Keine Negierungserklärung von NORBERT TRAWÖGER.
„Ich habe genug“, schreibe ich offen und sicher zu früh in diesen späten Novembertagen. Darf ich das bekunden, wenn ich von vielem mehr als genug habe? Johann Sebastian Bach komponierte seine gleichnamige Kantate für das Fest Mariä Reinigung. Am 2. Februar 1727, zwei Monate vor der Uraufführung der Matthäuspassion, brachte Bach im Frühgottesdienst der Leipziger Nikolaikirche seine Solokantate zur Erstaufführung, die zeit seines Lebens oft und gern gesungen und gespielt wurde. Das Fest firmiert bei uns unter Maria Lichtmess. Präzise gesagt, muss es Mariä Lichtmess heißen, aber das Verhältnis zum Genitiv ist hierzulande nicht so eng. Wobei der fehlende Genitiv bei einem anderen Marienfeiertag größere Verwirrung stiftet, wenn man sich um diese annehmen will. Der beliebte Einkaufsfeiertag Maria Empfängnis. Hier klärt der fehlende zweite Fall auf, dass es sich um die Empfängnis Mariens durch ihre Mutter Anna handelt. In meiner Kindheit haben meine Großeltern zu Lichtmess, vierzig Tage nach Weihnachten, den Christbaum weggeräumt. Heute geht das schneller, dafür sind die Läden mindestens achtzig Tage zuvor mit Weihnachtsleckereien und -schmuck angefüllt und die Weihnachtslieder aufgedreht. Was erst recht falsch ist, denn diese sollten erst ab dem Weihnachtsfest gesungen werden. Zuvor gäbe es einen reichen Schatz an Adventliedern, die gespielt werden könnten. Der Advent kommt nicht mehr an und der Konjunktiv, um den man erst einmal wissen muss, ist beliebter als der Genitiv. Wer will heute noch warten, wenn so wenig zu erwarten ist? Im Land wütet die Pandemie, das Pflegepersonal arbeitet längst jenseits aller Belastungsgrenzen und ich gebe mich im trauten Heim anachronistischen Gedankengängen hin. Die Not, zumindest meine, kann nicht groß genug sein. Ob wir die vierte Welle am 2. 2. 2022 hinter uns haben werden?
„Wie geht es dir heute?“, frage ich Felix. „Sehr gut, ich bin voll ausgestattet!“, sagt er zu mir mit freudiger Stimme und deutet auf eine Schachtel vor sich, in der sich Essbares wie Obst und Kekse findet. Ich mag seine unermessliche Heiterkeit und weiß wenig über ihn. Vor kurzem sind wir intensiv über eine Beethoven-Sinfonie ins Gespräch gekommen. Er hat mich mit seinem fundierten Hintergrundwissen überrascht, mir unterschiedliche Passagen daraus vorgesungen. Sein sehnlicher Wunsch wäre es, wieder einmal eine live im Konzert zu hören.
Im Vorbeigehen begegnen wir uns regelmäßig und haben uns im Laufe der letzten Jahre angefreundet. „Du bist Künstler und ich bin Überlebenskünstler!“, sagt er. Felix wohnt in meiner Straße. Nein, er wohnt auf meiner Straße, neben der Einfahrt zu einer Tiefgarage, wo das Dach etwas vorspringt, das ihn vor Regen schützt. Wir haben im selben Jahr das Licht der Welt erblickt, sind in diesem ein halbes Jahrhundert geworden. Ob er so spärlich wie ich gefeiert hat, habe ich ihn nie gefragt. Irgendwann hat ihm das Leben Dach und Arbeit genommen, offensichtlich niemals die Zuversicht.
Ich denke an Ilse Aichinger und den Satz, den sie in einem „Zeit“-Interview zu ihrem 75. Geburtstag ausgesprochen hat: „Aber die größte Begabung ist doch die, auf der Welt sein zu können. Es auszuhalten, mit einem gewissen Frohsinn.“ Diesen zähle ich auch zu meiner Grundausstattung. Ich frage mich oft, ob man Frohsinn bei der Geburt ungefragt geschenkt bekommt oder ob man sich unabhängig von der Schwere des Daseins leichter dazu entscheiden vermag.
Felix hat auf ein kleines Radio gespart. In später Nacht komme ich auf dem Weg nach Hause an ihm vorbei. Er schnarcht lautstark und aus dem neuen Radio singt Andrea Bocelli „Time to Say Goodbye“. Ich kehre in unsere gut beheizte Altbauwohnung zurück, die mir plötzlich übermäßig groß vorkommt. Tags darauf ruft mir Felix schon von weitem zu, um mir freudvoll zu erzählen, dass er Umzugsschachteln geschenkt bekommen hat. Er zieht nicht um, er werde sich Möbel daraus bauen, um seine Habseligkeiten darin zu verstauen.
Das Wort „Habseligkeiten“ wurde 2004 vom Deutschen Sprachrat zum „schönsten deutschen Wort“ gekürt, was zu heftiger Kritik geführt hat. „Habseligkeiten haben nichts mit (sozialromantischer) Seligkeit zu tun, sondern mit Häcksel, Mitbringsel, Streusel oder Überbleibsel. Das Diminutivsuffix bezeugt allein: Geringes, Weniges, Kärgliches, Belangloses – nur Brösel und Schnipsel eben“, liest man bei Thomas Kapielski in seinem Buch „Leuchten. A- und So-phorismen“. Mindestens ein anderer Begriff findet dieser Tage häufig misslungenen Gebrauch: die Diskriminierung. Sie ist jede Form der ungerechtfertigten Benachteiligung, Ungleichbehandlung oder Herabwürdigung aufgrund verschiedener wahrnehmbarer beziehungsweise nicht unmittelbar wahrnehmbarer Merkmale. Ein selbstbestimmtes Verhalten oder eine Handlung kann zu einer Benachteiligung führen, ist aber keine Diskriminierung. Ich will hier nicht die Arroganz eines Bildungsbürgers an den Tag legen, dem das Glück von Bildung und ewiger Neugier hold ist und war. Ich habe mit meiner Herkunft genug Möglichkeiten bekommen, um eine höhere Schulbildung zu absolvieren, der ein Musikstudium folgte. Ich habe genug Bewusstsein, um meinen Eltern dafür dankbar zu sein und es bis heute nicht für selbstverständlich zu halten. Auch wenn Möglichkeiten das eine sind. Sie müssen erst ergriffen und in Leben und Taten verwandelt werden. Nur haben sie nicht alle!
Ich habe genug von Behauptungen, die sich nicht einmal mehr um gute Gründe bemühen. Wobei anzumerken ist, dass gute Gründe immer noch etwas anderes sind als wahre. Ich habe genug von Menschen, die Eigenverantwortung beanspruchen und damit jedwede Verantwortung für den anderen ausschließen. Ich habe genug davon, dass wissenschaftliche Fakten weniger zählen als Privatmeinungen und Gerüchte. Ich habe genug davon, dass Prognosen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht ernst genommen werden und bei Eintreten so getan wird, als wäre man abermals völlig überrascht worden. Ich habe genug davon, dass in Zeiten großer Unsicherheit mit Verunsicherung gespielt wird. Ich habe genug davon, dass das Kalkül der Macht mehr zählt als die Menschen. Ich habe genug vom Gerede über Freiheit, die kein Du kennt und sich nur auf die eigene versteht. Genug davon.
Notiz an uns: „Es ist kaum zu ertragen, dass es keine Zwischentöne mehr gibt“, attestiert Sibylle Berg in ihrer „Spiegel“-Kolumne. Wir sind gefangen in der Entscheidung zwischen hohen oder tiefen Tönen, zwischen oben oder unten, arm oder reich, links oder rechts, nah oder fern, fremd oder vertraut, geimpft oder nicht geimpft, getestet oder ungetestet, faul oder fleißig, heute oder gestern. Das Trennende, das Andere ist schnell ausgemacht, ums Verbindende müssen wir uns ins Feld dazwischen bewegen. Der menschliche Raum ist kein Entweder-oder-Raum, er ist ein Sowohl-als-auch-Territorium. Auf das Dazwischen und die Beweglichkeit kommt es an. Schauen wir uns in die Augen, bleiben wir freundlich. Zu allen, egal, welchem Wissensstand oder welcher Meinung sie anhängen. Von den Zwischen tönen müsste man nie genug bekommen, vom Menschsein sowieso.