COVID-19 hat gezeigt, wie unerwartet schnell die gesellschaftliche Normalität dystopische Züge annehmen kann, sei es die Staatskontrolle in China, sei es die zur Schau gestellte Verantwortungslosigkeit eines Trump oder Bolsonaro, aber auch in Europa. Mehr als zehn Jahre Austerität nach der Finanzkrise haben den Gesundheitssektor an Grenzen gebracht, an denen die Triage über selektives Überleben entscheiden sollte. Der wirtschaftliche Shutdown hat nicht nur Dividenden, sondern Existenzen einbrechen lassen. Der soziale Shutdown hat gezeigt, dass dem Beziehungswesen Mensch die digitale Welt allein nicht genügt und wie schnell demokratische Formen politischer Willensbildung gefährdet sind, wenn Machthaber* innen die Ungunst der Stunde zu weiterer Selbstermächtigung nutzen. Der kulturelle Shutdown hat nonkonformistische Künstler*innen, die nicht von der „Kulturindustrie“ (Adorno/ Horkheimer) leben, besonders getroffen. COVID-19 hat eine Idee davon vermittelt, auf welche Zivilisationskrisen sich die Gesellschaft zu bewegt, wie sozial, politisch, kulturell arm sie sein wird, wenn sie nicht umdenkt. Ein im Wortsinn radikales, an die Wurzeln des Übels heranreichendes Umdenken ist erforderlich.
Die Pandemie und weitere sozial-ökologische Gefährdungen wie der Klimawandel hängen engstens mit dem wirtschaftlichen Raubbau an den Lebensgrundlagen der Menschheit zusammen. Dieser Raubbau hat mit dem Industriekapitalismus begonnen und gefährdet im Finanzmarktkapitalismus das Überleben. Weder lassen sich Katastrophen wissenschaftlich-technologisch beherrschen, wie das moderne Fortschrittsdenken immer wieder glauben machen will, noch sind die finanzmarktkapitalistischen Wachstumsimperative mit einer nachhaltigen Lebensweise vereinbar.
Zeiten großer Wirtschaftskrisen – und nicht nur die Länder Europas sind bereits mittendrin – waren immer auch Zeiten verschärfter sozialer Ungleichheiten und tiefgehender gesellschaftlicher Spaltungen, die der Demokratie an die Substanz gegangen sind. Sie fordern zur Auseinandersetzung heraus, wie gewirtschaftet und gelebt werden kann und soll. In der Gegenwartsgesellschaft gibt es zahlreiche „reale Utopien“ (Wright) solidarischen Zusammenlebens, sozial- ökologisch nachhaltigen Wirtschaftens und deliberativer politischer Willensbildung. Sie tangieren die „kleinen Fragen“ des Alltags – vom öffentlichen Nahverkehr bis zum Mehrgenerationenhaus – ebenso wie die „großen Fragen“ von industriellem Umbau, Wirtschaftsdemokratie und Sozialstaatsentwicklung. Es geht mir nicht darum, welche Wege hier beschritten werden können und sollen, aber die Gesellschaft ist gefordert, sich damit zu befassen, bevor die Dystopie mehr und mehr zur Realität wird. Margaret Thatchers berühmter Satz in Sachen Wirtschaftsliberalismus passt, wenn die Menschheit überleben will, besser für sein Gegenteil, die Utopie einer solidarischen Gesellschaft: There is no alternative.