Vor einigen Jahren appellierte meine kleine Tochter an mich: „Papa, du bist ein Wahnsinn. Kannst du wieder einmal ein bisschen normal werden?“ Welche Erfahrung die Vierjährige gemacht hat, um auf einmal zu bemerken, dass ich nicht normal bin, weiß ich nicht. Ich vermeide bewusst den Konjunktiv.
Außer der Norm war ich schon als Achtjähriger, als ich Tag und Nacht die „Vierte“ von Bruckner gehört habe. Als Musikerkind greift man eben früh nach Flöte und Schallplatten – wie ein Spross eines Tischlerhaushalts vermutlich nach Hobel und Pressspanplatte. Mein Bruder ist übrigens doch Tischler geworden. Er wusste dies schon im zarten Kindergartenalter und hat nie wieder an seiner Berufswahl gerüttelt. Das Abnormale bemerken wir erst, wenn sich etwas vom Gewohnten, Üblichen zu unterscheiden beginnt. Abweichung weckt Irritation, Sehnsucht oder Neugier. In den meisten Fällen bringt sie Möglichkeiten mit sich, die mitunter gerade noch unmöglich schienen.
Unser pandemischer Ausnahmezustand zwingt uns, mit vielem anders umzugehen, als wir es gewohnt waren. Zeit, du bist ein Wahnsinn. Kannst du wieder einmal ein bisschen normal werden, zitiere ich sinngemäß meine Tochter weiter. Wobei die Frage ist, wie lange etwas dauern muss, um als Ausnahme durchzugehen, und nicht doch schon längst wieder zur Normalität geworden ist. Diese wird uns dann als neue Normalität verkauft. N. N. bedeutet normalerweise Nomen nescio, Nullum nomen, Nomen nominandum bzw. Numerius negidius, was in etwa meint, dass ein Name bekannter- oder unbekannterweise nicht oder noch nicht genannt wird oder werden kann. Danken Sie dieses Wissen nicht mir oder meiner verehrten Latein-Professorin, sondern Wikipedia. Es lebe das im Netz verifizierte Halbwissen.
Wir brauchen die Norm als Geländer, um uns orientieren zu können. Sie wird damit zu einer stillen Vereinbarung, deren Zustimmung gar nicht erst eingeholt werden muss. Insofern könnte man das Normale als kulturelle Übereinkunft betrachten. Ausgerechnet auf einem Geländer, das vor der profanierten Linzer Kapuzinerkirche die Fußgehenden vor dem Autoverkehr schützt, habe ich den Satz entdeckt: „Du bist der Stau.“ Während ich auf das Einfädeln in die Hopfengasse warten musste, nahm ich diese Ansage im Auto sitzend wahr. Alle heimischen Autofahrerinnen und -fahrer kennen diesen neuralgischen Punkt im Linzer Verkehrsgeschehen. Wenn man endlich drankommt, ist es immer wieder ein kleiner Kick, ob man es im kleinen Zeitfenster schafft, sich Richtung Römerbergtunnel einzugliedern. Unbeschwertes Vorankommen passiert woanders, wobei die Chancen auf Verkehrsbehinderungen in Linz generell nicht so schlecht stehen. Aber dies will hier nicht weiter Thema werden. Du bist der Stau, wird einem hier auf den Kopf zugesagt. Noch dazu ist der Blickwinkel so gewählt, dass dies nur aus dem stehenden Auto zu lesen ist.
Als Lehrer, der ich drei Jahrzehnte sein durfte, war ich immer auf der Lauer, solche Situationen herbeizuführen. Man legt einen zufälligen Stolperstein, bastelt eine Engstelle, an der die Schülerin, der Schüler vorbeimuss, und dadurch etwas erfährt, was obendrein und nebenbei noch unverständlich benannt wird. Wie wir alle wissen, lernen wir am besten durch Erfahrung. – Oder auch nicht, wenn die oberste Prämisse ist, an der – weiß ich wie alten – Normalität festzuhalten.
Wenn die Erfahrung dann gleich noch in einem klaren theoretischen Überbau – wie einem einfachen Satz – bewusst vertieft wird, könnte man dies als Beispiel formvollendeter Pädagogik anführen und zeigen, wie sehr sich Theorie und Praxis bedingen. Pädagogik ist die Kunst des gut argumentierten Fallenstellens. Mitten im Stau wird mir bewusst, dass ich es bin und nicht die Anderen. Würde ich aufs Auto verzichten, stünde ich nicht nur mittendrin, sondern würde einen Beitrag zur Entspannung des Verkehrs an dieser Stelle leisten. Die Würde gehört dem Indikativ, nicht dem Konjunktiv und Eigenverantwortung ist nicht das Gegenteil von Verantwortung. Sobald wir in die eigene Verantwortung gehen, nach eigenen Antworten suchen, finden wir sie auch für unsere Mitmenschen. Wobei am gleichen Strang zu ziehen noch gar nichts heißt, wie der große Helmut Qualtinger schon wusste: „Auch Henker und Gehenkter tun das.“
Ein Stau kann viele Gründe haben und entsteht nie aus dem Nichts. Meist sind die Verursachenden gar nicht ins Staugeschehen verwickelt, sie lösen nur aus, was zu einer Kettenreaktion führt. Damit fehlt oft der Lerneffekt für die Aus- und Leidtragenden, die sich einem unüberlegten und teilweise gefährlichen Fahrverhalten anpassen müssen, um selbst sicher weiterfahren zu können. Menschen machen einfach zu viele Fehler. Sie fahren zu dicht auf, sind einen Moment lang unaufmerksam und müssen dann scharf bremsen, was ein Stauauslöser sein kann. Aufmerksamkeit ist ein großes Thema. Sind Sie schon einmal in Rom Auto gefahren? Würde man ins römische Verkehrsgeschehen nur Autofahrende österreichischer Art und Gewohnheit verpflanzen, würde es permanent krachen. Wir sind viel zu lahm in unserer Reaktionszeit. Nebenbei bemerkt, geht dort nicht gleich die Welt unter, wenn es doch einmal zu einem Kratzer durch Kontaktnahme kommt. Der Stoßstange werden nicht nur ästhetische Qualitäten, sondern auch eine abfedernde Funktion zugemutet.
Ganz anders geht es im Tierreich zu, für Ameisen ist zum Beispiel das sichere und stetige Vorankommen aller Verkehrsteilnehmenden das Ziel. In der Forschung beobachtet man Tierschwärme, um herauszufinden, wie der Verkehr effektiver gestaltet werden kann. Eine wichtige Erkenntnis dabei ist, dass Ameisen selbstlos sind. Sie orientieren sich an den Langsamen, wer stehen bleiben muss, tritt zur Seite. Ist Selbstlosigkeit gar ein guter Ansatz hin zur Eigenverantwortung? An der Wortoberfläche würde man dies auf den ersten Blick gar nicht vermuten. Speed kills Eigenverantwortung.
Wir erleben eine sehr fragile Zeit und müssen als Gesellschaft aufpassen, dass die Risse, Gräben und Unterschiede nicht immer noch größer werden. Unsicherheit ist aber immer die große Zeit der Möglichkeiten, auch jener, uns wieder als Gestaltungsbefähigte mit Verantwortlichkeitsveranlagung – man könnte auch Empathie sagen – zu begreifen. Jede, jeder hat Einfluss und es ist höchste Zeit, diesen in Anspruch zu nehmen. Wer es nicht tut, stimmt dem Lautesten zu. Wir können bis zum Sankt Nimmerleinstag diskutieren, ob diese oder jene Maßnahme hilft, oder jene nicht. Nur um nicht missverstanden zu werden, ich finde einen fundierten Diskurs unentbehrlich. Dieser sollte auf wissenschaftlicher Basis, mit Vernunft und Mitgefühl passieren. Was ich vermisse, ist, dass wir vieles nicht mehr bereit sind zu tun, wenn es nicht unser ureigenes, unmittelbares Hoheitsgebiet betrifft. In allen möglichen und unmöglichen Zusammenhängen höre ich seit Jahrzehnten, da könne man nichts tun, dahinter stecken Weltkonzerne, der Chef, die falsche Partei, das rechte Netzwerk, der linke Nachbar oder das schlechte Wetter. Stimmt, gegen das Wetter sind wir machtlos, können aber zu Hause bleiben, wenn es zu stark regnet. Es ist doch gut, wenn man ein Dach über dem Kopf haben darf. Was für viele Menschen gar nicht selbstverständlich ist.
Wir können immer etwas ändern, und wenn es nur für uns ist. Gibt es eigentlich eine radikalere Veränderung als eine selbstverursachte, die einen selbst betrifft? „Wenn ich auch nur im Geringsten dafür verantwortlich bin, dass Menschen in ihrem Inneren mehr Persönlichkeiten entdecken, als sie ursprünglich vermuteten, dann bin ich zufrieden“, sagte David Bowie im Gespräch mit Alan Yentob im Dokumentarfilm „Cracked Actor“ (1975). Ich bin der Stau, ich bin die zweite Welle, ich bin das Klima, ich bin Gesellschaft, ich bin Welt. Die Inanspruchnahme von Verantwortung erfordert nicht immer sofort Heldenmut. Ich bewundere Menschen, die ihr Leben für eine kollektive Sache einsetzen. Dafür bin ich viel zu feig. Es gibt so viele Möglichkeiten, bevor man sein Leben aufs Spiel setzt. Sitzen bleiben ist keine und manchmal doch eine. Das ist Freiheit.