Die Prognosen von der schönen, neuen Post-Corona-Welt erwiesen sich als heillos übertrieben. Oder zumindest als verfrüht. Ein Systemwandel ist nicht in Sicht.
Geschlossene Grenzen. Einreiseverbote. Zwangspausen für Schulen. Heimunterricht. Abgeriegelte Pflegeheime. „Geschlossen“- und „Abgesagt“-Schilder an Museen, Restaurants, Geschäften und Konzertsälen. Abstürze an den Börsen. Verbote von Veranstaltungen. Verzweifelte Kleinunternehmen. Besuchsverbot in Krankenhäusern. Drakonische Ausgangssperren. Abgeschaffte Grundrechte. Menschenleere Straßen und Plätze, der Himmel ohne Kondensstreifen von Flugzeugen. Dringliche Appelle, die Eltern oder Großeltern lieber nicht zu sehen. Stillgelegtes Wirtschaftsleben. Notgesetze im Blitzverfahren. Hamsterkäufe von Nudeln und Toilettenpapier. Panikartige Abreisen aus Skiorten.
In atemberaubendem Stakkato- Tempo fügten sich damals im März apokalyptische Szenen, die selbst die allergrößten Schwarzseher*innen für ausgeschlossen, mehr noch, schlicht denkunmöglich, in westlichen Demokratien gehalten hätten, zum Schockbild des großen und europaweiten Shutdown zusammen. Wie ein gruselig apokalyptischer Horrorfilm schien Corona von Beginn an – einige Wochen lang aber wie einer, der weit weg spielt, in China oder Südkorea zuerst, zumindest jenseits der Grenze in Italien dann später, während man sich hierzulande auf eine Mischung aus Beschwichtigen und Präventivhysterie verlegte. Mit Mitte März waren diese Zeiten vorbei. Mit voller Wucht traf Covid-19 damals Österreich.
Ein abrupter Ausnahmezustand mit zahlreichen düsteren Facetten, die sich tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben haben: Täglich live übertragene Regierungspressekonferenzen, die zu Straßenfegern mutierten, in denen verkündet wurde, was ab sofort zu passieren hat. Polizei- und Rettungssire- nen als dominante Straßengeräusche. Plötzlich zutage tretende Blockwartmentalität. Die Virenschleuder Ischgl als europaweites Fanal für Geldgier und provinzielle „Wir-haben-alles-richtig- gemacht“-Mentalität. Kurzarbeit als einzig boomender Wirtschaftszweig, Massenarbeitslosigkeit. Dramatische Wirtschaftseinbrüche, die größte Krise seit 1929. Berichte über langes Warten an der Corona-Hotline. Heillose Überforderung von Eltern mit Homeoffice und Homeschooling. Unschöne „Unsere-Gegend-für-unsere- Leute“-Avancen von Lokalpolitiker* innen, die Ausflügler*innen lieber nicht in ihren Orten sehen wollten und Zweitwohnsitzer*innen das Wasser abdrehen ließen.
Schon damals, im März, zu Beginn der ersten großen Corona-Schockwelle, als noch niemand zu prognostizieren wagte, ob denn auch hierzulande bald Militärlastwägen Leichen transportieren müssen und Intensivstationen überlastet sein werden, zu einer Zeit also, als das große Zittern vor den gesundheitlichen Auswirkungen dominierte, da begaben sich bereits Hoffnungssignale, die durchaus Anlass zu gewissem Optimismus in der Krise gaben: Eine souverän-beherzte türkis-grüne Regierung, die nicht nur besonnen kommunizierte, sondern auch Entschlossenheit demonstrierte, Dogmen wie das Nulldefizit flugs zu entsorgen und Milliardenhilfspakete zu schnüren. Beeindruckendes Aufflammen von schier in Vergessenheit geratenen Werten wie Solidarität und Nachbarschaftshilfe, Jüngere, die Zettel in Häusern aufhängten und Älteren Unterstützung bei Einkauf und Co anboten. Demonstrative Klatsch-Abende für bisher Unsichtbare, für plötzlich Systemrelevante, für Pflegerinnen, Supermarktkassiererinnen, Paketzusteller. Anschwellende Zeugnisse von Menschen, welche die Auszeit vom Konsumismus und die Entschleunigung genossen, sie für Sport, Brot backen, Selbstverwirklichung nutzten. Überraschende Berichte von rasanter Erholung der Natur, besseren Luftwerten, gar angebliche Sichtungen von Delfinen in Venedig. Statt trashiger Plappermäuler wurden Wissenschaftler* innen in Talkshows gehört.
Damals schien gar eine Utopie möglich – oder zumindest die begründete Hoffnung, dass die Corona-Krise dem alten Spruch von der „Krise als Chance“ Leben einhauchen und zu einem tiefgreifenden Systemwandel führen könnte. Dem Zukunftsforscher Matthias Horx gelang es, schon am 16. März unter dem Titel „Die Zukunft nach Corona“ all diese Erwartungen auf eine andere, auf eine bessere Welt in einen Text zu gießen. Der Aufsatz ging viral, der erste Internet-Hit unter den Corona-Prognosen.
Es blieb beim Gedankenspiel
Offenbar hatte Horx einen Nerv getroffen und formuliert, was viele sich wünschten: Dass der große Corona- Ausnahmezustand zwar die Welt, wie wir sie bisher kannten, auflöst – sich aber eine neue Welt zusammenfügt. Eine sozialere, weil die körperliche Distanz neue Nähe ermöglichte, Bindungen an Freund*innen und Nachbar*innen. Eine modernere und ökologischere, weil im Homeoffice gearbeitet wird und die Telekonferenz die vielen Flugreisen ersetzt. Eine langsamere, weil die Hektik nicht wieder zurückkehrt, sondern Bücherlesen und Spaziergänge zum Trend wurden. Eine nachhaltigere, weil statt schneller, besser, mehr, billiger lokale, regionale und traditionelle Wirtschaftsstrukturen boomten. Eine zukunftsfähigere, weil Auswüchse der Globalisierung eingedämmt wurden. Eine weniger hetzende und spaltende, weil bösartige, zynische, spaltende Politik nicht zur Corona-Welt passt und Politiker*innen wie Donald Trump außer Mode geraten und Verschwörungstheorien „plötzlich wie Ladenhüter wirken“, schrieb Horx. Und: „In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.“
Diese neue Welt, wie Horx sie skizzierte, klang für viele Menschen offenbar reichlich verheißungsvoll – löste er doch gerade enthusiastische Reaktionen aus. Er war beileibe nicht der Einzige, der damals prognostizierte, dass die weltumspannende Pandemie und ihre Folge, die weltweite Wirtschaftskrise, zu Unerwartetem, Positivem, Neuem führt. Einige Monate später lässt sich diagnostizieren: Die Prognosen von der schönen, neuen Post-Corona-Welt erwiesen sich als heillos übertrieben. Oder zumindest verfrüht.
Das kann man überspitzt formulieren, wie es Bazon Brock, der eine Gastprofessur für Prophetie an der Hochschule für Bildende Künste in Saar innehat, neulich im Podcast „Corona Update“ der JKU tat: „Horx und Co tragen naiven Optimismus vor, betreiben grundloses Herumgerede, dass alles gut enden wird“, wetterte er – und führte als Argument, wie gnadenlos unrecht Horx und die Optimistenfraktion hatten, an, dass etwa die großen Gewinner* innen der Wirtschaftskrise bisher Internetunternehmen wie „Zoom“ sind oder dass die Automobilindustrie lautstark Förderungen urgiere. Und eben kein neues System oder keine neue Normalität wolle, sondern möglichst schnell zurück zur alten Ordnung.
Oder man kann nüchterner festhalten: Eine schöne, neue Welt und einen tiefgreifenden Strukturwandel hat die Corona-Krise bisher nicht gebracht. Sie hat vielmehr, verdichtet wie unter einem Brennglas, schon davor vorhandene Stärken und Schwächen des bisherigen Systems schonungslos offengelegt.
Wo bleibt der Systemwandel?
Besonders augenscheinlich trat in Österreich etwa die große Schieflage im Bildungssystem zutage, viel beschrieben in Studien und von Institutionen wie der OECD. Bildung wird in Österreich stärker vererbt als in anderen Staaten. Corona verschlimmerte das: Kinder, die keine Laptops, Drucker und Eltern, die bei Übungen helfen konnten, zu Hause hatten, fielen beim Heimunterricht weit zurück. Oder waren überhaupt für ihre Schulen gar nicht mehr erreichbar. Dass viele Lehrer* innen und Schulen sich händeringend wehrten, Kinder in Schulen zu unterrichten – obwohl die Schulen theoretisch gar nicht geschlossen waren –, machte es auch nicht besser. Ob dieses Gefälle in den Sommerschulen aufzuholen ist? Mehr als fraglich. Ein Systemwandel? Bisher nicht in Sicht.
Oder: Schon in Vor-Corona-Zeiten dilettierte Österreich beim Pflegesystem herum, fand nur wenig tragfähige Murks-Varianten wie die 24-Stunden- Betreuung, die immer wieder in den semilegalen Bereich abrutschte und auf dem Lohngefälle zu Osteuropa basiert. Diese Scheinlösung ist an ihr Ende gekommen. Pfleger*innen mussten aus immer weiter entfernten Staaten geholten werden – und blieben während des Corona-Ausnahmezustands, bei geschlossenen Grenzen, ganz aus. Viel lauter kann ein Weckruf, auf welch tönernen Beinen das Pflegesystem steht, nicht ausfallen. Höchste Zeit, die lang versprochene Reform endlich anzugehen. Doch ein Systemwandel? Auch hier nicht in Sicht.
Ebenso frappierend: Blitzschnell sackte das ohnehin traditionelle Rollenverständnis von Männern und Frauen auf ein Niveau ab, das längst überwunden schien. Die deutsche Soziologin Jutta Allmendinger formulierte, dass durch die Corona-Krise die Gleichstellungsbewegung um 30 Jahre zurückgeworfen wird. Sie hat wohl nicht ganz unrecht: Viele Frauen mühten sich zwischen Homeoffice und Heimunterricht ab – und Männer saßen tendenziell eher ungestört in Telekonferenzen. Auch aus der zeitlichen Abfolge, welche Bereiche nach dem großen Shutdown rasch geöffnet wurden und welche lange geschlossen blieben, lassen sich Schlüsse ziehen. Polemisch ausgedrückt: In Oberösterreich waren am 1. Juli die Schulen wegen einiger Corona-Cluster geschlossen – Bordelle hingegen offen. Oder: Dänemark öffnete Kindergärten und Schulen als Erstes – Österreich hingegen die Baumärkte. Das geht weit über Symbolik hinaus. Elke Schüßler, die an den Wirtschaftswissenschaften der JKU über Organisationen forscht und lehrt, analysiert: „Die Heimarbeitsthematik hat viel dazu beigetragen, die Retraditionalisierung der Geschlechterrollen zu verschärfen. Wie automatisch fiel Kinderbetreuung meist den Frauen zu.“ Naturgemäß waren diese Frauen damit an ihren Arbeitsplätzen weniger präsent, weil anderwärtig beschäftigt. Das hat Konsequenzen, sagt Schüßler: „Sogar in der Wissenschaft ist seit der Corona-Krise die Einreichung von Fachartikeln durch Frauen gesunken – die durch Männer hingegen gestiegen.“ Ähnliche Phänomene waren quer durch Österreich und Deutschland zu beobachten: Unter dem Titel „Zurück in die Männerwelt“ schrieb Julia Jäkel, Vorstandsvorsitzende des Verlagshauses Gruner + Jahr in der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“, dass mit Corona Frauen plötzlich verschwunden seien. Und konstatierte: „Das Virus macht nicht nur die Luft klarer, sondern auch die Wirklichkeit im Land: Frauen sind viel weniger weit, als wir gedacht haben.“ Das Gebot der Diversität gelte offenbar nur in ruhigen Zeiten – in der Krise dominieren die Männer. Das ist eine der bitteren Erkenntnisse der Corona-Krise: „Man sieht auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene, dass Frauen viel stärker betroffen sind“, formuliert Elke Schüßler. Krankenpflegerinnen oder Supermarktkassiererinnen stiegen in der Corona-Krise zu öffentlich gefeierten Heldinnen auf. Der Applaus hat aufgehört – und sie verdienen nicht mehr als davor. Von der vielzitierten Neubewertung von Arbeit, von der Neudefinition, welche Berufe systemrelevant sind, entsprechender Bezahlung inklusive, war plötzlich keine Rede mehr.
Von der grundlegenden Umstellung des Systems auch nicht. Elke Schüßler hat eine Erklärung parat, warum viele möglichst schnell zur alten Normalität zurückkehren und gar keinen tiefgreifenden Systemwandel wollten: „Es ist sehr anstrengend, vieles anders zu machen, als man es gewohnt war. Alle wünschen sich business as usual.“ Manchmal scheint dieser Wunsch übermächtig – leider. Die blauen Himmel, ganz ohne weiße Flugzeugkondensstreifen, hielten sich nicht lange. Die Internationale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) rechnet für das Corona- Jahr 2020 zwar weltweit mit weniger Passagieren als im Vorjahr – aber immer noch mit 2,35 Milliarden Fluggästen. Das bedeutet ungefähr das Niveau des Jahres 2009 – und das trotz globaler Pandemie.
Was wir trotzdem gelernt haben
Die Politik tut wenig, um das zu ändern, im Gegenteil: Fluglinien wurden mit Riesensummen unterstützt. Und der Autoverkehr rollt stärker denn je. Auch ein Resultat der Mutlosigkeit, vor allem in österreichischen Städten: Während quer über den Globus, in Paris, in Tel Aviv, in London coole Post-Corona-Projekte die Stadtbilder verändern, öffentlicher Raum großflächig für Fußgänger*innen, Bewohner*innen, Radfahrer*innen, Schanigärten reserviert wird, haben in Österreich immer noch Autos und Parkplätze Vorrang. So viel zum vielzitierten Systemwandel.
Aber wo bleibt das Positive? Ja, es ist vorhanden. Populist*innen und Schreihälse wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro haben ihre Länder besonders schlecht durch die Krise geführt und bekommen dafür die Rechnung präsentiert. Und: Selbst bei den überzeugtesten Neoliberalen sickert die Erkenntnis, dass gut ausgebaute Sozial- und Gesundheitssysteme in Krisen überlebensnotwendig sind.
Eine der wichtigsten Lehren aus Corona lautet aber wohl: All das Gesudere vom eingeschränkten Handlungsspielraum der Politik ist blanker Unfug. In der Corona-Krise hat die Politik bewiesen: Sie kann zügig, energisch und tiefgreifend handeln – wenn sie nur will. Das hat eine weitreichende Konsequenz – gerade für die zweite große globale Krise: die Klimakrise. Mit Ausreden, dass man leider wenig oder nur langsam etwas dagegen unternehmen könne, wird die Politik nicht mehr durchkommen. Diese Zeit ist seit Corona vorbei.
„Wir erleben, dass die Wege zum Wachstum Spuren in der Landschaft hinterlassen, die Spuren der Zerstörung sind. Wenn uns die Corona-Krise eines gelehrt hat, dann das, dass wir nicht erhaben sind über die Natur. Wir sind Tiere, die für Viren anfällig sind“, sagte der deutsche Historiker Philipp Blom Ende Juli bei der „Langen Nacht der Utopie“ der JKU. Und: „Eine verwundete und verunsicherte Gesellschaft steht vor einer Weichenstellung.“
Vielleicht kommt diese Weichenstellung noch: Hin zu einer beherzten Bekämpfung der Klimakrise, weg von der Rekordarbeitslosigkeit, hin zu einem nachhaltigeren Wirtschaftssystem. Es muss ja nicht gleich eine radikale Systemumstellung sein. Vielleicht reicht eine Systemkorrektur.