Ein Essay von VALERIE FRITSCH. Vorgetragen im Rahmen der langen Nacht der Utopie an der JKU.
Ich komme von Berufs wegen als Schriftstellerin nicht von der Utopie, aber von der poetischen Apokalypse, habe ich in einem meiner Bücher gleich unbescheiden die ganze Welt untergehen lassen, um herauszufinden, was weiterwächst, während alles vergeht, was zusammenhält, wenn alles auseinanderreißt, bin sozusagen neugierige Dystopistin aus Leidenschaft. Ich werfe ein Auge auf die Verwandlungen, beobachte die großen und die kleinen Zaubertricks, schaue zu, wie das eine zum anderen wird, und nichts je bleiben will, wie es immer war.
Der Mensch ist eine Weltmaschine, weil er nicht anders kann. Er schielt in die Zukunft, auf die Zündschnur des Horizontes. Kaum steht er am Fenster und sieht gedankenvoll hinaus, wachsen die schönsten und schrecklichsten Welten in ihm heran, er züchtet sie hinter dem Rippen- und hinter dem Stirnbogen, trägt ganze Erdkugeln, neue Universen und exotische Gesellschaftsordnungen in der Dunkelheit der Innereien spazieren, beschützt sie erst mit der eigenen Haut und später mit der eigenen Überzeugung. Er spürt sie bis in die Knochen hinein, sie gehen ihm in Fleisch und Blut über. Sie reifen in der Stille eines Ichs, aber sind so groß, dass sie fürs Wir und fürs Ihr gelten sollen. Und so werden sie geboren oft schon zur gescheiterten Version ihrer selbst, weil sie in der Wirklichkeit nicht nur für einen, aber für alle die schönste Welt sein müssten und es nicht sind.
Die Wirklichkeit wird man nie los, auch wenn man es nicht immer so genau mit ihr nehmen muss. Es ist nicht unmöglich, aber nicht leicht, ihr zu entkommen. Für die einen ist sie eine große Ordnung, für die anderen eine noch größere Unordnung, mit der man es zu tun hat. Aber immer kann sie einem wunderbar konkret scheinen. Man steht in ihrer Mitte zwischen den Dingen, einem Haus und einem Baum und einem Mond, sie schaff t ungerührt Fakten, macht Umstände, gibt Krieg oder Frieden aus und eine Uhr hängt an ihrem Himmel. Es ist unmissverständlich: Die Zeit mahnt, dass ein jeder ihr Kind ist, und macht das, was sie kann, sie erinnert daran, dass nicht sie vergeht, aber man selbst. Es ist ihre einzige, ihre angenehmste und zugleich unangenehmste Eigenschaft, aber sie ist ein fröhliches One-Trick-Pony. Denn während die einen nur beruhigt, dass alles irgendwann aufhört, finden die anderen dieses all umfassende Sterblichsein eine beispiellose Empörung, ein unbequemes Ärgernis, eine Frechheit der Evolution. Man kommt nicht umhin, die Zeit zu bewundern für ihre Unerbittlich- und manches Mal für ihre Zärtlichkeit, mit der sie den Dingen zustößt. Ob man es mag oder nicht, es ist und bleibt ungeheuerlich und faszinierend, dass die Uhren auf keinen Zuruf je halten, alles verfällt, alles alt werden muss, man nichts und niemanden vor den Jahren je beschützen kann und der Tod unverhandelbar ist. Er ist die wirklichste Wirklichkeit. Was für eine Prämisse. Alle, die darin nicht den Aufruf zum Jetzt!, zum Schau, bevor es vorüber ist, finden, träumen schnell den Traum vom ewigen Leben. Sie müssen sich beeilen und sie möchten es nicht Gott, dem chronisch Unverlässlichen, und seinen Jenseitsversprechen überlassen, aber es selbst in die Hand nehmen. Sie träumen davon, das Ende abzuschaffen, zu gewinnen, zu triumphieren über das Selbstverständlichste und Unvermeidlichste der Welt, das niemanden je verschont hat, vom vollendeten Transhumanisten, der sich ewige Teile ans sterbliche Fleisch anstückelt, sich Stück für selbst ersetzt, bis nichts mehr da ist, was vergehen kann. Es trägt die Poesie des Nichtauszudenkenden in sich, man staunt über die Schönheit und den Schrecken der Verwandlung. Mich rührt der Traum, sowohl die Größe der Idee als auch die Größe der Angst, die ihr zugrunde liegen muss. Und ich ertappe mich bei der Frage, wer wohl wirklich in der Lage wäre, nach der Endlichkeit auch noch die Unendlichkeit zu ertragen. Ich glaube nicht an den Wert der Natürlichkeit an sich, nur daran, dass der Mensch alles, was er kann, auch tut. Sobald das Unmögliche zum Möglichen wird, ist es – jenseits aller Moralvorstellungen – immer schon passiert. Die Vorstellung der Unsterblichkeit scheint mir entsetzlich, aber ich bin gebannt von der Kraft dieser wilden Einfälle, beeindruckt von den Möglichkeiten, neugierig auf ihre Folgen, fasziniert von Prothesen, erstaunt im bestmöglichen Sinn von Robotik und Kybernetik, nur meinen Tod möchte ich immer gern behalten, er ist mir wichtig, etwas so Persönliches, Sinnstiftendes, dass ich es nicht hergeben würde, wäre die Welt auch eine gänzlich andere. Und halten die Menschen sich selbst und einander in der Straßenbahn schon an einem gewöhnlichen Montag nicht immer gut aus, so scheint mir die Ewigkeit allgemein keine Lösung, für kein Problem.
Das Utopische ist ein wunderliches Ding
Das Utopische ist ein Formenwandler, kommt in vielen Gestalten und bleibt in ebenso vielen aus. Oft stellt man sich den erfüllten Wunsch als Maschine vor, als Technik, die eine Gesellschaft und mit ihr den Menschen selbst verändert. Als wunderliches Ding, geniales Gerät, das mal Idee war. Fast kindlich hat man den Fortschritt als plakative Science-Fiction-Bilder vor Augen, sieht Städte in der Dunkelheit des Alls, besiedelte Welten, von denen man nichts wusste, spaßige Vehikel und spaßige Außerirdische, bewusstseinstransformierte Festplattengehirne, gläserne Menschen, künstliche Intelligenzen, die die Antworten haben selbst zu jenen Fragen, die man nicht gestellt hat. Anderes scheint weniger konkret, hat keine einzelne dinghafte Entsprechung. Aber alle haben einen Gedanken gemein, der erst zum Wunsch und später zur Handlungsanleitung geworden ist.
Das Wünschen ist eine existenzielle und zerbrechliche Disziplin und niemals unverdächtig, da mit ihr stets das Glück und die Gefahr des Wirklichwerdens einhergehen. Über das Leben des Menschen sagt man gemeinhin, es gäbe zwei verhängnisvolle Momente in ihm, den Augenblick, wenn sich die größte Sehnsucht erfüllt, und jenen, wenn sie es endgültig nicht tut. Nichts treibt ihn an wie der noch kleinste Wunsch, den er in einem Winkel seines Seins findet. Im Tabernakel des Brustkorbs trägt jeder die Hoffnung auf das Schöne. Wer wünscht, ist lebendig, mitten im Universum, versteht die Welt als werdende Welt, in der alles zu allem werden kann. Eine Kraft liegt im Wünschen, eine sinnstiftende, übermütige, stürmische Freude. Es ist ein Widerstand gegen das Gemeißelte, das Wahrscheinliche, das Unvermeidliche, eine herzgemachte Revolution gegen die Schwerkraft der Wirklichkeit. Man erträgt nicht, man hält nichts aus, man lässt die Tage nicht vorüberziehen, man ist nicht gleichgültig, aber man will etwas. Man lässt sich nicht einschüchtern von der Realität, begehrt auf gegen innere und äußere Strukturen, die besagen, dass man weder seinen Platz auf der Welt noch die Welt selbst wechseln darf, einen unaufhörlich zu einer Bescheidenheit aufrufen, weil sich das Wünschen nicht gehört. Dabei ist es frei wie sonst nichts, man braucht nur einen Schädel und ein Herz, und schon geht es los. Es gibt nichts, das man sich nicht wünschen kann. Der Mensch ist ein Matrjoschkapüppchen, voller kleiner und großer Wünsche, die sich in Schalen umeinander legen. Es stehen einem die merkwürdigsten Sehnsüchte zur Verfügung, sie beginnen beim Allerwinzigsten und können im Riesenhaften enden, es verlangt einen nach Kleinigkeiten oder gleich nach einer ganzen neuen Welt. Der eine will wehmütig ein anderer sein. Der andere will wieder werden, wer er einst war. Das Kind wünscht sich ein Spielzeugauto und endlich groß zu werden, die Großgewordenen wünschen sich ein Auto und jung zu bleiben. Eine Frau möchte sich mit einem wilden Tier befreunden und ihm jeden Tag Schritt für Schritt, Zentimeter für Zentimeter näherkommen, ein Mann hofft, den Geruch seiner Großmutter wiederzufinden. Schüchtern wollen alle lieben und geliebt werden. Und ich habe einen Freund, dessen großer Wunsch es ist, nur einmal bei einem Waldspaziergang oder auf einer Autofahrt eine Leiche, eine echte Leiche zu entdecken, denn er träumt seit Kindestagen von dieser unvergleichlichen Aufregung, die mit einem solchen Fund einherginge.
Es sind die Wünsche des Ichs, die nicht weiter gelten als über die eigenen Fingerspitzen hinaus. Viele sind ein höchstpersönliches Glück oder Unglück, viele erfüllen sich so ungenügend, dass das ihnen innewohnende Schöne intakt bleibt, weil es sich nicht an der Wirklichkeit messen muss. Ihnen folgen in konzentrischen Kreisen jene Wünsche, die über einen selbst hinausgehen, die man nicht nur für ein Ich, aber ein Du, ein Wir, ein Ihr, ein Alle hat. Sich eine schönere Welt auszudenken, sich eine bessere zu träumen, ein funktionierendes Glückssystem, das keinen Unterschied macht, ist genauso folgerichtig wie nicht leicht. Es ist herrlich und komplex, die guten und gut gemeinten Einzelheiten fehlerfrei zusammenzuzimmern, und es kommt vor, dass man im Überschwang vergisst, dass man sich die Welt ohne Problem nicht erfinden kann. Und doch: Das Neue ist das Unversuchte. Vor dem, was als das Unmögliche gilt, darf man sich nicht fürchten, und wenn man es doch tut, entbindet einen diese Angst nicht vom Mut. Die menschengemachten Makel und Grausamkeiten haben ein menschengemachtes Gegenbild bitter nötig. Man muss es sich zutrauen. Und es gab und gibt sie auch, die mühsamen Verwandlungen durch große, widerständige Ideen, die in Frauen und Männern heranwuchsen, Ideen, die Schritt für Schritt das bloße Menschsein beschützen sollen, seine Freiheit und seine Zerbrechlichkeit. Einfach war es nie, nur auf den Aufschrei kann man sich verlassen, der aus den dunklen Fenstern schallt, wenn man heute schon etwas anders machen will als gestern, und nicht jeder ist ein Jubel.
Die Gefahr der guten Idee
Wer wünscht, reklamiert ein bisschen Luft für sich, um daraus ein Schloss zu bauen, oder eine Hütte, ein Leben oder eine Gesellschaft, oder etwas ganz anderes. Und wer das Wünschen ernst nimmt, beglaubigt es mit sich selbst, übernimmt Verantwortung für seine Wünsche, leitet aus ihnen eine Handlungsanweisung ab und muss im Kleinen oder im Großen die Ärmel hochkrempeln. Sonst bleibt man sitzen auf dem Immergleichen. Wer das Glück entdeckt hat, möchte es herstellen, den Gedanken eine Wirklichkeit zur Seite stellen. Es ist der prekärste Augenblick von allen. Jede Utopie trägt unsichtbar ihr Gegenteil in sich, die Gefahr der guten Idee, die sich in der Umsetzung verkehrt, sich im eigenen Dogma verheddert, weil man mehr an den Wunsch als an die Wirklichkeit glaubt. Es gilt, Vorsicht walten zu lassen mit den Paradiesen, denn die vollendeten Welten können noch den schönsten Träumer zum Despoten werden lassen, wenn es um das Glück geht, wird man mitunter grausam oder lächerlich, um es zuerst durchzusetzen und später zu erhalten, und erkennt es selbst am allerwenigsten, obwohl oder weil man so viel darüber nachgedacht hat. Dass man wie überall scheitern kann, soll einen nicht ab-, nur wachhalten beim Träumen, damit man sich nicht selbst in die Falle geht. Ans Wünschen habe ich immer schon geglaubt und bin unbelehrbar und unbeirrbar damit geblieben. Und ich bin nicht vor seinen konzentrischen Kreisen gefeit, ich denke gerne an eine ganze zärtliche Welt, in der nicht das Archaische, aber das Grobe verblasst, man die verwirrenden Gleichzeitigkeiten und Widersprüche des auf der Weltseins aushält, an den aufrechten Buchrücken Rückgrat lernt, weiß, dass Leben nicht linear ist, man zart ist miteinander, ungestüm, und weich trotz Erfahrung, in der man wünscht und handelt, frei und ungebeugt empfänglich ist für das Schöne und den Schmerz, durchlässig für ein ungefügiges Glück und wilde Ideen. Dann sehe ich die Wünschenden hoch auf den Dächern und Hügeln stehen mit ihren ausgerissenen Wimpern, bereit für die Verwandlung.