Seit dem Beginn der Kriegshandlungen in der Ukraine im Februar hören wir vermehrt Berichte über Geschäfte, die russische Produkte wie Wodka und Pelmeni-Teigtaschen aus dem Sortiment nehmen, russische Kunstschaff ende, die ausgeladen werden und ihre Anstellung verlieren, und Cafés und Restaurants, die russische Gäste nicht mehr bedienen wollen. McDonald’s und andere Unternehmen ziehen sich ganz aus Russland zurück. Diese Handlungen sollen als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine verstanden werden, als Kritik am russischen Regime, und sie sollen die Ukraine durch Schwächung der russischen Wirtschaft unterstützen. Auch wenn die Antwort auf die Frage, wer Aggressor und wer Opfer in der jetzigen Situation wenig zweideutig ist, können und müssen wir erörtern, ob solche Solidaritätsbekundungen und wirtschaftlichen Maßnahmen vertretbar und moralisch gerechtfertigt sind.
In seinem berühmten Aufsatz „Politik als Beruf“ (1919) unterschied Max Weber zwischen zwei unterschiedlichen Standpunkten, von denen man ethisch orientierte Handlungen betrachten kann: dem der Gesinnungsethik und dem der Verantwortungsethik. Der Gesinnungsethiker handelt nach Maximen wie Kants kategorischem Imperativ oder dem liberalen Verbot, grundlegende Rechte von Menschen zu verletzen. Der Verantwortungsethiker schaut auf die Folgen einer Handlung und bewertet sie als moralisch gerechtfertigt, solange sie per Saldo das Gute in der Welt mehren.
Schon von einem gesinnungsethischen Standpunkt sind viele der Boykottmaßnahmen moralisch zumindest problematisch. Der Kern von Kants Imperativ ist die Ansicht, eine Handlung müsse generalisierbar sein, um als moralisch vertretbar zu gelten. Wir sollten also russische Waren oder Künstler nur dann boykottieren, wenn wir auch bereit wären, Vergleichbares in ähnlichen Konflikten zu tun. Das erscheint allerdings wenig ratsam. In der Welt toben zahlreiche Konflikte, und auch wenn uns die Ukraine näher erscheint, ist es nicht gerechtfertigt, hier mit zweierlei Maß zu messen. Zudem ist wahrscheinlich, dass Rechte der Beteiligten verletzt werden, wie z.B eigen das Recht, nicht aufgrund bestimmter Merkmale wie Muttersprache, Hautfarbe oder ethnischer Zugehörigkeit diskriminiert zu werden.
Eine Schwierigkeit mit der verantwortungsethischen Bewertung ist die genaue Vorhersage der Folgen der Handlung, insbesondere, wenn man sinnvollerweise verlangt, alle Folgen zu berücksichtigen. Was aber klar ist, ist, dass die tatsächlichen Folgen nur selten mit den intendierten Folgen übereinstimmen. Nur weil bestimmt e Maßnahmen das russische Regime schwächen sollen, heißt das nicht, dass sie es auch tun. Vor allem kann es auch eine große Anzahl von Leidtragenden geben, die mit der russischen Politik wenig oder gar nichts zu tun haben. Als Beispiele mögen die Angestellten der russischen McDonald’s-Filialen dienen, die nun ihren Job verlieren, die Zulieferer und Aktionäre von Mc-Donald’s oder die Konsumenten russischer Produkte bei uns.
Natürlich folgt aus Gesagtem nicht, dass es nicht auch sinnvolle Maßnahmen geben kann. Wenn etwa die Auslandsvermögen russischer Oligarchen eingefroren werden, um zu erreichen, dass sie Druck auf die Regierung ausüben, die Kampfhandlungen einzustellen, kann dies durchaus vertretbar sein. In vielen Fällen scheinen sie aber ihr Ziel zu verfehlen und vor allem unbeteiligte Russen und hiesige Konsumenten zu treffen. In solchen Fällen, so wohlintendiert die Maßnahme auch sein mag, müssen von verschiedenen ethischen Standpunkten aus berechtigte Zweifel angemeldet werden.