Der Historiker, Philosoph und Bestsellerautor Philipp Blom im Gespräch mit JKU Rektor und Tribune-Herausgeber Meinhard Lukas über mögliche Lehren aus der Corona-Krise und warum off ene Gesellschaften etwas Schwieriges und Lästiges sind – und trotzdem das Beste, das wir haben.
Kepler Tribune: Wie geht es Ihnen im Lockdown? Wie geht es einem Wissenschaftler, Historiker, einem Mann des Wortes in einer Situation, wo man so viel zu Hause sein muss?
Philipp Blom: Normalerweise halte ich pro Jahr rund achtzig Vorträge, davon die Hälfte im Ausland. Vor der Pandemie war ich also jede Woche unterwegs und habe mich geärgert, dass ich nicht genug Zeit und Konzentration zum Schreiben hatte. Jetzt habe ich zwar mehr Zeit und werde nicht ständig aus der Konzentration gerissen, aber gleichzeitig geht es mir wie allen anderen auch: Uns fehlen Gesellschaft und Gespräche. Online-Treff en sind nicht dasselbe wie echte Treff en. Wir halten uns ja immer für ganz rationale Wesen, aber wenn dem so wäre, warum würde es uns jetzt so gehen? Warum würde uns etwas ganz Banales wie eine menschliche Berührung fehlen?
Kepler Tribune: In den ersten Monaten von Corona gab es von Zukunftsforscher* innen die Hoffnung, dass Gesellschaften nach der Krise wieder solidarischer werden. Der Eindruck ist nun aber eher, dass wir einen darwinistischen Umgang entwickeln, nach dem Motto: Irgendwann können wir es uns nicht mehr leisten, auf die Schwächsten der Gesellschaft Rücksicht zu nehmen. Wie erleben Sie das?
Philipp Blom: Es sind ja nicht nur die Vulnerablen, die wir jetzt schützen, es sind ja auch wir selbst. Das ist, glaube ich, wichtig. Aber irgendwann wird uns die Puste ausgehen, auch finanziell. Das Virus mutiert und andere Viren warten darauf, eingeladen zu werden. Das ist kein einmaliges Ereignis, das wir irgendwann hinter uns gebracht haben. Deshalb müssten wir einerseits versuchen, die Verwundbarsten effektiver zu schützen, etwa Menschen in Altersheimen, aber auf der anderen Seite auch Eigenverantwortung zulassen. Das sind keine leichten Entscheidungen, aber da es nun vielleicht ein Dauerzustand wird, müssen wir einen Weg finden, damit umzugehen. Denn neben aller Vorsicht müssen wir ja leben. In einem Interview mit der Zeit hat die wunderbare Ex-Wiener New Yorker Psychoanalytikerin Erika Freeman, die etwas über 90 Jahre alt ist, gesagt: „Unglücklich zu sein macht dich auch nicht schlauer.“ Dass eine Leidenserfahrung uns zu einer besseren Gesellschaft macht, das glaube ich nicht.
Kepler Tribune: Also lernen wir nichts aus Corona?
Philipp Blom: Wir leben in einer hyper-globalisierten, kapitalistischen Gesellschaft, die sich all ihre Lebensgrundlagen zerstört. Ein Argument, das man bisher oft gehört hat, war: Das ist alles ganz schrecklich, aber es geht halt nicht anders. Und dann haben wir es anders gemacht, innerhalb von Tagen die Entscheidung getroffen, Menschen zu schützen, auch wenn es ein riesiges Preisschild hat. Die Tatsache, dass wir keine Geiseln eines Wirtschaftssystems sind, sondern als politische Gesellschaften entscheiden können, wo wir hingehen wollen, ist sehr wichtig, gerade auch im Kontext der Klimakrise. Und ich glaube, dass wir diese Erkenntnis gelernt haben.
Kepler Tribune: Die Menschheit hat immer wieder „getaumelt“ – die Kleine Eiszeit im Mittelalter, Kriege, die Spanische Grippe usw. Wie schätzen Sie historisch die Lerneffekte ein?
Philipp Blom: Wir reagieren auf Traumata, aber wir lernen nicht nachhaltig. Die Lehren beispielsweise aus dem Dreißigjährigen Krieg sind weg und wir erleben gerade, wie die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg verschwinden. Jedes Trauma begleitet uns zwei bis drei Generationen, solange es lebendige Erinnerung ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir ein positives Vermeidungsverhalten entwickelt. So etwas durfte nie wieder passieren. Jetzt kommt aber eine Generation von Politiker*innen an die Macht, für die das zwar noch Gegenstand von politischen Reden ist, aber keine direkt oder indirekt erlebte Geschichte mehr. Da ist kein persönlich gefühlter Reflex mehr, weil der persönliche Bezug fehlt.
Kepler Tribune: Wie können wir zu einem Umdenken kommen, damit wir aufhören, uns unsere Lebensgrundlagen selbst zu zerstören?
Philipp Blom: Ich schreibe gerade ein Buch, dessen Titel das biblische Zitat „Macht euch die Erde untertan“ trägt. Dieser Satz war eine absolute Atombombe. Im mythologischen Weltverständnis ging man eigentlich davon aus, dass es Götter, Geister und Dämonen gibt. Sie waren Repräsentanten von Naturgewalten und der Mensch musste sie irgendwie, etwa durch Opfer, auf seine Seite holen und befrieden. Das war ein mythologisches Verständnis davon, dass der Mensch mit allem, was er tut, Auswirkungen auf andere Elemente hat. Dieser biblische Glaubenssatz sagt genau das Gegenteil. Er sagt, die Erde ist totes Territorium, ein Magazin für Rohstoffe. Wir stehen über der Natur. Diese Annahme wurde vor allem mit unserer technologischen Macht gefährlich und führte und führt zu nachhaltigen Schäden.
Kepler Tribune: Was kommt nach „Macht euch die Erde untertan“?
Philipp Blom: Die alte Erzählung bricht mit der Klimakatastrophe zusammen. Und das hat auch mit Corona viel zu tun, weil die Pandemie ein Nebeneffekt der Klimakatastrophe ist. Sie kommt daher, dass wir zu sehr in die natürlichen Zusammenhänge eingreifen. Wir erleben, dass wir nicht über der Natur stehen, sondern drinnen. Diese Meistererzählung „Macht euch die Erde untertan“ bricht zusammen und das öffnet Raum für andere Erzählungen. Das kann die Erklärung von Greta Thunberg, von Donald Trump sein. Wir leben in einer sensiblen und auch gefährlichen Zeit, wo sich erweisen wird, welche Meistererzählung sich durchsetzt. Und das muss nicht die netteste und humanistischste sein.
Kepler Tribune: Wir stehen also an einer Art Kreuzung?
Philipp Blom: In den 20er und 30er Jahren hatten Stalin und Hitler auch sehr spannende Geschichten zu erzählen und die Menschen damit überzeugt. Und wir stehen jetzt wieder vor einer offenen Situation mit vielen Gefahren und vielen Chancen. Es gibt Angebote für Meistererzählungen von Greta Thunbergs „Rettet das Klima“ bis hin zu Donald Trumps „America first“. Es ist eine schwere Transition, eine Art demokratischer Gesellschaft zu finden, die genügend Verantwortlichkeit für Gemeinwohl und damit den Planeten in sich verankert. Es würde uns nicht helfen, wenn wir von einer unverantwortlich verschwenderischen Demokratie in eine ökologisch korrekte Diktatur fallen. Aber es ist möglich und Corona könnte hier sogar unser Freund sein, weil der Paradigmenwechsel nicht nur durch Argumente, sondern durch Erfahrung passiert. Wenn genug Menschen erfahren, dass es in ihrem ureigensten Interesse ist, die Verantwortlichkeit zu akzeptieren und etwa Einschränkungen in ihrem Konsumverhalten zuzulassen, kann das hilfreich sein.
Kepler Tribune: Corona lehrt uns also, dass wir nicht über der Natur stehen, sondern Teil davon sind. Und das kann uns helfen, unsere hyperkapitalistische, individualisierte Gesellschaft zu überwinden?
Philipp Blom: Es ist ein bisschen wie Sozialismus. Der Sozialismus ist vielleicht das beste Gesellschaftsmodell, das es geben kann: Jeder nach seinen Fähigkeiten, für jeden nach seinen Bedürfnissen. Aber es setzt voraus, dass alle Menschen daran glauben. Das funktioniert im Kloster, im Kibbuz oder in einer Kommune. Wir leben aber nicht in so einer Gemeinschaft. Wir leben in Gesellschaften, die sich als offene Gesellschaften verstehen. Das heißt, Gesellschaften, die völlig unterschiedliche und sogar entgegengesetzte Weltanschauungen in sich vereinen. Wir müssen damit leben können, dass unser Nachbar uns zutiefst ablehnt und wir vielleicht ihn oder sie. Und dass wir trotzdem irgendwie eine Weise finden, wie wir gemeinsam vorangehen können.
Kepler Tribune: Wie können wir gemeinsam vorangehen?
Philipp Blom: Dass wir alle plötzlich nett zueinander sind, wird’s nicht spielen. Das einzige Modell, das ich kenne, das Gleichheit leisten kann, ist der Markt. Denn der Markt schaff t einen Mechanismus, in dem Menschen mit entgegengesetzten Interessen gemeinsam regelbasiert handeln können. Sie wollen an mir Geld verdienen, ich will an ihnen Geld verdienen. Menschen mit unterschiedlicher Einstellung können nach bestimmten Regeln im öffentlichen Raum miteinander umgehen. Die Herausforderung ist, das Gesellschaftsmodell so anzupassen, dass es dem enormen Druck, der besteht, standhält. Eine der empörendsten Erfahrungen für viele Menschen bei Corona war, dass der Staat wieder stark in unser Leben zurückgekehrt ist. Auf einmal hat er gesagt: Ja, du hast vielleicht Geld, aber die Geschäfte sind jetzt erst mal zu. Du kannst nichts kaufen. Du kannst nicht in Urlaub fahren. Viele Menschen finden ihre individuellen Freiheiten wichtiger als kollektive Verantwortung. Dabei ist das die Herausforderung, in einer liberalen Gesellschaft kollektiv wirksam zu sein.
Kepler Tribune: Viele sprechen von einer „neuen Normalität“ im Zusammenhang mit Corona. Wie sieht diese aus?
Philipp Blom: Die Pandemie hat sichtbar gemacht, was vorher schon falschgelaufen ist. Wir täten gut daran, uns zu fragen, welche Teile des Systems es wert sind, wieder aktiviert zu werden. Brauchen wir den Massentourismus, wie er vorher bestand? Brauchen wir diesen bizarren Hyper- Konsum, den wir gehabt haben? Es geht letztendlich nicht darum, neue Gesetze zu machen, sondern soziale Leitbilder zu schaffen. Um es ganz platt zu sagen: zu definieren, was cool ist und was nicht. Ist es cool, eine Kreuzfahrt zu machen und dabei das 14-Fache an Energie und Ressourcen zu verbrauchen wie bei einem sanften Tourismus an Land? Oder könnte man auch anders seine Freizeit verbringen?
Kepler Tribune: Wie würde eine solche Gesellschaft aussehen?
Philipp Blom: Es ginge um ein verändertes Bewusstsein, so dass sich die Superlative im Konsum gar nicht mehr einstellen. Das hätte Erschütterungen in der Wirtschaft zur Folge. Wir müssten ganze Wirtschaftszweige hinterfragen. Gerade ein Land, das stark von Tourismus abhängt, wie etwa Österreich, wäre ziemlich erschüttert. Auf der anderen Seite hat der amerikanische Philosoph Sam Harris gesagt, dass wir eine ethische Beziehung zu der Person haben, die wir in 20 Jahren sein werden. Das ist ein guter und wichtiger Gedanke. Das bedeutet natürlich, dass wir individuell nicht zu viel saufen und rauchen sollten. Aber es bedeutet für uns als Gemeinschaft, dass wir unseren Planeten nicht so zugrunde richten sollten, dass er in 20 Jahren nicht mehr bewohnbar ist.
Kepler Tribune: Hätten wir uns besser auf diese Krise vorbereiten können?
Philipp Blom: Man könnte sich fragen, wie unsere Gesellschaft aussehen würde, wenn wir ein bedingungsloses Grundeinkommen gehabt hätten. Es wäre sinnvoll zu fragen, ob wir eine Reichensteuer brauchen. Die zehn reichsten Individuen der Welt haben in der Corona-Krise ihr Vermögen um 400 Milliarden Dollar vergrößert, während wir wissen, dass Millionen von Menschen knapp vor dem Existenzminimum stehen. Das ist ungerecht. Eine gewisse Ungleichheit zwischen Menschen ist sinnvoll, denn sie motiviert. Aber irgendwann verzerrt die Ungleichheit die Demokratie.
Kepler Tribune: Braucht es für den Gesinnungswandel ökonomische Rahmenbedingungen?
Philipp Blom: Ganz klar. Eine Demokratie kann ja nur funktionieren, wenn man der Fiktion, dass alle Menschen die gleiche Stimme haben, zumindest nahekommt. Das heißt, dass die Menschen gebildet genug sein müssen, um die Fragen zu verstehen, über die sie abstimmen sollen, und es heißt, dass die Ressourcen nicht von so wenigen kontrolliert werden, dass Demokratie eff ektiv zum politischen Theater wird.
Kepler Tribune: Aber was, wenn wir nichts lernen? Wenn die Marktwirtschaft so weitergeht, die Armen noch ärmer werden und die Reichen noch reicher? Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg?
Philipp Blom: Das Dystopische kann über zwei Achsen kommen. Über den Markt oder über die Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Die Märkte brauchen die Freiheit und die Dynamik einer Gesellschaft. Das zerstört ein Gemeinschaftsgefühl. Dabei ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass es keine freien Märkte gibt, nie gegeben hat und nie geben wird. Wir sprechen über die Märkte als etwas Externes, so wie wir über die Menschen sprechen, die außerhalb der Natur existieren würden. Märkte können nur bestehen, weil es Gesetze, Ämter, Autoritäten, Infrastruktur und Schulen gibt. Märkte sind Teil einer Gesellschaft und nichts davon Losgelöstes. Wir müssen die Fiktion aufgeben, dass die Märkte im luftleeren Raum existieren und es unsere Aufgabe ist, ihnen maximale Freiheit zu gewähren. Wir leben in zukunftslosen Gesellschaften, ein bisschen wie in einem großen Kaufhaus mitten im Ausverkauf. Jeder weiß, der Laden ist pleite, aber wir nehmen noch mit, was wir können. Eine Gesellschaft ohne plausible Hoffnung, ohne ein Bild von einer Zukunft zersetzt sich von innen heraus. Was uns fehlt, ist ein gesellschaftliches Projekt.
Kepler Tribune: Was könnte so ein Projekt sein?
Philipp Blom: Ich habe einmal vor einer Gruppe von sehr reichen Schweizern gesprochen, alles Mäzene des Schweizer Nationalmuseums. Ich habe sie gefragt, wer von ihnen glaubt, dass dieses Wirtschaftssystem, so wie es jetzt ist, in 50 Jahren noch bestehen kann. Nicht einer hat aufgezeigt. Wie wäre es also, wenn wir uns nicht nur als Ziel setzen, den Status quo zu erhalten, sondern uns ganz der Sache verschreiben würden, eine Gesellschaft zu schaffen, die in 50 Jahren noch bestehen kann?
Kepler Tribune: Im Gespräch mit Ihnen fällt auf, dass Sie lieber über das Utopische als das Dystopische sprechen.
Philipp Blom: Ich bin ein Optimist im Konjunktiv, im Indikativ bin ich ein Pessimist. Es hat keinen Sinn zu sagen, es ist alles vorbei, dass die Armen keinen Einfl uss haben und in einer Porno-Parallel-Realität leben, während die Reichen Ressourcen, Macht und Entscheidungen an sich reißen. Natürlich ist es nicht schwer, sich diese dystopischen Szenarien auszumalen, wir sehen sie ja schon. In den Vereinigten Staaten sind wir gerade an einer Diktatur vorbeigeschrammt. Wenn die Wahl zwischen Trump und Biden nicht so eindeutig ausgegangen wäre, wäre es Trump wahrscheinlich gelungen, das System zu korrumpieren. Die opportunistischen, feigen Karrieristen, Politiker und Richter waren bereit, seinen Willen zu tun. Aber es ist wichtig zu sagen, dass es nicht passiert ist. Also ja, das Schlimmste kann passieren. Aber es muss nicht immer passieren. Offene Gesellschaften sind etwas Schwieriges, Lästiges und Kompliziertes. Aber sie sind trotzdem das Beste, das wir bisher gefunden haben.