Putins Krieg hat es endgültig klargemacht: Wir müssen raus aus Öl und Gas. Jetzt. Aber wie schaffen wir das? Und wie schnell?
Straßburg, Europäisches Parlament, 4. Mai. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen präsentiert das sechste EU-Sanktionspaket gegen Russland. „So today, we will propose to ban all Russian oil from Europe“, sagt die Deutsche. Weiter kommt sie nicht, sie wird vom Applaus der Abgeordneten unterbrochen. Bis Ende des Jahres sollen russische Öllieferungen nach Europa Geschichte sein, von längeren Übergangsfristen für wenige Staaten abgesehen. Trotzdem: Es ist ein historischer Moment.
Seit dem 24. Februar, als Russland die Ukraine überfallen hat und Europa eingestehen musste, dass es mit seinen fleißigen Öl- und Gaskäufen den blutigen Krieg mitfinanziert, ist klar: Jetzt ist der Punkt da, wo wir bei der Energie das Ruder herumreißen müssen. Ab sofort, möglichst schnell. Jetzt gilt keine Ausrede mehr. Die Hoffnungen, die wir an die fossilen Energien geknüpft haben – ewiger Wohlstand, unendliches Wachstum –, haben sich endgültig zerschlagen. Die Klimakrise hat uns gezeigt, dass wir uns unserer eigenen Lebensgrundlagen berauben. Auch sind wir „faustische Pakte“ eingegangen und haben uns Öl und Gas aus Diktaturen liefern lassen. Im Vergleich zur noch klimaschädlicheren Kohle erschien Gas als passabler Übergangs-Stoff. Dass es jetzt auch keine gute Idee ist, uns einfach von anderen Autokraten oder von besonders umweltschädigend gefördertem Schiefergas aus den USA abhängig zu machen, ist auch offenkundig. Aber wie schaffen wir es, uns von den fossilen Rohstoff en zu befreien?
Russisches Öl lässt sich recht einfach ersetzen, russisches Gas nicht
Beim Ölembargo war von Anfang an klar, dass Ungarn, die Slowakei und Tschechien mehr Zeit für den Ausstieg bekommen, weil sie besonders von russischem Öl abhängen. Dennoch drohte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán wenige Tage später mit einem Veto. Österreichs schwarz-grüne Regierung akzeptierte das Embargo ohne Änderungen. „Das wird unbequem werden, es wird zu Preissteigerungen und zwischenzeitig auch zu Versorgungsschwierigkeiten führen“, sagt Achim Walter Hassel, Leiter des Instituts für Chemische Technologie Anorganischer Materialien an der Johannes Kepler Universität (JKU). Dennoch könne Österreich das gut verkraften: Öl lässt sich relativ einfach transportieren.
Das ist beim Gas anders, und die bange Frage, die ganz Europa umtreibt, lautet: Was kommt da noch alles auf uns zu? Strömt als Nächstes auch kein russisches Gas mehr nach Europa? Sei es, weil die EU es stoppt, sei es, weil Putin die Hähne so wie in Bulgarien und Polen zudreht? Werden die Bürger von Dublin bis Bukarest im nächsten Winter frieren, müssen die Fabriken die Arbeit einstellen? Und halten die Volkswirtschaften das aus? Russland deckt immerhin rund 40 Prozent des Gasverbrauchs in der EU ab. Österreich, das auch nur knapp ein Zehntel seines Bedarfs aus eigener Förderung gewinnt, bezieht sogar 80 Prozent seiner Importe aus Putins Reich. Einen raschen Ausstieg halten manche daher für völlig blauäugig, auch Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) und sogar die grüne Energieministerin Leonore Gewessler steigen auf die Bremse. Walter Boltz hingegen, der viele Jahre die österreichische Energieregulierungsbehörde E-Control geleitet hat, erklärte im „Falter“, Europ a könne das bis zum nächsten Winter schaff en. Doch früher oder später wird auch der Gasstopp kommen: Die EU-Kommission arbeitet am endgültigen Aus bis 2027.
Österreichs neuer Plan
Was Österreich dazu tun muss, dafür hat die Österreichische Energieagentur im Auftrag des Klimaministeriums einen Fahrplan ausgetüftelt. Die drei zentralen Maßnahmen: Erstens kurzfristig auf andere Lieferländer setzen. Längerfristig, zweitens, so viel Gas wie möglich einsparen oder durch andere Energieträger ersetzen. Und, drittens, selber Gas erzeugen, in Zukunft vor allem Grünes. Vorerst freilich muss Österreich weiter Erdgas importieren und nehmen, was es kriegen kann. Nur soll es jetzt mehr Öl aus Norwegen und anderen europäischen Ländern kaufen. Auch neue Importrouten sowohl für Pipeline-Gas als auch für fl üssiges Erdgas (LNG) wird es brauchen. US-Präsident Joe Biden hat bereits angekündigt, ein Drittel des gesamten EU-Erdgasbedarfs zu bedienen. All das könne aber „keine dauerhafte Lösung“ sein, mahnt die Energieagentur. Ab 2027 sollen die Importe generell sinken.
Die Ziele müssen ambitionierter werden
Klappen soll das vor allem durch das Einsparen von Gas. Fast ein Drittel des derzeitigen Verbrauchs, glaubt die Agentur, kann weg. Indem Erdgas durch andere Energieträger ersetzt wird – und durch mehr Energieeffizienz. Am leichtesten gehe das dort, wo Gas zum Heizen von Räumen und Warmwasser sowie zum Kochen verwendet wird. „Bis 2030“, so die Agentur, „kann die Hälfte der 1,2 Millionen Gasheizungen umgestellt werden.“ Als Alternativen bieten sich Wärmepumpen, Nah- und Fernwärme sowie Biomassekessel an. Auch für die Stromerzeugung ging bisher eine gewaltige Menge an Gas drauf. Hier sollen künftig Wasser- und Windkraftwerke sowie Photovoltaikanlagen einspringen. Und die Industrie? Für sie sieht die Energieagentur Umstiegsmöglichkeiten etwa dort, wo Temperaturen unter 200 Grad Celsius benötigt werden. Da soll es also heißen: Weg mit den Gaskesseln, her mit Wärmepumpen, Biomasse und Fernwärme. Teile der Industrie – die Stahl- und Zementproduktion, die Chemische Industrie – können aber auf Gas noch nicht verzichten. Auch um Spitzenlasten bei der Strom- und Fernwärmeerzeugung abzudecken, geht es nicht ohne Gas.
Die Lösung: Grünes Gas. Österreich könne das zum Teil importieren, soll es aber auch kräftig selber produzieren, so der Plan. Wobei „es mehrere Jahre dauern wird, bis nennenswerte Mengen (aus heimischer Grüngaserzeugung, Anm.) zur Verfügung stehen“. Was die Regierung bisher als Ziel für die Grüne Gasproduktion geplant hatte, sei im Übrigen angesichts der neuen Weltlage viel zu wenig. Genau dasselbe gilt für den Strom: Auch hier müsse die Ziellatte kräftig höher gehängt werden. Laut dem Erneuerbaren- Ausbau-Paket soll Österreich bis 2030 so viel Grünen Strom erzeugen, dass er übers Jahr gerechnet den heimischen Bedarf komplett deckt. 27 Terawattstunden zusätzlich. Schon dieses Ziel galt als sehr sportlich. Doch mit der neuen Situation – allein all das Gas, das nun zackig durch Strom ersetzt werden soll – wird sogar noch viel mehr nötig werden. „Die größte Herausforderung“, sagt Andrea Kollmann vom Energieinstitut der JKU Linz, „wird die Zeit bis 2040 werden, wenn der Industrieund der Verkehrssektor zu elektrifi zieren sein werden.“
Aber woher all den nötigen Strom nehmen?
Ministerin Gewessler will vor allem die Dächer voller Sonnenstromanlagen sehen. Das Erneuerbaren-Ausbau- Gesetz sieht den stärksten Zuwachs für die Photovoltaik vor, gefolgt von Windkraft, Wasserkraft und Biomasse. Doch die meisten Bundesländer erfüllen mit ihren Ausbauplänen die Klimaschutzziele bei weitem nicht. Viele sind auch säumig im Festlegen von Zonen, in denen etwa Windräder vorrangig oder aber auf keinen Fall stehen sollen. Das liegt auch daran, dass Windräder und teils auch Photovoltaikanlagen auf heftige Widerstände stoßen. Umwelt- und Artenschützer stellt die Energiewende vor Zielkonflikte: Windkraftwerke töten Vögel und Fledermäuse. Solarmodule auf Freiflächen brauchen viel Platz – etwas anderes ist es, wenn sie eine Symbiose mit Landwirtschaft eingehen und unter den Solarpaneelen Gemüse wächst oder Schafe grasen.
Prinzipiell ist das Photovoltaik-Ziel der Regierung laut einer neuen Studie der Wiener Universität für Bodenkultur (BOKU) zu schaffen: Theoretisch reichten sogar die Dachflächen auf größeren Gebäuden wie Supermärkten und Lagerhallen, wie BOKU- Forscher Christian Mikovits im „Standard“ erklärte. Praktisch hieße das aber, dass bis 2030 jeden Tag 400 Anlagen installiert werden müssten. Weil das unrealistisch sei, werde man zumindest vorläufig auch freie Flächen am Boden nutzen müssen: Mit 0,7 Prozent aller Freiflächen kämen die geplanten elf Terawattstunden auch zusammen, so der Forscher. Dass der PV-Ausbau in der Praxis nur schleppend vorangeht, liegt daran, dass „es zu viele Restriktionen und Regelungen gibt“, so Serdar Sariciftci, Leiter des Instituts für Physikalische Chemie und des Instituts für Organische Solarzellen an der JKU. „Bei der Corona-Krise haben Finanzminister und Bundeskanzler gesagt: ‚Koste es, was es wolle‘. Genau diesen Satz möchte ich für die Energiewende hören.“ Experten bezweifeln, dass die von der Regierung vorgesehenen Mittel reichen, auch wenn die Umweltministerin kürzlich einen zusätzlichen Topf bereitgestellt hat. Sariciftci ist jedenfalls überzeugt: Würde man die Erzeugung und den Verkauf von Solarstrom gesetzlich freigeben und gezielt finanzieren, dann gäbe es auf Solaranlagen genau denselben Run wie auf die derzeit ausverkauften Wärmepumpen.
Gesetzliche Vorgaben könnten den Ausbau der Erneuerbaren beschleunigen
Der Batterienexperte Achim Walter Hassel plädiert dafür, zumindest für kommerzielle Gebäude und neue Einfamilienhäuser einen verbindlichen Anteil an Photovoltaik-Flächen vorzuschreiben. Wien, die Steiermark und Niederösterreich tun dies für Neubauten bereits. Schließlich, so Hassel, stünden allein mit den Dächern auf Industriegebäuden und Supermärkten sowie den Lärmschutzwänden von Autobahnen riesige Flächen bereit. Bei Wohnbauten ist es laut Hassel wichtig, etwa für die Dächer Rohre vorzuschreiben, die einen jederzeitigen Anschluss einer PV-Anlage erlauben. „Da sprechen wir von Kosten von etwa hundert Euro“, sagt Hassel. „Fehlt das aber, ist ein späterer Anschluss nur sehr viel aufwendiger zu bewerkstelligen.“ Förderungen sollten zusätzlich Anreize für bestehende Gebäude setzen. Wärmepumpen, PV-Anlagen auf Dächern, sogar kleine transportable Ein-Paneel-„Balkonkraftwerke“ gibt es schon: Die Herstellung von Energie wird also dezentraler werden, die Bürger werden mehr mitmischen.
Das Speichern von Energie wird zur Schlüsselfrage
Selbst beim ehrgeizigsten Erneuerbaren- Ausbau bleibt aber noch ein Problem: Sonne und Wind scheinen und wehen, wann sie wollen, und scheren sich nicht darum, ob gerade besonders viele Menschen kochen, waschen oder heizen wollen. Es braucht also Speicher für den Grünen Strom, sodass er unabhängig vom Wetter und auch über Jahreszeiten hinweg in ausreichender Menge abrufbar ist. Derzeit sind die Möglichkeiten dafür noch überschaubar. Um den eher kurzfristigen Ausgleich vor allem zwischen Tag und Nacht kümmern sich einige Pumpspeicherkraftwerke, und dank seiner Topografie hat Österreich noch einiges Potenzial für den Bau weiterer solcher Kraftwerke samt Stauseen. Allerdings stehen diese Projekte wieder in einem Spannungsfeld mit dem Naturschutz und dem Landschaftsbild. „Die Speicherung von Strom über saisonale Grenzen hinweg, also um etwa sommerlichen Sonnenstrom in die Wintermonate zu ‚verschieben‘, ist durch Umwandlung des Stroms in Wasserstoff möglich“, erklärt Andrea Kollmann vom Energieinstitut an der JKU Linz. Dies sei aber im industriellen Maßstab noch in Entwicklung, immerhin schreite die Forschung gut voran.
Martin Kaltenbrunner, der an der JKU an leichten, flexiblen Solarzellen forscht, sieht auch die Speicherung zunehmend als etwas, das auch die Bürgerinnen und Bürger mitübernehmen können. Künftig müsse es für alle Energiespeicher für zu Hause geben, „alle E-Autos sollen künftig als Stromspeicher mitverwendet werden können“. Sein Kollege Hassel sieht die Forschung hier gerade große Fortschritt e machen. „Derzeit rechnet sich ein Batteriensystem für Private mit einer PV-Anlage am Haus noch nicht, mit dem steigenden Strompreis wird das jedoch sehr bald rentabel werden.“ Einen Beitrag leisten könnten auch sogenannte Supercaps, die Hassel entwickelt: Derzeit kennt man sie vor allem als kleine, kostengünstige Gartenleuchten, die tagsüber Energie einsammeln und nachts leuchten. Vorteil: Sie lassen sich sogar aus pflanzlichem Fasermaterial aus Österreich herstellen.
Das Potenzial, Energie zu sparen, ist groß
Kaltenbrunner betont aber auch die Notwendigkeit des Energiesparens: „Davon ist wenig zu hören, dabei ist das am schnellsten umsetzbar.“ Wie viel da möglich ist, hat der Forscher 2011 erlebt: Er arbeitete in Tokio, als die Reaktorblöcke des Atomkraftwerks Fukushima nach einem Erdbeben zerstört wurden. Das Land stellte daraufhin für ein Jahr lang sämtliche Nuklearkraftwerke ab. „Es gab dann ständig öffentliche Aufrufe zum Stromsparen“, erinnert sich Kaltenbrunner. „Wir sollten in den Laboren die Großgeräte nicht mehr benützen und die Klimaanlagen aus- oder zumindest runterschalten. Und nicht nur wir, die ganze Bevölkerung hat sich wirklich daran gehalten.“ Eines ist auch klar: Billig wird Energie in den nächsten Jahren nicht mehr werden. „Wir haben lange geschlafen“, sagt JKU-Forscher Martin Kaltenbrunner. „Und wenn man etwas last minute machen will, wird es eben teurer.“ Europa habe die Technologieentwicklung etwa für Photovoltaik- Module Ländern wie China überlassen.
Auch Österreich habe viel zu wenig in die Forschung zu Erneuerbaren Energien investiert. „Hätten wir hier vor zehn Jahren Geld in die Hand genommen, hätten wir heute ganz andere Möglichkeiten.“ Volkswirtschaftlich wird Österreich von der Energiewende dennoch kräftig profitieren, wie das JKU-eigene Energieinstitut noch vor der Ukraine- Krise in einer Studie errechnet hat. Schließlich müssen die Teile für all die neuen Anlagen hergestellt werden, jemand muss sie planen, aufstellen und warten. Mehr als 100.000 Arbeitsplätz e könnten pro Jahr entstehen, das Bruttoinlandsprodukt könnte um fast zehn Milliarden Euro jährlich nach oben schnalzen. Gleichzeitig würde sich die Klimabilanz massiv verbessern. „Eine doppelte Dividende also“, so die Studienautoren.