Die Debatte darüber, was legitime Kritik und was freiheitsfeindliche Zensur ist, wird härter und aggressiver. Wie steht es wirklich um die Meinungsfreiheit? Ein Essay von JOCHEN BITTNER.
Ein neuer Lagerkampf unserer Zeit ist der Streit um die Grenzen des Streits. Welche Meinung gilt noch als legitim oder überhaupt als „Meinung“? Und wer ist in der Position, Position zu beziehen? Für die einen, nennen wir sie die Strukturalisten, sind Merkmale wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter oder Hautfarbe wichtige Diskursfaktoren, eben weil die Gesellschaft von Machtstrukturen entlang dieser Merkmale durchzogen sei. Ein weißer cissexueller Mann kann demnach nicht mit demselben Geltungsanspruch Fragen von Gleichberechtigung behandeln wie eine schwarze transsexuelle Frau. Aus Sicht mancher Strukturalisten ist es daher problematisch bis skandalös, wenn eine weiße Niederländerin das Buch der schwarzen US-Poetin Amanda Gorman übersetzen soll oder wenn Wolfgang Thierse – ein nicht mehr ganz junger weißer Mann – davor warnt, dass Identitätsdebatten zu neuen Grabenkämpfen führten, die den Gemeinsinn zerstörten.
Das andere Lager, nennen wir sie die Universalisten, lehnt jede Qualifikation der Sprecherlegitimität aufgrund von unverschuldeten Merkmalen wie der Hautfarbe ab. Für jeden Menschen, argumentieren sie, gelten dieselben Rechte – was das Gebot des Antirassismus und Anti-Sexismus ebenso nach sich ziehe wie das Gebot, jede Meinung zu hören oder zumindest zu tolerieren, solange diese Äußerungen keine Güter verletzen, die höher einzustufen sind als die Redefreiheit selbst.
Der Autor dieser Zeilen zählt sich zu den Universalisten. Trotzdem glaubt er, dass es Teile dieses Lagers mit dem oftmals vorschnell entsicherten Vorwurf der „Cancel Culture“ und der Bedrohung der Redefreiheit an Universitäten und im Journalismus übertreiben. Sie tun damit dasselbe, das sie den Strukturalisten zu Recht vorwerfen: Sie übernehmen wenig reflektiert kulturkämpferische Argumentationsmuster aus den USA, weil diese Buzzwords sexy klingen, gut klicken und den Verwender als entschlossenen Kämpfer für die Freiheit erscheinen lassen. „Entpört euch!“, möchte man beiden Lagern zurufen. Wenn wir verhindern wollen, dass die Streitkultur und die Redefreiheit in Deutschland ähnlich leiden wie in den Vereinigten Staaten, sollten wir uns nicht in dieselbe Polarisierungsspirale begeben. Und das heißt vor allem: Radikale Minderheiten sollten nicht belohnt werden – auf keiner Seite.
Die strukturalistische Weltsicht, um mit ihr zu beginnen, ist so erfolgreich, weil sie simplizistisch ist: Wer jede Ungleichbehandlung als Folge von „Strukturen“ betrachtet, muss sich nicht die (selbstkritische) Mühe machen, nach Ursachen für eine Zurücksetzung oder für ein Scheitern zumindest auch beim Individuum selbst zu suchen. Die Folgen dieser Verantwortungsverschiebung ins Trübe sind eine Gefahr, unter anderem für die Redefreiheit, denn sie begründen eine Prima- facie-Schuldvermutung gegenüber vermeintlich „privilegierten“ Menschen, die innerhalb der „Strukturen“ oben stehen.
So wurde der Reporter der New York Times Donald McNeil Anfang 2021 des Rassismus bezichtigt und entlassen, weil er in einer Unterhaltung mit Studenten in zitierender Weise das „N-Wort“ benutzt hatte (ob es sich dabei um „Nigger“ oder „Negro“ handelte, wurde übrigens nie bekannt, obwohl es für die Bewertung des Vorgangs eine Rolle gespielt hätte). Der Chefredakteur der Times, Dean Baquet, sagte, die Zeitung toleriere keine rassistische Sprache, gleichgültig, welche Absicht hinter ihr stecke. „Regardless of intent“ – das ist in der Tat ein kultureller Rückwärtsschritt. Denn die Sicht des Angeschuldigten für irrelevant erklärt, verschiebt die Macht, zu urteilen, komplett in die Sphäre vermeintlicher oder realer Opfer von sozialer Ungleichheit, Ressentiments oder Rassismus. Im Zeitalter von Social Media zieht dies die wachsende Gefahr nach sich, dass allein die Empfindungen zorniger Menschen als Wahrheitsbeweis angesehen werden.
Was Beispiele wie das von McNeil angeht, oder auch die Ausladung von Sprechern von Campus-Veranstaltungen, ist es deshalb durchaus berechtigt, von einer „Cancel Culture“ zu sprechen, also von der Verbannung von Stimmen aus dem Diskurs durch öffentliche Druckausübung, die dem Motiv folgt: Vertreibe einen, erziehe Tausende. Gab es im Jahr 2001 an amerikanischen Universitäten noch zwei Vorfälle, bei denen Demonstranten versuchten, missliebige Sprecher vom Campus auszuladen oder ihre Vorträge zu stören, waren es 2015/16 schon 38 solcher Versuche, in etwa jedem zweiten Fall waren sie erfolgreich, ermittelte die überparteiliche Foundation for Individual Rights in Education (FIRE). Laut einer Umfrage dieser Organisation sagen 42 Prozent von 20.000 befragten Studenten, ihre Universität würde das Recht eines Redners, seine Sicht darzulegen, nicht verteidigen, wenn dieser eine „anstößige“ (offensive) Formulierung benutzt habe.
In Deutschland geschieht dies in dieser Form nicht. Eine gestürmte Vorlesung wie die des Volkswirtes und AfD-Gründers Bernd Lucke in Hamburg, wo er als „Nazi“ beschimpft wurde, ist die Ausnahme. Von einer „Kultur“ der Redeverhinderung zu reden ist deshalb unmäßig. Aber, keine Frage, auch die kleinen Geschwister der Cancel Culture, die Call-out Culture („Rassist!“) und der Shitstorm (#DieterNuhr), können in der Academia, im Journalismus und in der Kunst für einen „chilling effect“ sorgen, also für eine vorauseilende Zurückhaltung aus Furcht vor hohen psychologischen, sozialen oder finanziellen Kosten gewisser Äußerungen. Für einen Redakteur, der im Meinungsbusiness tätig ist, ist es keine gewagte These zu behaupten, dass die Skrupel, legitime, aber unbequeme Meinungen zu äußern, in ähnlichem Maße zugenommen haben wie die Wahrscheinlichkeit, vors Twitter-Tribunal gezerrt zu werden. Aber wem ist das zuzurechnen? Ist es das Verdienst radikaler, lautstarker Minderheiten, wenn ihre Einschüchterungsversuche fruchten? Eben nicht nur. Es gäbe k
eine Erfolge einer „Empörungs-Industrie“, wenn es keine Institutionen gäbe, die vor ihr einknickten. Tatsächlich hat niemand die Deutsche Forschungsgemeinschaft gezwungen, ein Statement des Kabarettisten Dieter Nuhr von ihrer Webseite zu entfernen, nur weil der sich über Greta Thunberg lustig gemacht hatte. Niemand hat in Wahrheit auch den Radiosender Bayern 3 gezwungen, einen für seine Polemiken bekannten Moderator öffentlich abzuwatschen, weil der eine derbe Beschimpfung einer südkoreanischen Boygroup losgelassen hatte und der Sender darauf mit dem Hashtag #BR3Racist überzogen wurde. Bayern 3 bat gegenüber dem Empörium mit den Worten um Verzeihung: „Wenn Aussagen von vielen Menschen als beleidigend und rassistisch empfunden werden, dann waren sie es auch.“ Wenn man diese Aussage zur Maxime erhebt, müsste man den kritischen Journalismus ebenso einstellen wie die Wissenschaft.
Thesenselbstmord aus Angst vor dem Twitter-Tod ist keine Cancel Culture. Es ist schlicht Feigheit. Universitäten ebenso wie Redaktionen sollen den Mut fördern, gegen dieses Einknicken aufzustehen. Emotionalen Kurzschluss mit ruhiger Argumentation zu kontern ist eine der Tugenden, die Institutionen wie ihnen die Glaubwürdigkeit sichern – und damit ihren kulturellen Wert.