Vor acht Jahren sprach Oliver Welter, den man als Kopf der wegweisenden österreichischen Band „Naked Lunch“ kennt, in einem Interview noch davon, bezüglich der Gesamtsituation nicht besonders optimistisch zu sein. Auch wenn Welter als gelernter Pessimist mit vielem, was er in der Gesellschaft beobachtet, hadert, hat sich sein Blick auf die Zukunft doch drastisch geändert. Die junge Generation und vor allem die aktivistischen Frauen geben ihm Hoffnung. Ihnen traut er zu, das Ruder in Klimabelangen noch einmal herumzureißen. Welter, der bei der Eröffnung des Ars Electronica Festivals am 8. September am JKU Campus mit der Pianistin Clara Frühstück Schuberts „Winterreise“ neu interpretieren wird, über große Visionen, unbelehrbare Männer und den Wunsch von einem Zusammenleben im Sinne des Humanismus.
Ihre Arbeit wird oft von Weltschmerz und Melancholie dominiert, die aber aus einer liebevollen Sorge zu kommen scheinen. Worum sorgen Sie sich betreffend Welt und Gesellschaft gerade am meisten?
Oliver Welter: Meine größte Sorge und Angst ist die allumfassende Empathielosigkeit, die von der Politik abwärts durch die Länder zieht. Von der am Anfang der Krise heraufbeschworenen Solidarität ist nicht viel spürbar. Ich merke keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern ein Auseinanderdividieren.
Sie sprechen die vielzitierte Spaltung der Gesellschaft an, gleichzeitig droht eine Klimakatastrophe. Sehen Sie noch Hoffnung, dass die Gesellschaft über ihre Spaltung hinwegkommt, um diese abzuwenden?
Ich setze große Hoffnungen in die gerade sehr junge Generation der Teenager und jungen Erwachsenen, die wahnsinnig aktiv sind. Es ist eine sehr feministische Bewegung, deren Galionsfiguren bezeichnenderweise Frauen sind, eine Bewegung, die global vernetzt ist. Die jungen Leute wollen tun, die schauen nicht mehr zu. Ich merke es an meiner Tochter, die sehr links, sehr feministisch ist, und von der ich bereits vieles gelernt habe.
Bei der etwas älteren Generation scheint die Lernwilligkeit, wenn man sich aktuelle Diskurse ansieht, nicht immer besonders groß zu sein. Werden auch jene noch zu Sinnen kommen?
Da sehe ich wenig Hoffnung, ist es doch eine von alten weißen Männern dominierte Gesellschaft und Politik, die wenig Bereitschaft zeigt, auf die Wünsche der Jungen und die Bedürfnisse des Planeten einzugehen. Sie haben Sorge, dass ihr Wertekatalog nicht mehr funktioniert. Im Wesentlichen geht es dabei um die Angst vor Verlust. Wenn Menschen Angst haben, etwas zu verlieren, neigen sie dazu, bedrohliche Dinge zu tun. Man nehme das Thema Migration. Die Angst vor durch den Klimawandel bedingter Migration verstehe ich, diese Migration wird ja auch nicht aufzuhalten sein. Aber woher nehmen wir die Anmaßung, Menschen zu verurteilen, die sich aufmachen, um anderenorts ein besseres, ein menschenwürdiges Leben zu führen? Das hat die Menschheit seit Anbeginn der Zeit getan, das ist ein natürlicher Prozess! Wir müssen Utopien entwickeln, wie dann im Sinne des Humanismus ein Zusammenleben aussehen kann.
Die Utopie, die die junge Generation formuliert, ist ja weniger eine klassische Utopie, die auf Verbesserung der Zustände abzielt, sondern da geht es ums nackte Überleben.
Eine größere Vision, als das menschliche Überleben zu sichern und den Planeten zu retten, gibt es gar nicht.
Sie sprachen vorher auch eine feministische Utopie an ...
Dass Frauen langsam, aber sicher in Bereiche vordringen, wo sie Macht haben und Dinge verändern können, sehe ich als große Hoffnung.
Macht korrumpiert, heißt es. Warum sollten es Frauen an der Macht besser machen?
Natürlich gab es da schon schreckliche Beispiele, wenn das auch – ich denke an Maggie Thatcher – eher Einzelfälle waren. Thatcher hat da aber eine klassische männliche Rolle quasi noch besser als ein Mann ausgefüllt. Aber die neue Generation, von der ich spreche, hat andere Zugänge und Werte, die das Leben und das Sein an sich anders definieren.
Oft ist die Rede davon, dass es neue Narrative, neue Erzählungen, zum Beispiel für die Europäische Union, bräuchte. Die einzigen neuen Erzählungen, die ich aktuell beobachte, sind Verschwörungserzählungen. Warum finden diese irrwitzigen Thesen reißenden Absatz im Gegensatz zu vergleichsweise einfachen Werten wie die der Französischen Revolution?
Menschen, die diesen neuen Erzählungen anheimfallen, leiden, wie wir vorher besprochen haben, unter Verlustängsten. Für das „große Andere“ oder „das gute Andere“ sind sie nicht empfänglich. Trotzdem hat die Aufklärung, haben die Werte der Französischen Revolution ja in unser Leben Einzug gehalten: Wir leben in der bestmöglichen Gesellschaftsform, wir leben auch in der bestmöglichen Welt: mit allen negativen Seiten. Natürlich sind wir keine Freunde des Neoliberalismus, wir wissen auch um die Gefahren des Turbokapitalismus, aber dennoch ist es den Menschen noch nie so gut gegangen wie jetzt; also um genau zu sein: den Menschen in der westlichen Welt.
Dennoch glaubt so mancher Mensch, die Erde wäre flach, obwohl Fakten ja verfügbarer denn je sind. Neben der Faktenresistenz grassiert auch die Geschichtsvergessenheit.
Wir wissen ganz genau, dass der Schlüssel grundsätzlich Bildung ist. Ich selbst komme aus bescheidenen Verhältnissen – und das ist noch ein Euphemismus. Dort herrscht allumfassende Dunkelheit. Das Bildungsniveau ist dort so niedrig, aber teilweise auch, weil die Leute es so wollen, weil sie gar nicht erreicht werden wollen. Da dringt man nicht durch; mit einem Baum zu reden ist erquicklicher.
Sollte die Politik Utopien entwickeln oder sollte das eher aus der Mitte der Gesellschaft kommen?
Helmut Schmidt sagte einmal: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Als Satz ist das ja auch wahnsinnig toll. Es ist aber an der Zeit, dass auch die Politik, was zum Beispiel die EU betrifft, Utopien entwickelt. Ich verstehe nicht, warum ein Staatenverbund es nicht schafft, die Situation mit den Visegrád-Staaten zu regeln. Wenn nicht einmal das möglich ist, sind wir von der Entwicklung einer Utopie, auch im Sinne Keplers, der ja ein großer Visionär war, weit entfernt. Stattdessen bekommen wir Weltraumtourismus von Neoliberalisten wie Jeff Bezos. Das hat aber nichts Visionäres, das sind Milliardäre, die ihren persönlichen Bubenträumen nachgehen, mehr nicht.
Erlauben Sie sich selbst das Träumen, gibt es eine Art persönliche Utopie?
Ich bin sehr froh, wenn ich es schaffe, 15 Tage im Monat gerne aufzustehen. Meine persönliche Utopie ist, dass es einmal 25 Tage werden. Über zehn Jahre habe ich all meine Korrespondenzen, egal, ob digital oder analog, mit einem Satz des französischen Philosophen Roland Barthes beendet, der da heißt: „Immer verzweifelt, nie entmutigt.“ Den habe ich mir sozusagen als Leitspruch für mich selbst gewählt.