NORBERT TRAWÖGER macht sich Gedanken übers Wissenwollen und die Bedeutung von Spielräumen. Dabei denkt er nicht zufällig an den eben verstorbenen großen oberösterreichischen Musikermenschen Balduin Sulzer.
"Wenn man nicht weiß, was man nicht weiß, kann man nicht danach fragen“, heißt es auf einer „Einsichtskarte“ der großen Wiener Dichterin Elfriede Gerstl. Unwissenheit schützt vielleicht vor Wissen, aber nicht per se vor Wissenwollen. Kommen wir nicht doch alle als Improvisierende suchend und versuchend auf die Welt? So erobern wir uns die Welt, holen uns den Sessel heran, um die Grenzen unseres Erfahrungsraums zu erweitern. Wir greifen unwissend auf heiße Herdplatten, fragen warum der Himmel blau ist oder danach, was wir in der S-Bahn zu essen bekommen.
Eine Frage, die mir meine kleine Tochter vor nicht allzu langer Zeit gestellt hat und die ich ganz bemerkenswert finde, denn als Wissender kommen mir diese Fragen gar nicht mehr in den Sinn – und Elfriede Gerstl hat recht. Aber bald kommen die Malbücher, in denen man nicht rausmalen darf, die Schule, wo einem mitunter sehr deutlich gesagt wird, was richtig und falsch ist, was auch sehr oft gut zu wissen ist. Aber mit dem Verlust der kindlichen Wissensunschuld ist die Gefahr nicht gering, unsere grundgelegte Neugier zu vernachlässigen.
Meine Tochter sang im Alter von drei Jahren vorm Bettgehen das Lied von „Hänsel und Gretel“. Als Musikervater war ich begeistert, wie sauber die Tonhöhen waren, aber noch mehr erstaunte mich ihre Textsicherheit über drei Strophen. Ich fragte sie, wo sie dieses Lied gelernt habe. „Im Kindergarten“, antwortete sie und merkte sogleich bestimmt an: „Ich habe es nicht gelernt, ich habe es mir gemerkt!“ Und führte ungefragt weiter aus, dass man „erst in der Schule lernen muss“. Eine Erkenntnis, die sicher nicht ihrem Elternhaus entspringt, aber die sie wohl von ihren älteren schul- und lernpflichtigen Cousinen übermittelt bekommen hat. Sie merkte sich dies einfach, weil sie Lust dazu hatte. Der Kindergarten bietet offensichtlich diesen Raum, diesen Spielraum noch an. Ich frage mich, ob gar der Raum des Spiels ein idealer Erfahrungsraum für Wissenserwerb ist. Ich denke an meine eigene Schulzeit. In den Fächern, die mich interessierten oder für die mich charismatische Vermittlerinnen und Vermittler begeisterten, merkte ich mir die Dinge spielerisch oder war mit lustvoller Mühe daran, meinen Horizont zu erweitern.
Mir kommt der eben verstorbene große oberösterreichische Musikermensch Balduin Sulzer in den Sinn, dessen Biografie ich verfassen durfte. Unterrichten war für ihn einerseits „die Kunst, jemanden zu geistiger Arbeit zu motivieren, und zwar so, dass es ihm letztlich ein Bedürfnis ist, sich in dieser Weise zu betätigen“, andererseits „dem Schüler seinen Weg zu seinen ureigenen, spezifischen Fähigkeiten aufzuzeigen“. Dazu mussten die jungen Menschen aus ihrem oft noch pubertätsgetränkten „Urschleim“ befreit und in Sulzers Metier zur Klangverursachung aufgefordert, hingeführt oder auch genötigt werden, bis dies zu eigenem „Musik-Erbrechen“ führte und die Lust daran eine nicht mehr zu bremsende war. „Jeder, der an sich arbeitet, hat ein Recht darauf, ernst genommen zu werden – über das eigene Talent kommt ohnedies niemand hinaus“, sagte Balduin Sulzer einmal auf die Frage, wer gefördert werden soll.
Der Satz „über das eigene Talent kommt ohnedies niemand hinaus“ wirkt dabei wie ein Vexierbild: Den einen stürzt es in die Resignation, den anderen ist es ein befeuernder Aufruf, seinen Neigungen bedingungslos zu folgen – und so ist es von Sulzer wohl auch gemeint gewesen. Er vermochte wie kein anderer, Bomben zur eigenen Talentexplosion zu legen, die mitunter erst Jahre später losgingen und von der Betroffenen, dem Betroffenen oft als eigene Entdeckung erfahren wurden. Und er stellte auch immer wieder klar, dass man daran arbeiten müsse. Mit Ärger begegnete Sulzer immer wieder den Vorurteilen gegen „herzlose asiatische Fingerakrobaten“, und er hegte einen kritischen Blick auf die musikalischen „Land- und Misthaufengenies“ unserer Heimat, die „ihre Genialität jedoch nur bruchstückhaft umsetzen können, weil sie es halt fingertechnisch nicht alles derkrabbeln …“. „Wir müssen unsere Ideen verwirklichen, reden allein hilft nicht: Wir müssen uns selbst aufs Spiel setzen und zeigen, was wir auf die Beine stellen können!“, schrieb der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer.
Doch zurück zur Frage nach dem Spielraum, den ich stark als Ort der Wissbegierigkeit verdächtige und den Balduin Sulzer so fintenreich und individuell für viele zu errichten wusste. Was ist denn, wenn der Mensch spielt? Wobei ich mich dabei auf den Zustand des „play“ beziehen will und weniger auf das „game“, wie es im Englischen so treffsicher unterschieden wird. An einem nicht lange vergangenen Tage habe ich meine Tochter auf dem Weg vom Kindergarten gefragt, was sie heute gemacht haben. „Wir haben gespielt!“, antwortete sie mit verwunderter Selbstverständlichkeit. „Was habt ihr gespielt?“, frage ich weiter. „Einfach gespielt!“, antwortete sie. Kinder sind die wahrhaftigsten Lehrmeister, die ich mir vorstellen kann. Wer spielt, spielt einfach. Mehr geht nicht. Da geht es nicht um ein warum, nicht um ein was, und das Spiel zielt auch nicht unbedingt auf Unterhaltung ab. Spielen ist ein ganz ernsthafter, ernstzunehmender Zustand: sich mit etwas und von etwas beschäftigen und erfüllen zu lassen, und das kann alles Mögliche und Unmögliche sein. In diesem Urzustand kommen wir alle neugierig auf die Welt. Die Eroberung des Nutzlosen ist mindestens so wichtig wie die Langeweile, durch die man letztlich erst selber zur Finderin, zum Finder wird. Was denkbar wird, wird auch möglich. „Im Spiel ist der Mensch von sich befreit“, schreibt der deutsche Psychologe und Soziologe Heiko Roehl in seinem empfehlenswerten Büchlein „Ich Anderer“. „Wenn Kinder spielen tauchen sie in eine Welt des Als-ob ein. Sie imaginieren Szenerien, Rollen, Situationen. Ihr Spiel schafft befreiende Distanz zur erlebten Wirklichkeit, oft stundenlang und selbstvergessen. Im Spiel können sie sich als Andere erleben, die mächtiger, schöner, besser sind als sie selbst.“ Vielleicht ermächtigt uns genau dieser Zustand zum Wissenwollen. Wer will, der kann. Wer wissen will, kann Wissen und dabei sich selbst erfahren.
„Wenn man weiß, dass man vieles nicht weiß, soll man nach vielem fragen“, erlaube ich mir, Elfriede Gerstls Einsichtssatz zu einem Aussichtssatz umzuwandeln. Im Kepler Salon versuchen wir, einen Spielraum fürs ungehemmte Fragen offen zu halten. Spielen Sie mit, zu verlieren gibt es dabei nichts! Im kommenden Quartal sind wir wieder einigen Fragen auf der Spur, machen aber auch Sommerpause, nicht nur zur Rückeroberung der langen Weile wegen. Die KinderUni OÖ ist bei uns zu Gast, wie es auch eine Schreibwerkstatt des Kuddelmuddel für junge Schreiberinnen und Schreiber gibt. Die drei Bewerberstädte für die Kulturhauptstadt tauschen sich bei uns mit der „alten“ Kulturhauptstadt aus. Wir werden überraschen und abermals mit Hubert Nitsch zu zeitgenössischer sakraler Kunst unterwegs sein. Wir fragen aber auch danach, was uns das fotografische Abbild über einen Ort sagt oder inwieweit die Fotografie mit dem Realen übereinstimmt. Und zu Schulbeginn beschäftigen wir uns mit dem „Trauma Schule“. „Im Zweifel für das Unbekannte!“ hat Balduin Sulzer immer wieder gefordert.
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