Norbert Trawöger bemerkt staunend am Rand, dass die Mitte nicht immer in der Mitte liegt und wahre Anarchie nicht heißt, andere auf den Kopf zu stellen, sondern sich selbst.
Ich weiß nicht, wann und wo Sie diese Zeilen lesen, noch kenne ich Ihre Beweggründe, dies zu tun. Eine Zeitungsseite – selbst so eine große wie diese – ist nicht der Ort, um in einen gleichberechtigten Dialog im Sinne von Rede und Gegenrede, Erwiderung oder Zustimmung treten zu können. Ich danke Ihnen für Ihr Hinwenden und bin an nichts mehr als an Ihren Gedankengängen interessiert, die Sie über diesen Text hinausführen. Was wären wir ohne Du, das uns zuhört, das uns anspricht, das sich uns zuwendet, einem Du, in dessen Gesicht wir viel mehr lesen, als je in Worte fassbar ist. Ein gegenwärtiges Du katapultiert uns sofort in eine Sphäre, einen unabdingbaren Urzustand von Menschsein.
Übers Staunen reden.
Vor Jahren sah ich im Zürcher Kunsthaus eine Ausstellung von Kunstwerken des großen bildenden Künstlers Alberto Giacometti. Gleich zu Beginn der Schau ergriff mich kein Werk aus seinen Händen, sondern ein Gemälde seines Künstlervaters Giovanni Giacometti. Es zeigt die Mutter, die Frau des Malers, die den vielleicht zweijährigen Alberto in Händen hält. Das Kind trinkt aus seiner Milchflasche, die er elegant umfasst, und blickt dem Betrachter mit hellwachen Augen entgegen. Es war sein unschuldig weltaufnehmender Blick, der mich sofort einnahm und nicht mehr los ließ. Ich, der ich gern innerlich wie äußerlich in Bewegung bin, stand plötzlich wie angewurzelt vor diesem Bild. Naturgemäß konnte ich mir in diesem Augenblick nicht zusehen, aber mein Mund muss offen gestanden sein; ein Indiz dafür, dass es sich um den Zustand des Staunens gehandelt haben muss. Vielleicht erinnerte mich dieses wache Angeschautwerden an die Blicke meiner eigenen Kinder. Wer weiß, was man wahrnimmt, wenn man etwas für wahr nimmt. „Zuerst die Masse und das Gesicht wahrnehmen. Dann die Augen schließen und die Fingerkuppen langsam wandern lassen. Andere Sinne miteinbeziehen, sich orientieren. Oberflächen spüren, Feinheiten, Rauheiten, Bilder im Kopf zusammensetzen, Nase, Auge, Ohren, Unregelmäßigkeiten ertasten. (…) Ein Vorgang höchster Konzentration. Alberto schafft Stille“, schrieb Renato Bergamin in seinem Buch „Über Giacometti reden.“
Am Rand bemerken.
Jeden Morgen bringe ich meine kleine Tochter in den Kindergarten. Sie vergewissert sich, dass ich ihr beim Weggehen „vom Rand und nicht von der Straße“ zuwinke. Was das bedeutet, weiß ich nicht. Es spielt auch keine Rolle, denn ich mache es offenbar instinktiv richtig. (die bedeutung / liegt in der bedeutung / und auf die / ist kein verlass. / Friedrich Achleitner.) Wenn ich am Rand vorm Fenster stehe, sie mir winkt, ich ihr und wir einander Kusshändchen zuwerfen, breitet sich Glückseligkeit in mir aus. Es überkommt mich dabei das zutiefst beruhigende Gefühl, zu ihr zu gehören, ohne dass sie mir gehört. Wir gehören uns, hören uns, stimmen in dem Moment überein. Das Glück ist eben eine Randerscheinung und die Mitte nicht immer in der Mitte. „‚Anarchist‘ ist ein Beobachter, der das sieht, was er sieht, und nicht das, was man gemeinhin sieht. Und er denkt darüber nach, schreibt Paul Valéry in seinen „Prinzipien aufgeklärter An-archie“ und stellt den Anarchisten unter Anführungszeichen, genau an den Rand zum Beobachter, der das sieht, was er sieht. Meine Tochter verabschiedet sich frühmorgens auch mit „Tschüss, Küche!“ von ebendieser. Das erinnert mich an den weltberühmten Pianisten Krystian Zimerman, der sich nach einem Konzert bei seinem Flügel mit einer tiefen Verbeugung bedankt hat. Wie der Linzer Domorganist sich 1868 beim Weggang aus Linz vor den Spieltisch seines geliebten Instruments hinkniete und mit Bleistift „Lebewohl“ eingravierte. Der Einschreibende hieß Anton Bruckner, und seine Achtsamkeit galt offensichtlich auch den Dingen, denen er sich anvertraut hat. Solche Geschichten nehmen einen wunder, verursachen Staunen. Ich erinnere mich an den Straßenkehrer meiner Kindheit, der so sanft und poetisch die Wege fegte, dass es einen nicht wunder nimmt, dass er nebenbei Mundartgedichte verfasste. Ich erinnere mich an meinen Großvater, der scheinbar mühelos und stundenlang seine Wiesen mit der Sense mähte. Er schien beim Mähen in und mit der Landschaft zu fließen. Opa wusste in schwingenden Körperabläufen zu arbeiten; anders war die viele Arbeit ohne Maschinen gar nicht bewältigbar. Nur vier Jahre Schulbildung hatte der 1904 geborene Hausruckviertler Kleinbauer, der es von seinem Hof kaum weiter als zur Landwirtschaftsmesse nach Wels und als ordentlicher Katholik einmal zu einer Papstmesse nach Rom geschafft hat. Sein Leben lang hat er die Nächte durchgelesen und mir als Kind schon klargemacht, dass Wissen nichts mit der Dauer von Schulbildung zu tun hat. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass man vom Staunen nur in der Erinnerung reden kann, das sich Glückseligkeit zufällig einstellt? Haben Sie schon einmal bemerkt, dass pures Staunen still ist? Die Begeisterung danach kann lautstark sein. Während des Staunens kommt man nicht auf die Idee, darüber reden oder tanzen zu wollen; danach schon.
Zuwendung heißt wahrnehmen.
Was will ich Ihnen sagen? Ich weiß es nicht und doch genau. Vielleicht möchte ich hier an dieser Stelle – schön, dass Sie noch da sind – einen Aufruf zu einem gerüttelt Maß an Anarchie tätigen. Anarchie heißt in erster Linie nicht, andere auf den Kopf zu stellen, sondern sich selber. Fragen Sie nicht, was richtig und was falsch ist. Alles hat Bedeutung, wenn wir uns ihm zuwenden. Zuwendung heißt wahrnehmen. Vergessen wir nicht, dass wir wahrnehmen, was wir für wahr nehmen. Auch das Gegenteil kann wahr sein: Stellen wir uns nur auf den Kopf. Das Gefundene muss nicht das Gesuchte sein. Es gibt Beziehungen zwischen allen Dingen, dazu braucht es keine gemeinsame Ursache. Die Verursacher sind wir. Das Unerwartete trifft den Vorbereiteten.
Am Spielplatz des Daseins.
„Papa, wenn ich erwachsen bin, dann gehe ich alleine auf den Spielplatz.“ Der Spielplatz als Urort menschlichen Seins, der frei von irgendeiner Verwertungslogik ist; der Spielplatz als Ort kultureller Vielfalt; der Spielplatz als Ort der Lust und Freude; der Spielplatz als Ort für das Unerwartete, das Spielerische, das Gemeinsame, als Ort des absichtlichen oder zufälligen Begegnens und Miteinanders, und selbstredend ein Ort des Staunens. (Es ist Zeit wieder einmal zu schaukeln!) Werden wir endlich alle immer wieder so erwachsen, treffen uns so oft wie möglich genau dort und beanspruchen dieses offene Territorium für alle. Tun unendlich viel dafür, die Unruhe zu sichern, dieses Sicherheitsbedürfnis sollten wir uns wirklich leisten, und vergessen wir nicht: Solange wir ernsthaft über uns selbst lachen können, mag die Lage vielleicht aussichtslos sein, aber niemals hoffnungslos. Sogar der scheinbar gegensätzlichen, österreichischen Variante – es sei hoffnungslos, aber nicht aussichtslos – liegt das Prinzip Hoffnung zugrunde. Bleiben wir unentwegt gestaltungswillig, vernachlässigen wir gnadenlos die eigenen Bequemlichkeiten, und treten wir jenen mit Bestimmtheit entgegen, die nie im Leben über sich lachen würden.
Die Zuverlässigkeit der Unruhe.
In Walter Helmut Fritz’ Gedicht „Die Zuverlässigkeit der Unruhe“ aus dem Jahre 1966 heißt es: „Nicht einwilligen. / Damit uns eine Hoffnung bleibt. / Mit den Dämonen rechnen. / Die Ausdauer bitten, sie möge mit uns leben. / Die Zuverlässigkeit der Unruhe nicht vergessen.“ In diesem Sinne versucht der Kepler Salon immer wieder Unruhe, Bewegung im Denken und Fühlen zu verursachen. Wir reden über die Kraft der Gemeinschaft, den Menschen, die Autonomie von Drohnen oder den Schnee. Und Christine Haiden wird ab sofort quartalsmäßig Gespräche über das Morgenland führen. Reden Sie mit!
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