Lange sollte er eine möglichst geringe Rolle spielen, doch spätestens seit der Corona-Krise ist er zurück: Der Staat. Er springt ein, wo die Systeme versagen. Gerade im sozialen Bereich gehen ihm die Aufgaben nicht aus. Aber wird er sie bewältigen?
Vor einigen Jahren wurde ich auf unserer griechischen Urlaubsinsel von einer deutschen Ärztin gebeten, den Verbleib ihres Mannes zu recherchieren, der mit dem Moped schwer gestürzt und in der Nacht mit dem Hubschrauber weggebracht worden war. Das „Medical Center“ auf der Insel war überfordert. Es stellte sich heraus, dass ihn der Hubschrauber über die ganze Ägäis bis nach Athen gebracht hatte, wo seine Gottseidank nicht schweren Verletzungen kompetent verarztet worden waren. Als man ihn dann nach seiner Versicherung fragte, um die 6000 Dollar für den Hubschrauberflug zu decken, musste er sagen: „Ich bin ein amerikanischer Universitätsprofessor in Pension, ich bin nicht versichert, denn ich kann mir die Prämien für meine US-Versicherung nicht leisten“. Worauf die Griechen sagten: Na gut, dann übernimmt unser Staat das.
Im Jahr 2016 waren wir ein paar Tage in London und Oxford. Auffällig die vielen, oft jungen, Obdachlosen, die in London in der Regent Street in den Eingängen der Luxusgeschäfte und in Oxford in den Eingängen der Supermärkte auf der Hauptstrasse herumlagen. Eine Erkundigung ergab: die konservative Regierung des David Cameron, den der damals neue ÖVP-Chef Sebastian Kurz als Vorbild nannte, hatten den sozialen NGOs, die sich um die Armen und Drogenkranken kümmerte, die Mittel gestrichen. Und zwar unter dem Titel „schlanker Staat“. Die Teilnehmer eines Kurses im Kings College wurden damals gewarnt, wegen der sprunghaft angestiegenen Zahl unbetreuter junger Sozialfälle am Abend nur in Gruppen auf die Straße zu gehen.
In seinem 2018 erschienenen Buch „The Road to Unfreedom“ beschreibt der eminente amerikanische Politologe Timothy Snyder, der auch in Wien beim „Institut für die Wissenschaft vom Menschen“ lehrt, hingegen quasi nebenbei, wie er und seine Frau das österreichische (und implizit das westeuropäische) Gesundheitssystem erlebten: „Unsere Wiener Geburtsstation, wo eine nicht teure Versicherung praktisch alles abdeckte, war eine Erinnerung an den Erfolg des Europäischen Projekts. Es umfasste Dienstleistungen, die im Großteil von Europa als selbstverständlich empfunden wurden, aber in den USA undenkbar waren. Dasselbe gilt für die schnelle und verlässliche U-Bahn, die mich in das Spital brachte: normal in Europa, unerreichbar in den Vereinigten Staaten“.
Man muss also vielleicht ins anglo-amerikanische System blicken, um den österreichischen und kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaat überhaupt wieder in seinen Dimensionen – und seiner Sinnhaftigkeit – begreifen zu können. Die Unterschiede sind gewaltig. Vielleicht beginnt man deshalb mit der Frage: Wie ist es dazu eigentlich gekommen?
Der Vater oder der Tyrann
Marcus Gräser, Leiter des Instituts für Zeitgeschichte an der Johannes Kepler Universität Linz, hat im Gespräch mit Andreas Sator in dessen Podcast „Erklär mir die Welt“ die historischen Unterschiede zwischen den USA und den meisten europäischen Ländern in Sachen Sozialstaatdenken und Individualismus herausgearbeitet: Zu der Zeit, als die USA entstanden, gab es dort fast keinen „Staat“, während der (Obrigkeits-)Staat in Europa sehr stark war. „Unsere Erwartungshaltung an den Staat ist sehr lange tradiert“, auch in dem Sinn, dass er für sozialen Ausgleich sorgen soll.
Die USA hingegen seien im Widerstand gegen einen starken Staat, den englischen, entstanden. Sie verbinden den Staat mit Tyrannei, wir in Europa nennen ihn „Vater Staat“. Allerdings habe sich laut Gräser der amerikanische Individualismus, der sich um den Anderen wenig kümmerte, zuletzt doch mehr in Richtung staatlicher Verantwortung entwickelt.
Tatsächlich kann man die jüngsten Milliardenprogramme von US-Präsident Joe Biden, mit denen er einerseits durch Ausweitung des kostenlosen Schulessens den Hunger und die Fehlernährung bekämpfen und andererseits Millionen Studenten 300 Milliarden (!) Studienkredite erlassen will, durchaus als sozialstaatlich bezeichnen. Wer in den USA auf eine (teure Privat-)Uni will, muss sich bekanntlich massiv verschulden.
Wobei die Zeiten nicht lange her sind , da „Sozialstaat“ in manchen politischen Kreisen Europas und auch in Österreichs ein schmutziges Wort war oder zumindest ernsthaft über „Auswüchse“, „Finanzierbarkeit“ und „Reformbedarf“ dieses (österreichischen) Sozialstaats diskutiert wurde. Etliche Journalisten, auch ich, beteiligten sich an dieser Diskussion. Es gab ja auch zahlreiche Beispiele, die sie notwendig machten: etwa die sogenannte „Hacklerregelung“, die von lebenslanger Schwerarbeit gezeichneten Menschen einen Ausstieg ermöglichen sollte, sich in Wirklichkeit aber als bequemer Weg von Angestellten und Öffentlich Bediensteten in eine gut dotierte Frühpension herausstellte. Das ging einher mit einer Debatte, die sich um die Frage drehte, wie viel Staatseinfluss insgesamt in der Wirtschaft und im gesamten gesellschaftlichen Gefüge gelten und wirksam sein sollte.
Die Rückkehr des Staates
Noch Anfang der 2000er-Jahre lautete ja die Devise der schwarz-blauen Regierung unter Wolfgang Schüssel „weniger Staat, mehr privat“. Das ging zurück auf die Beinahepleite der Verstaatlichten Industrie Mitte der 80er-Jahre , die ja zum Teil tatsächlich auf überbordenden politischen Einfluss zurückzuführen war. Dass dann die Privatisierungen, die unter Finanzminister Karl-Heinz Grasser durchgeführt wurden (z.B. Buwog), auch von Korruption gezeichnet waren, ist eine andere Geschichte.
Inzwischen ist sehr viel anders geworden. Das Thema „Sozialstaat“ und „Staatseinfluss“ überhaupt hat durch einige große Verwerfungen in Europa plötzlich einen ganz anderen Stellenwert bekommen. Die Finanzkrise ab 2008, die Corona-Pandemie und die wirtschaftlichen Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine haben staatliche Interventionen mit sehr viel Geld notwendig gemacht. Das „koste es, was es wolle“ ist die neue Devise. Die Slim-fit-Adepten des „schlanken Staats“ und des „Sparens im System“ sahen sich genötigt, Abermilliarden an direkten Zuschüssen in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen, um einen Mega-Crash durch Corona und Krieg zu vermeiden. Und das war gut. Denn das „Gesundsparen“ in den 1930er-Jahren hatte zur Weltwirtschaftskrise und direkt zum Nazismus geführt.
Davon abgesehen wäre an ein paar Fakten zu erinnern: ohne Sozialtransfers – vom Kinderbetreuungsgeld bis zum Pflegegeld – wären in Österreich 44 Prozent aller in Privathaushalten lebenden Personen armutsgefährdet, wie eine EU-Statistik zu Einkommen und Lebensbedingungen zeigt. Nach einer allerdings schon älteren Studie des Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) über die „Umverteilung durch den Staat“ lebt das untere Einkommensdrittel der Unselbstständigen-Haushalte zu über 80 Prozent von Transferzahlungen. Dass die Einkommen in diesem Bereich so gering sind, ist bedenklich, wird sich so bald aber nicht ändern. Solange wird es Transferzahlungen geben (müssen).
Hier halten wir.
Die Aufgaben des Sozialstaates ändern sich
Was jetzt? Einerseits muss es investigative Bemühungen geben, wie viel von der Corona-Hilfen eine freunderlgetriebene Überförderung waren. Der Rechnungshof hat schon einmal ein paar wichtige Pflöcke eingeschlagen.
Das größere Thema ist jedoch, ob es innerhalb des Sozialstaates, wozu im weiteren Sinn auch die Staatsintervention gehört, nicht eine größere Wende geben muss. Konkret, ob Geld nicht in bisher unterdotierte Bereiche fließen muss, wo sich dramatische Defizite auftun.
Mehrere aktuelle Entwicklungen zeigen die Richtung, in die es geht: Österreich hat durch den Zustrom von überwiegenden jungen, überwiegend männlichen, überwiegend schlecht ausgebildeten Asylwerbern, aber auch durch die „normale“ Zuwanderung ein echtes gesellschaftliches, aber auch wirtschaftspolitisches Problem. Das lässt sich, zugegeben sehr pauschal, mit der Frage „Was sollen wir mit denen tun?“ umreißen. Denn wir können diese latent und akut aggressiven jungen Männer, die in der Mehrzahl nicht mehr weggehen werden, nicht mehr einfach sich selbst überlassen.
Johann Bacher, Leiter der Abteilung für Empirische Sozialforschung am Institut für Soziologie an der Johannes Kepler Universität Linz, richtet seine Forschungen unter anderem auf das Phänomen der sogenannten NEETs , das sind Jugendliche „Not in Education, Employment and Training“, die also weder eine Schule besuchen, noch eine Ausbildung machen oder einer Arbeit nachgehen. Bacher hat in einer Studie aus 2020 die Quote von NEETS für 2018 erhoben: Dieser zufolge fielen 6,8 Prozent der 15- bis 24-Jährigen unter die Definition. Das sind 64.000 Menschen. Laut einer Erhebung von Eurostat waren es aber 2022 in Österreich bereits 8,5 Prozent, in Italien, zum Vergleich, gelten aktuell schon 23 Prozent der 15- bis 24-Jährigen als NEETS. Unter den jungen Menschen mit Migrationshintergrund ist der Anteil der NEETS in Österreich noch einmal höher als in der Gesamtbevölkerung: Hier liegt er bei 13 Prozent.
Im Koalitionsabkommen von ÖVP und Grünen aus dem 2020 seien diverse Maßnahmen aufgelistet, die dem entgegenwirken sollen, sagt Johann Bacher. Dazu zählt Unterstützung für Schulabbrecher, Jugendpsychiatrie, Bildungsmöglichkeiten für asylsuchende Jugendliche nach der Pflichtschule und die gesetzliche Ausbildungspflicht bis zu einem Alter von 18 Jahren. Bacher fordert, diese Maßnahmen um weitere zu ergänzen – nicht nur aus ökonomischen und menschenrechtlichen Gründen, sondern einfach, weil diese „abgehängten“ jungen Leute ein erhebliches gesellschaftliches Risiko darstellen würden. Die „Halloween“-Randale in Linz seien da nur ein Alarmzeichen.
Integration, Bildung und Pflege als neue Themen
Das ist aber nur ein Thema, dem sich der Sozialstaat in den kommenden Jahren widmen muss. Diese werden auch von der Notwenigkeit gezeichnet sein, die Folgen einer sich ankündigenden Wirtschaftskrise für die schwächeren Einkommensschichten abzufangen, aber auch den wirtschaftlichen Umbau auf umweltgerechtere Verhaltensweisen zu unterstützen.
Und drittens muss etwas bei der skandalösen Unterdotierung des österreichischen Bildungswesen, besonders an den Universitäten, getan werden, weil wir sonst schlicht abgehängt werden. An welchen konkreten Schrauben im Bildungsbereich gedreht werden muss, ist nicht leicht zu sagen. Noch schwerer, wie das politisch umgesetzt werden kann. Zweifellos muss man die Felder identifizieren, wo unbedingt mehr Geld, mehr Men-und Womenpower und mehr Expertise hineingehört.
Dass es im Bildungsbereich Probleme gibt, zeigt sich ebenfalls an mehreren Stellen. Sabine Seidler, Rektorin der Technischen Universität Wien und derzeit Vorsitzende der Rektorenkonferenz, meldet sich seit Kurzem mit immer dringenderen Alarmrufen: die Preissteigerungen vor allem bei Energie seien von den Universitäten aus eigenem Handeln heraus, also durch Sparen nicht zu stemmen. Die TU Wien stehe vor der Zahlungsunfähigkeit. Demnächst werde man zu einer Sperre von Dezember bis Mitte Jänner gezwungen, sagte sie Mitte November. Bildungsminister Martin Polaschek, bis zu seinem Ministeramt selbst Rektor der Uni Graz, bemühte sich zunächst im Beschwichtigen.
In Wahrheit stellt sich aber die Frage, ob nicht das ganze universitäre System in Österreich katastrophal unterdotiert ist, vor allem im Hinblick auf Bildungschancen und internationale Wettbewerbsfähigkeit. Wieder stark vereinfacht: irgendwie passen die Meldungen über Ärzt*innenmangel in den Spitälern und das rigorose Aufnahmsprüfungssystem beim Medizinstudium nicht zusammen.
Oder, ein weiteres Problemfeld: Der föderalistisch aufgebaute Sozialstaat Österreich hat es bis heute nicht zustande gebracht, die ländlichen Gebiete flächendeckend mit Kindergärten mit geeigneten Öffnungszeiten zu versorgen, so dass junge, vor allem auch alleinerziehende Mütter einem Beruf nachgehen können.
Oder: die Medien sind voll von Warnungen über die „Pflegekrise“, über den Mangel an qualifiziertem (und motiviertem) Personal, ohne dass seit Jahren irgendeine Maßnahme merkbar wäre – mit Ausnahme des Burgenlandes, wo pflegende Angehörige vom Land angestellt werden. Ob das bei zehntausenden Pflegebedürftigen die Lösung ist, sei dahingestellt. Jedenfalls war die (inzwischen als rechtswidrig aufgehobene) Kürzung des Kindergelds für ausländische Pflegekräfte durch die türkis-blaue Regierung unter Sebastian Kurz eine Maßnahme, allerdings eine kontraproduktive.
Wer soll das alles bezahlen?
Wie aber soll die Behebung dieser Defizite finanziert werden ? Neue Steuern, also Vermögens-und Erbschaftssteuern, müssen sehr gut überlegt werden. Die Gefahr besteht einerseits darin, dass nicht genug Einnahmen zustande kommen, weil Unternehmen nicht belastet werden dürfen, so dass letztlich wohl nur eine Immobiliensteuer für den oberen Mittelstand übrig bliebe. Ob das andererseits genügend Einkünfte generiert, ist zweifelhaft. Und wenn einer Steuer nur „die Superreichen“ allein betrifft? Eine Erbschaftssteuer auf das Mateschitzvermögen hätte drei Milliarden erbracht, argumentierte Markus Marterbauer von der Arbeiterkammer. Allerdings nur einmal. Und so viele Mateschitz gibt es nicht.
Eine Umschichtung innerhalb des bestehenden Sozialstaates wäre die andere Möglichkeit. Der hohe und steigende Zuschussbedarf bei den Pensionen wird einerseits von konservativer und neoliberaler Seite kritisiert. Andererseits werden die starken Pensionserhöhungen, die in der letzten Zeit unter dem Titel „Teuerungsausgleich“ gewährt wurden, sogar von Jungkonservativen wie der ÖVP-Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm als Bevorzugung einer Generation auf Kosten der anderen kritisiert.
Faktum ist, dass der staatliche Zuschuss zu den Pensionen der ASVG-Versicherten, der Selbstständigen und der Bauern nach einem Gutachten der Alterssicherungskommission aus 2020 bis 2025 um 5,6 Milliarden auf dann 15,2 Milliarden Euro emporschießen wird. Das gewerkschaftsnahe Momentum-Institut bestreitet hingegen, dass von einem „Pensionsloch“ die Rede sein könne. Das wäre sozusagen die bloße Finanzierungsdebatte zum superheißen Thema „Pensionen“. Das superheiße Thema „Umschichtung“ zu den oben erwähnten Problemfeldern ist da noch nicht einmal im Entferntesten angesprochen.
Dass der Sozialstaat an sich nicht mehr in Frage gestellt werden kann, dürfte allgemeiner politischer und gesellschaftlicher Konsens sein – wenngleich die FPÖ wahrscheinlich immer noch gerne die „Ausländer“ in eine eigene Sozialversicherungsanstalt abschieben möchte. Aber die Diskussion, ob der Sozialstaat nicht neue Themenfelder erschließen muss, hat gerade erst begonnen.