen bis 1945 an Schuld durch Krieg und Vernichtung auf sich geladen hatten, das natürlich auch deshalb das allerbeste Wir sein sollte, weil es aus dem herrschaftsfrei argumentativen Diskurs gekeltert war.

Die Lektion des Politischen
Inzwischen lernen wir etwas anderes. Ich würde diese Lektion als die Rückkehr des Politischen bezeichnen. Diese tritt so unverstellt zutage, wie es in Carl Schmitts berühmter Formel von der Unterscheidung in Freund und Feind beschrieben worden ist: als ein starker oder sogar äußerster Grad von Dissoziation zwischen dem einen und dem anderen, die, und das ist die Pointe, so gegensätzliche Interessen verfolgen, dass sich das weltumarmende Wir-Bewusstsein, von dem wir eingangs gesprochen haben, verstört zurückzieht. Es ist funktionslos geworden.

Das Welt-Wir, das sich übrigens immer noch recht erfolgreich in den Debatten um das Klima bemerkbar macht, während auch da massenhaft Illusionen produziert werden, dieses Welt-Wir, über lange Zeit eine bequeme, weil schwer zu falsifizierende Formel der Inklusion, ist implodiert. Was bleibt, sind Teilmengen, Fraktionen, Splittergruppen, friedenskompatible Wohngemeinschaften oder auch glückliche Ehen, die allesamt auch weiterhin vom Wir sprechen, wobei die Handlungskraft häufig bloß um die nächste Ecke reicht.

Die Europäische Union war und ist natürlich ein monumentales Wir-Projekt, und unter dem Druck des Kriegs gegen die Ukraine hat es wieder an Fahrt gewonnen. Aber unter dem Deckel brodelt es, der Gründe sind viele, und wenn Frau Meloni, die ihre forsche Gangart noch nicht sublimiert hat, vom europäischen Wir spricht, denkt sie an den finanziellen Zustupf, dessen das gebeutelte Land so dringend bedarf, weshalb sie eigentlich nur für Italien spricht – und für ihre Koalition und, wenn man zynisch sein wollte, vor allem auch für sich selbst. – Da war die Queen doch ehrlicher. Ihr «Wir» galt der Krone und durch diese auch dem Land, doch sie sagte es jeweils so, dass der feine Rest von Ironie auch die Fragilität des Amtes und seiner Würde mit einem Lächeln verzierte.

Ja, wir brauchen das Wir, wir moralischen Menschen. Nur sollten wir uns bewusst werden, dass der Zauberspruch zusehends beschränkte Wirkung erzeugt und am Ende sogar gefährlich, ja brandgefährlich werden kann. Wenn nämlich einer wie Putin anno dazumal auf dem Wir insistierte, was Frau Merkel und der Kollege Steinmeier ungefragt auch auf sich selber zu beziehen wussten, während der Tyrann etwas ganz anderes meinte, nämlich das kalte Ich, war die Täuschung bereits perfekt.

Insofern ist der Lernprozess über Glanz und Elend des ersten Pronomens Pluralis erst zaghaft in Gang gekommen. Aber wir bleiben darin hoffentlich nicht stehen, was ja wirklich dumm wäre.