Norbert Trawöger weigert sich, alles verstehen zu müssen, und hat mittlerweile begriffen, dass das Halten von Gleichgewicht nicht erklärbar ist.
Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht“, konstatierte der Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg vor mehr als 200 Jahren in seinen „Sudelbüchern“. Ich habe vor dreißig Jahren im Fach Chemie maturiert. Es war eine pragmatische Entscheidung, die auf der Notwendigkeit der Wahl eines naturwissenschaftlichen Maturafaches beruhte. Ein blutjunger Lehrer, der eigentlich Physik studiert hatte, gestaltete den Stoff derart übersichtlich, dass ich ihn mir am Abend zuvor sehr gut aneignen konnte. Darauf hatte ich mich zumindest in diesem Fall blendend verstanden, während meiner Schullaufbahn gelang mir dies weniger gut, aber immerhin meist genügend. Von Chemie verstehe ich bis heute ganz und gar nichts. Der Komponist Hanns Eisler transponierte Lichtenbergs Feststellung zwei Jahrhunderte später in das Feld der Musik: „Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts.“
Wer nur versteht, versteht auch nichts, behaupte ich eigensinnig. Tagtäglich sehen wir uns damit konfrontiert, alles und jedes verstehen zu sollen: Hier muss gespart werden, dies geht aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht mehr, die Kultur hat wieder nur ein Staatssekretariat, Weihnachten war alternativlos grün, zwischen Wetter und Klima ist ein Unterschied, fliegen ist günstiger als mit der Bahn fahren, Tochter 1 ist ein Morgenmuffel, ich kann kaum länger als bis sechs Uhr früh schlafen, auf unseren Straßen leben mehr Menschen denn je, wir alle leben im siebtreichsten Land, Geld macht nicht glücklich, Wasserdampf ist leichter als Luft (Ist das Chemie oder Physik?) … Da soll man die Welt verstehen, wenn man sich selbst nicht immer versteht. Dann sitze ich im nächsten Moment in einem beruflichen Meeting, und das Gegenüber sagt vertrauensstiftend: „Ich bin ganz bei Dir!“ Ich freue mich über das Verstandenwerden, wähne mich in solidarischer Gemeinschaft, um vom eben gewonnenen Komplizen (ich verwende hier bewusst die männliche Form) zwei Minuten später genau das Gegenteil unter die Nase gerieben zu bekommen und somit leichter über den Tisch gezogen werden zu können.
„Schön war es, aber ich verstehe ja nichts davon!“, bekommen wir Musikerinnen und Musiker nicht selten nach Konzerten zu hören. Ich kontere meist, dass ich auch nicht viel davon verstehe, obwohl ich gründlich Musik studiert habe. Ich kenne (musik-)geschichtliche Zusammenhänge, biografische Verläufe und mitunter Beweggründe fürs Schaffen der Werke, vermag manches in seiner Bauweise zu analysieren, aber beim Zuhören kann genau dies zum großen Hindernis werden. Wenn im Bewusstsein das Wissen steckt, kann einen genau dies davon abhalten zuzuhorchen. Wir hören, was wir hören wollen. Kenntnis kann natürlich auch dazu führen, dass man intensiver hört. Nur muss man sich dabei in den unschuldigen Status eines horchenden Menschen begeben, was meiner eigenen Erfahrung nach viel Übung erfordert. Den Kopf zu verlieren ist gar nicht so leicht. Der argentinisch- deutsche Komponist Mauricio Kagel soll gesagt haben: „Musik zu hören ist ganz einfach, außer man hört zu.“ Das gilt nicht weniger für den zwischenmenschlichen Dialog. Es ist kompliziert und Verstehen eine vielschichtige Angelegenheit. Sich blöd zu stellen erfordert zumindest das Wissen, diese Möglichkeit zu haben.
Meine ältere Tochter hat im letzten Jahr Fahrrad fahren gelernt, und ich tat etwas, was vermutlich viele Väter tun. Mit der Hand am Sitz lief ich gebückt hinter dem Kinderfahrrad her und rief unablässig: „Du musst das Gleichgewicht halten!“ Nach wochenlangen Versuchen und Dutzenden Zurufen dieser Art fährt das Kind Rad. Ich wusste es, wenn man das Gleichgewicht hält, dann klappt es eines früheren oder späteren Tages. Genau diese Ansage hat zum ungestützten Fahrradfahren meiner Tochter geführt. Was kompletter Unsinn ist! Ich verstand es, und meine Tochter hat es begriffen (auch, dass ich nichts verstanden habe.) Was soll man mit der Information „Gleichgewicht halten“ anfangen? Etwa Winkelberechnungen anstellen? Man kann es sich letztlich nur selbst beibringen. Kinder sagen dann zu Recht: „Das habe ich mir selbst gelernt.“ Es ist eine Problemstellung, zu der es Wissen gibt, das einem nichts nützt. Jede und jeder muss es sich individuell erobern, erfahren, begreifen, um es zu können. Es ist keine Sache des Intellekts, des Wissens, es ist eine Sache des Körpers, des Begreifens. Es gibt viel zu begreifen, wenn man ergriffen wird. Haben Sie Ihre besten Ideen auch unter der Dusche oder meistens bei körperlichen Vorgängen und nur selten, wenn Sie darüber wissentlich grübeln oder eine Idee haben müssen? Verstehen Sie mich nicht falsch, ich rufe hier nicht dazu auf, ja nur nichts mehr verstehen zu wollen. Ganz im Gegenteil: Zwischen verstehen und verstehen ist ein Unterschied, und ich kann, muss vieles einfach akzeptieren, ohne es zu verstehen. Dabei denke ich nicht nur an die Schwerkraft, warum man sich verliebt, ich jemanden nicht riechen kann oder es in Italien ausnahmslos guten Kaffee gibt. Ich weigere mich nur, alles verstehen zu müssen. Ich will verstehen. Ich will begreifen. Versuchsweise habe ich beschlossen: Ich verstehe nur mehr am Bahnhof! „Die kleinen Stationen sind sehr stolz darauf, dass die Schnellzüge an ihnen vorbei müssen“, schrieb Karl Kraus. Ich verstehe ihn und habe begriffen, dass ich nicht alles verstehen muss und längst nicht kann.
Der Kepler Salon ist kein Bahnhof, aber ein Ort, an dem Sie ankommen und von dem Sie vielleicht verständiger weggehen. Zumindest in dem Sinn, dass auch das Gegenteil wahr sein kann. Am Anfang dieses Quartals erzählt der Linzer ZIB-Moderator Tarek Leitner anhand der Geschichte seines Vaters über das Aufregende im vermeintlich Unspektakulären. Der Beethoven-Frachter hält am Osterwochenende am Donauufer unweit der Apotheke, die der Komponistenbruder Karl einst betrieben hat. Wir begeben uns am Ostersonntag auf „Gehspräche“ und die Linzer Spuren von BEETHOVENS NEUNTEr. In den „relatifs“ widmet sich Johan F. Hartle, Rektor der Akademie der bildenden Künste Wien, der Frage, inwiefern sich die digitale Kultur im Lichte ihrer sozialgeschichtlichen Voraussetzungen hinsichtlich ihrer Abgründe und Potenziale diskutieren lässt. Ob die Infektion mit dem Humanen Immundefizienz- Virus (HIV) ihren Schrecken verloren hat, beantwortet Matthias Skocic, der Arzt am Kepler Universitätsklinikum ist. „Die Zukunft selbst ist zwar eine glatte Konstruktion, trotzdem steckt sie voller Möglichkeiten“, sagt der Trendforscher Harry Gatterer, der bei Christine Haiden zu Gast sein wird. Mit Tom Gschwandtner, seit 1995 Rollstuhlfahrer mit hohem Querschnitt, und Christian Redl, seit 2006 Profifreitaucher und mehrfacher Weltrekordhalter, kommen „Entscheidungsprofis“ zum Thema „Wirklich leben heißt entscheiden“ in den Salon. „Einmal süchtig, immer süchtig?“ beantwortet die Gesundheitspsychologin Barbara Gegenhuber. Aus eigener Erfahrung in Rechtsprechung und Justizpolitik unterbreitet der Wiener Richter Oliver Scheiber Vorschläge für konkrete Bereiche wie Familienrecht, Strafrecht und Strafvollzug zur Frage, wie eine künftige Justiz menschengerechter agieren könnte. In dieser Ausgabe unseres Programms finden Sie Bilder der Linzer Fotografin Zoe Goldstein, die sich mit dem Kepler Salon und seinen „Haltungen“ künstlerisch auseinandergesetzt hat. Goldsteins Fotografien werden uns über das Jahr begleiten. An den Wänden und Nischen des Kepler Salon erwartet Sie in den nächsten Monaten eine Raumintervention unter dem Titel „meine Damen und Herren“ der Linzer Künstlerin Margit Feyerer-Fleischanderl.
Wir erwarten Sie, denn ohne Sie wäre der Kepler Salon nicht der lebendige Möglichkeitsraum, der er ist. Es kommt auf uns alle an, aber was schreibe ich, Sie verstehen mich.
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