In unserem Darm tragen wir ebenso viele Keime, wie wir Zellen im Körper haben. Das wirkt sich nicht nur auf unser Immunsystem aus, sondern beeinflusst auch, wie wir denken und fühlen. Warum das so ist und was er noch alles kann, untersucht die Forschung – mit faszinierenden Ergebnissen.
Woran denken Sie morgens nach dem Aufwachen? Die erste Tasse Kaffee, den Traum der letzten Nacht oder die Aufgaben des beginnenden Tages? Vermutlich gehört der Gedanke an Bakterien nicht zur Morgenroutine. Dabei begegnen wir meist tagtäglich einem wortwörtlichen Haufen von ihnen. Fragt man den Gastroenterologen Alexander Moschen von der Johannes Kepler Universität, wie viele Bakterien wir im Darm tragen, kommt das Gespräch schnell auf den morgendlichen Toilettengang. Zum besseren Verständnis, versteht sich. Denn einerseits ist es gar nicht so einfach, die Bakterien zu zählen, andererseits ist die bloße Zahl schier unbegreiflich. Oder können Sie sich 100 Trillionen vorstellen? Eben, deshalb wird es jetzt bildhaft: „Rechnet man das Wasser aus dem Stuhl weg, sind 60 Prozent der Trockenmasse reine Bakterienmasse. Jeder von uns trägt etwa ein halbes Kilo bis Kilo Bakterien im Dickdarm“, erklärt der Mikrobiomforscher.
Die Parallelgesellschaft in unseren Eingeweiden kann weit mehr, als nur verdauen. Obwohl es in der Mikrobiomforschung noch viele Fragezeichen gibt, kommen laufend Mosaiksteine neuen Wissens hinzu. Von Neurologie über Psychologie bis hin zur Ökonomie untersuchen etliche Disziplinen, wie die mikrobielle Gemeinschaft unsere Gesundheit, unser Fühlen, Denken und Handeln beeinflusst. Bei einer Reihe körperlicher und psychischer Störungen vermuten Forscher*innen ein Mitwirken des Mikrobioms. Neben chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen zählen Depressionen, Schizophrenie, ADHS, Autismus oder Demenz dazu. Vermutlich werden im Lauf der Zeit zig weitere hinzukommen, denn die Beziehung zwischen Mensch und Mikrobiom geht weit zurück. Als quasi zweites Gehirn unseres Körpers begleitet und beeinflusst uns die Keimgemeinschaft des Darms seit Urzeiten.
Lebenswichtige Langzeitbeziehung
Mensch und Mikrobiom haben sich im Lauf der Evolution gemeinsam entwickelt. „Es hat nie einen Menschen gegeben, der alleine war, wir hatten immer Begleiter auf und in uns“, sagt Moschen. Das Miteinander von Mensch und Keimwelt ging so weit, dass sich in unserem Dickdarm eine ökologische Nische entwickelt hat, in der Mikroorganismen gut gedeihen und sich wohlfühlen. Den Körper kostet diese Beziehung allerdings sehr viel Energie und Sauerstoff. Denn einige unserer Darmmitbewohner wollen mit beidem von uns versorgt werden, während andere von Sauerstoff verschont bleiben wollen. Eines steht für den JKU-Forscher daher unumstößlich fest: „Nie und nimmer würde sich eine solche Verbindung entwickeln, wenn nicht beide Seiten viel davon hätten.“ Einige Vorteile lassen sich schon mit Sicherheit benennen, so beherbergt der Darm den größten Teil des Immunsystems und hat damit wesentlichen Einfluss auf Immunantworten. Was den Stoffwechsel betrifft, können unsere Bakterien weit mehr als unser Körper. Viele Dinge aus unserer Umwelt werden von der Keimgemeinschaft in körperverträgliche Stoffe übersetzt und für uns nutzbar gemacht.
Der Aufbau unseres individuellen Mikrobioms beginnt mit der Geburt. Babys kommen mit nahezu keimfreiem Darm zur Welt, die erste Besiedelung erfolgt durch Keime der Mutter im Geburtskanal. Bei einem Kaiserschnitt wird der Darm durch Mikroorganismen der Haut erstbesiedelt. Manche Studien fanden zwar leichte Unterschiede im Mikrobiom von natürlich und per Kaiserschnitt geborenen Säuglingen. Hinweise darauf, dass diese kleinen Abweichungen die Funktion des Verdauungstrakts und die Fähigkeiten seiner Bewohner dauerhaft beeinträchtigen, gibt es nicht. Vielmehr gleicht sich die Entwicklung nach sechs bis zehn Monaten an.
Wenn Keime am Wort sind
Wie kann nun aber etwas, das im Darm vorgeht, sogar unsere Psyche und unser Denken beeinflussen? Diese Wechselwirkung geht so weit, dass sogar wirtschaftliche Entscheidungen – ob wir in Finanzfragen etwa risikobereit oder vorsichtig sind – wortwörtlich aus dem Bauch heraus entstehen. Veränderungen des Mikrobioms werden auch mit Depressionen assoziiert. Das lässt sich in Versuchen mit Mäusen zeigen. Nimmt man Stuhlproben von schwer depressiven Proband*innen und überträgt diese Mikrobengemeinschaft auf keimfreie Mäuse, führt das zu depressiven Mäusen.
Der Sinn der Verbindung zwischen Darm und Psyche erschließt sich, wenn man in der Evolution zurückdenkt. Der menschliche Körper hat sich in einer Zeit entwickelt, in der die Umwelt feindlich war, es nichts zu essen und dafür umso mehr Gefahren gab. „Wir haben einen Partner gebraucht, der uns bei all diesen Dingen unterstützt“, erklärt Moschen. „Dass wir überhaupt etwas zu essen finden, hängt von der inneren Motivation ab, da kann die psychische Beeinflussung durch das Mikrobiom helfen“, beschreibt er.
Das ausgeklügelte Zusammenspiel zwischen Mensch und Keimen wird von unserer modernen Umwelt jedoch häufig konterkariert. Unsere Lebensweise schlägt sich immer öfter auf den Darm – und über ihn auf unsere Gesundheit und Laune. Weltweit steigen neben Übergewicht auch die Zahlen chronischer Darmerkrankungen und anderer Volkskrankheiten. Manches davon lässt sich im Darm ablesen, wenn man das jeweilige Mikrobiom mit jenem gesunder Proband*innen vergleicht. Bei Menschen, die an Morbus Crohn, Fettleibigkeit oder aber auch Autismus leiden, sehen Forscher*innen Veränderungen der Keimwelt.
Ungeklärt bleibt bislang, ob ein verändertes Mikrobiom Ursache oder Folge gewisser Erkrankungen ist. Wie sich zeigt, verarmt die darmeigene Keimwelt in Industrienationen tendenziell. Durch Überfluss und einseitige Ernährung gehen Teile des Mikrobioms verloren. Wie sich dieser Schwund genau auswirkt und welche Mechanismen dabei ablaufen, steht noch nicht fest. Denn zwischen Mensch und Mikrobiom hat sich in ihrer gemeinsamen Geschichte eine eigene Sprache entwickelt. „Wir versuchen gerade, diese Sprache zu übersetzen“, beschreibt Moschen die Herausforderung, vor der die Wissenschaft steht. Je besser die Forschung diese Kommunikation versteht, desto wahrscheinlicher können aus diesem Wissen auch neue Therapieansätze entwickelt werden. Und zwar bei vielen Erkrankungen. „Was im Darm immunologisch vorgeht, beeinflusst beispielsweise auch die Tumorabwehr. Wenn ich verstehe, wie diese Mechanismen ablaufen, könnte man das auch medikamentös nachbilden“, blickt der Forscher in die Zukunft.
Vielfalt im Darm und am Teller
Pflegen lassen sich unsere Mitbewohner ganz ohne spezielle Produkte oder Nahrungszusätze. „Aus unseren Erkenntnissen in der Forschung können wir bisher kaum konkrete Empfehlungen ableiten. So weit sind wir noch nicht“, meint Moschen. Der Versuch, gute Forschungsdaten in klinische Empfehlungen umzusetzen, werde vor allem von der Industrie genutzt, übt der Forscher Kritik an einem wachsenden Wirtschaftszweig. „Alles, was für die Darmgesundheit in Apotheken steht, brauchen wir nicht, damit wird aber viel Geld gemacht.“ Wie nötig ist es dann, probiotisches Joghurt zu löffeln? Der Experte empfiehlt, saisonal zu essen und selbst zu kochen, da wisse man, was drinnen sei. „Außer dem bieten Sie Ihrem Mikrobiom dadurch abwechslungsreiche Kost, sodass einmal die einen und dann die anderen Mikroorganismen etwas zu tun haben.“ Das halte die Keimgemeinschaft divers und fit. Ernähre man sich hingegen einseitig oder von vielen Fertigprodukten, nimmt die Vielfalt des Mikrobioms eher ab.
Weshalb die Keimvielfalt für Körper und Gesundheit wichtig ist, erklärt der Wissenschaftler gerne anhand eines Mischwaldes. Da dieser aus vielen Arten zusammengesetzt ist, ist der Wald insgesamt resistenter. Befällt dann ein Schädling ein oder zwei Arten, schützen die anderen die gesunde Gemeinschaft. Eine Monokultur, in die der Borkenkäfer einfällt, müsse hingegen oft abgeholzt werden.
Auch in der Medizin bewirkt unsere Keimwelt ein neues Miteinander. „Ich finde es besonders spannend, dass die Mikrobiomforschung unterschiedliche Fachbereiche innerhalb der Medizin wieder näher zusammenwachsen lässt“, erklärt Moschen die Begeisterung für sein Forschungsgebiet. Erfreulich ist das auch für den Wissensgewinn. Je mehr Sparten an einem Strang ziehen, desto eher werden wir verstehen, wie uns unsere Darm-WG krank machen, allerdings auch gesund halten kann.
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