Ein Spätsommerabend, die Donau strömt wie flüssiges Silber, der Kellnerandroid stellt mit zurückhaltender Verbeugung zwei goldschimmernde Gläser Schlägl Kristall vor uns hin, denn ich bin eine liberale Autokratin, die viel Verständnis für die Bedürfnisse von Männern hat. Und trotzdem haben die Augen meines Neffen ihren Glanz verloren. War ich zu harsch mit ihm? Bestimmt. Man redet der Jugend nicht ihre Zukunftsvisionen schlecht. Ich lege meine Hand auf seine Schulter. „Wenn du es wirklich willst, kannst du natürlich BWL studieren!“ Sein Kinn zittert. „Es ist mir egal, ob das eine brotlose Kunst ist, ich will Unternehmensberater werden!“, sagt er, und es klingt nicht so trotzig, wie er denkt.
Er hat es nicht leicht als Patenkind einer Despotin. Noch dazu einer, die es gegen die Wirtschaftselite durchgesetzt hat, dass Menschen radikal nach dem gesellschaftlichen Wert ihrer Arbeit und ihren Möglichkeiten bezahlt werden. Da macht man sich ein Geschwader an Feinden, und Sippenhaft ist für Marvin kein Fremdwort. Aber anders hätte das Matriarchat keine Mehrheit gefunden. Bizarr eigentlich, dass wir Frauen uns Jahrtausende lang dermaßen sekkieren lassen haben! Und dass es dieser Seuche bedurfte, um die Revolution auszulösen! Was die Jungen heutzutage gern vergessen, weil es ihnen schon zu gut geht unter meiner Obhut: 85 Prozent der verlorenen Arbeitsplätze waren jene von uns Frauen! Gleichzeitig haben sich die Herren vorgestellt, dass wir zu Hause unbezahlt putzen, pflegen, kochen, unterrichten – und dann auch noch Diät halten, damit wir während des Lockdowns nicht blad werden. Darum ist es mir ungemein wichtig, dass „Frauenkolonialismus“ heute, zwanzig Jahre später, im Lehrplan aller Schulen steht. Jetzt lernt jedes Kind Gerechtigkeitsgeschichte – wenn sie hören, dass Frauen noch im 20er-Jahr 41 Prozent weniger Pension bekommen haben, reißen die Kleinen die Augen auf.
„Muss es denn unbedingt BWL sein?“, frage ich den einzigen Sohn meines Bruders, „wie so ein Betrieb geht, ist doch keine Wissenschaft.“ „Aber der Staat ist ein schlechter Wirtschafter …“, will er sagen, doch ich haue so fest auf den Tisch, dass die anderen Gästinnen sich zu uns umdrehen. „Ich bin der Staat!“ Gut, ein Totschlagargument. „Und wir sind ein stinkreiches Land!“ Marvin gibt noch nicht auf: „Es gibt so viel Sparpotenzial! Ohne Wettbewerb fehlen uns die Innovationen!“ Jetzt werde ich böse. „Schatzi, du willst mich provozieren, das ist dein gutes Recht. Aber es steht nicht ohne Grund in der österreichischen Verfassung, dass Kooperation Mittel unseres Wirtschaftens ist, WEIL ES OBJEKTIV STIMMT!“ Der ganze Gastgarten brummt zustimmend wie ein Hummelschwarm. Ich senke meine Stimme. „Wozu haben wir alles digitalisiert, wenn wir uns nicht das Leben schön machen? Lass’ die Menschen doch so arbeiten, wie es ihnen lustig ist, das geht sich alles aus!“ Er murmelt etwas von „da ginge mehr fürs BNP“, ich knurre. „Marvin, willst du an den Stammtischen der Patriarchen enden, die in ihre Biere weinen? Die greinen, dass der Markt alles regeln soll?“ Er schüttelt den Kopf, nein, zu diesen Außenseitern will er nicht gehören. Dann lächelt er endlich. „Tante Dominika, ich hab’s! Die sitzen im Abseits, weil der Markt wirklich alles regelt, drum haben sie nix mehr zu melden!“ Wir lachen beide herzlich, er ist halt doch mein schlauer Lieblingsneffe, und nein, ich bin nicht traurig, dass es in meiner Familie keine Stammhalterin gibt. Was wäre denn das für ein modriges Denken?
Oft fragen mich ausländische Journalistinnen, warum ich kapitalistische Thinktanks als Subkultur nicht nur zulasse, sondern sogar fördere. „Schauen Sie“, sage ich, „die Mittel stellt meine Männerministerin zur Verfügung, um den sozialen Frieden zu gewährleisten.“ Damit dürfen die Leistungsfetischisten ihre schlecht besuchten Hayek-Leseabende veranstalten, Lyrik über ihre Sehnsucht nach dem Neoliberalismus schreiben oder Ironman-Triathlons organisieren. Es ist wie mit Fuhrknechten oder Bergarbeitern! Wir müssen auf die Menschen schauen, besonders wenn ihre Branchen obsolet werden! Meine Position ist so gefestigt, dass sie es leicht aushält, wenn sich Marktromantiker und Kooperationsleugner daran reiben. Die Gerechtigkeitskritiker dürfen behaupten, was sie wollen, zum Beispiel den ganzen Tag, dass man wegen der politischen Korrektheit gar nichts mehr sagen darf. Sie müssen dafür nur eine Freikirche gründen, denn da geht es um persönliche Glaubensgrundsätze. Die Katholiken glauben ja auch an eine jungfräuliche Geburt, also wo fange ich bei den Privatisierungs- Esoterikern an, wenn ich das rational angehe? Und warum auch? Ich will, dass die Menschen glücklich sind. Eine Diktatorin hat Besseres zu tun, als sich in das Privatleben ihres Volkes einzumischen. Aktuell denke ich etwa an einen Matriarchats-Export in andere Länder, aber nicht militärisch, sondern durch Soft Power. Wie ich damals dem Trump den Krieg erklärt habe, persönlich natürlich, nur Schwächlinge brauchen Waffen, und ihn mit dem ersten Schwinger an sein breiiges Kinn von den X-Beinen geholt habe, das hat schon weltweit Eindruck gemacht.
So, jetzt wird es zu albern. Schluss mit diesem demokratisch fragwürdigen Tagtraum! Lassen Sie mich den verbleibenden Platz hier seriös nutzen. Ich bin keine Feindin der Wirtschaft. Wir sind ja alle Teil davon! Dieser Text bewegt sich im Kreislauf der Waren, Sie lesen ihn, ich bekomme Geld dafür. Der Kapitalismus nervt brutal, aber Sachen kaufen ist super: eine Hose, die genau so „lang“ wie meine Beine ist, neue Wanderschucherl, eine Flasche Champagner für den Mann, den ich von allen am meisten mag (das habe ich fast ohne Wettbewerb herausgefunden).
Sie wissen, eine Welt ohne ihre Ausbeutung können wir uns schwerer vorstellen als ihren Untergang, zumindest kann’s Hollywood nicht. Das Wichtigste, das ich Ihnen hier vermitteln möchte, ist mein Glaube an die Utopie. Und an den Auftrag, unsere Vorstellungskraft mindestens so zu trainieren wie unsere Bauchmuskeln! Ich bin eine große Freundin des Unwahrscheinlichen, des groß Geträumten, des schönen Lebens für alle. Das Gegenteil der faden Weltuntergangs- Dystopien ist die Eutopie, der Zukunftsoptimismus. Den brauchen wir.
Meine Mutter hat sich bis zuletzt über meine wachsende Liebe zum Bergsteigen gewundert. Vor 41 Jahren hatte sie mich besorgt zur Kinderkardiologin getragen, weil mich das Erlernen des aufrechten Ganges so gar nicht reizte. „Nein, die ist nur faul“, sagte die Ärztin. Wenn also aus einem feisten Kleinkind („Pröbstling“) eine immer noch leicht feiste, aber sehr mobile Frau werden kann, wie viel mehr kann aus der Gesellschaft werden? Warum sollte sich so wie das Wandern gegen die Trägheit nicht auch die Vernunft gegen die Ungerechtigkeit durchsetzen?
Und wie lustig ist es eigentlich, wenn Entscheidungsträger den Künstlerinnen bescheiden, ihre Visionen und Projekte seien schön und gut, aber nicht zu bezahlen – und dann selbst milliardenschwere Autobahnprojekte aushecken, für die sie Tunnel durch Granit graben lassen, Felswände sprengen, Hektoliter Beton in Flüssen versenken? Während Schulpsychologinnen und Bibliotheken und Mindestsicherungen zusammengekürzt werden wie der Giersch in meinem Garten? Wenn wir Luftmenschen von einem Milliardenkonjunkturpaket für den Sozialbereich oder ein Landeskunstschulwerk reden, lächeln die vermeintlichen Realos milde. Dabei ist es einfach nur naiv, zu glauben, wir kämen ohne Utopien aus unserem Schlamassel heraus.