Während in Österreich erste Lockerungen des Shutdown beginnen, weitet Japans Premierminister Shinzo Abe den Ausnahmezustand von zunächst sieben auf alle 47 Präfekturen des Landes aus. Die Bevölkerung wird ersucht, ihre persönlichen Kontakte um 70 bis 80 Prozent zu reduzieren. Firmen werden aufgefordert, möglichst auf Heimarbeit umzustellen. Um etwa einen Monat zeitverzögert, vollzieht Japan Mitte April die allmähliche Stilllegung des Landes. Die Geschäftsstraßen sehen aus wie sonst nur zu Neujahr, wenn sich das ganze Land rund eine Woche lang zu Familienfeiern ins Haus zurückzieht.
Ich hatte geglaubt, dass die japanische Höflichkeit und Etikette mit ihrem kulturell verwurzelten Abstandhalten und Maskentragen das Inselreich von Corona weitgehend verschonen würde. War doch dort das kollektive und feucht-fröhliche hanami, das Bestaunen der Kirschblüte, noch zu einem Zeitpunkt möglich, als wir hier das Haus längst nur mehr in den erlaubten seltenen Fällen verließen. Einzeln. Maximal zu zweit. Dann hatte Abe Ende März an die Menschen in Tokyo, Osaka und anderen Großstädten appelliert, doch ein Wochenende lang mal freiwillig zu Hause zu bleiben. „Wir machen dieses Wochenende social distancing“, ulkte eine Freundin in Tokyo, mit der ich über den japanischen Messenger-Dienst LINE telefonierte. Freund Ogino erzählte über LINE, dass er seine 98-jährige Mutter nicht mehr besuchen dürfe. Er habe bei der Rezeption des Altersheimes eine Portion Eiscreme für sie abgegeben. Sie lebt auf der Demenzstation. Ihren Sohn erkennt sie schon lange nicht mehr. Ihre Leidenschaft für Eiscreme ist geblieben. Im April hatte ich sie noch besucht. Sie hatte mich erstaunt angesehen und eine der Mannerschnitten, die ich ihr mitgebracht hatte, in kleinen Stückchen gemümmelt. Ogino war nach Kyoto gekommen, um nach einer Knieoperation die Schrauben herausnehmen zu lassen. Ansonsten lebt er in Thailand. Während er in Kyoto im Krankenhaus war, machte Thailand die Grenzen dicht und ließ ihn nicht mehr zurückreisen. „Sho ga nai“, sagte er schicksalsergeben. Da kann man nichts machen.
Eine Woche ehe nun auch Abe in Japan erste Maßnahmen ergriff, war die Austragung der Olympischen Sommerspiele in Tokyo wegen der weltweiten COVID-19-Pandemie um ein Jahr verschoben worden. Seit klar ist, dass 2020 nicht das Jahr der Olympischen Spiele in Tokyo wird, werden täglich mehr Corona-Fälle veröffentlicht. Japan habe die tatsächlichen Zahlen der Corona-Erkrankungen verschleiert und Maßnahmen verzögert, um die Austragung der Olympischen Spiele nicht zu gefährden, meinen böse Zungen.
Die Universität meiner ehemaligen Studentin Yui hat bis September Online- Unterricht verordnet. Yui schickt mir eine Liste mit Vorschriften, an die sie sich halten muss. Alle Studierenden sind angehalten, nicht auszugehen und keine Reisen zu unternehmen, außer in unbedingt notwendigen und dringenden Fällen. Gehört unser Hiroshima- Projekt dazu? Aus der Sicht der japanischen Behörden wohl eher nicht. Mit Yui als einer meiner wichtigsten Protagonistinnen wollte ich einen Film zum 75. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima im August 2020 drehen. Es sollte eine Spurensuche mit der Enkelgeneration werden. Yuis Großvater war ein hibakusha, ein Überlebender der Atombombe. Sie hat seine Geschichte aufgearbeitet und niedergeschrieben und arbeitet nun an ihrer Dissertation über die Traumatisierung von Atombombenüberlebenden. Es wird ein Pionierwerk werden, denn darüber hat in Japan bislang noch niemand geforscht.
Meine Bekanntschaft mit Yui Aiba hat 2014 in Nagoya begonnen. Ich hatte an der Städtischen Universität Nagoya einen Lehrauftrag im Rahmen der vergleichenden Kulturwissenschaften. Als Thema meiner Vorlesung hatte ich zwei Werke des österreichischen Journalisten und Friedensaktivisten Robert Jungk gewählt, „Der Atomstaat“ und „Strahlen aus der Asche“, das erste Werk in deutscher Sprache über die Folgen der Atombombe in Hiroshima. Vor dem Hintergrund der atomaren Bombardierung Hiroshimas und der Nuklearkatastrophe von Fukushima erschienen mir Jungks kritische und pazifistische Annäherungen an das Nukleare für junge Menschen in Japan ausgesprochen gut geeignet. Doch ich hatte nicht mit dem großen Desinteresse und dem historischen Nicht-Wissen der Studierenden gerechnet. Ein erster Zwischentest fiel katastrophal aus. Um nicht 90 Prozent der Studierenden negativ beurteilen zu müssen, bot ich ihnen als Lösung an, zu ausgewählten Themen, die freilich zur Vorlesung passen müssten, einen Essay zu schreiben, damit sie sich ihre Note verbessern konnten. Bereits nach der nächsten Stunde kam ein Mädchen zu mir und gab eine Arbeit von mehreren Seiten ab. Sie habe das gleich in der Vorwoche geschrieben. Ich warf einen kurzen Blick auf den Titel und erhaschte die Worte: „Mein Großvater, 6. August 1945, Hiroshima …“ Das war meine erste Begegnung mit Yui. Ich nahm den Aufsatz mit nach Hause und las ihn beim Abendessen. Er rührte mich zu Tränen. Sie hatte ihren Großvater interviewt, der als 18-Jähriger eingezogen und von Nagoya nach Hiroshima beordert worden war. Der damals 88-jährige Großvater, erzählt Yui in ihrem Aufsatz, habe schon viele Male darüber reden wollen, dass er selbst ein hibakusha, also ein Überlebender der Atombombe ist, aber sie habe seine Geschichte einfach nicht hören wollen. Durch die Vorlesung über Robert Jungk und die Lektüre von „Strahlen aus der Asche“ sei sie motiviert worden, ihm zuzuhören, ihm Fragen zu stellen.
Was er zu erzählen hatte, war schrecklich: Der junge Mann musste nach dem Atombombenabwurf in Hiroshima die Leichen bergen helfen, über Details aber könne er bis heute nicht sprechen. Sie habe ihn auch gefragt, schreibt sie, ob er Hass auf die USA empfinde, und der Großvater habe geantwortet: „Nein, denn die USA hätten schließlich durch die Atombomben den Krieg beendet, den Japan sonst ewig weitergeführt hätte.“ Der Großvater, schreibt Yui, habe in ihrem ersten Gespräch auch – ganz im Sinne meiner Lehrveranstaltung und im Sinne Jungks – den Bogen zu Fukushima und zur Atomenergie gespannt und sei dafür eingetreten, Japan möge sofort aus der Atomenergie aussteigen und alle AKWs abschalten. Zu Semesterende kam es zu einer ersten Begegnung zwischen mir, dem Großvater und Yuis Mutter. Ich hatte gebeten, den Großvater für eine Radiosendung interviewen zu dürfen, und an einem Sonntagvormittag kam die ganze Familie in mein Büro an der Universität. Als ich auf ihr Klopfen die Türe öffnete, standen sie vor mir, strahlend, der Großvater mit einem kleinen Leiterwagen (!), auf dem er alle Materialien, Bücher, Zeitungsartikel, Bilder und Dokumente in großen Kisten mitbrachte, die er seit jenem 6. August 1945 gesammelt hatte …
Ihre Abschlussarbeit an der Universität schrieb Yui über die hibakusha in der Präfektur Aichi, wo sie lebt. Im Februar 2018 kam sie eigens nach Wien, um mir ihre Arbeit zu überreichen. Ihre Magisterarbeit über ihren Großvater erschien Anfang 2019 als Buch und wurde in Japan viel beachtet. Bei jeder Japanreise traf ich Yui, ihren Großvater, ihre Großmutter und ihre Mutter. Sie luden mich zum Essen ein und erwiesen mir ihre Dankbarkeit. Im Herbst 2019 war der Großvater bereits zu schwach für die geplanten Dreharbeiten mit seiner Enkelin in Hiroshima. Wir führten ein letztes Skype-Gespräch. Der Großvater lag im Bett. Wir winkten uns zu. Ich solle mich um Yui kümmern, gab er mir mit. In den Weihnachtsferien besuchte ich Yui und ihre Familie. Ich konnte nur mehr kondolieren. Auf dem Hausaltar standen Fotos von unseren Treffen und die letzte Notiz, die sich der Großvater nach dem Skypen im Oktober gemacht hatte: „Mit Frau Brandner gesprochen. Es war sehr erfreulich. Sie wird im Dezember auf Besuch kommen. Ich bemühe mich, bis dahin durchzuhalten.“ Wir haben uns knapp verpasst. Am 10. November starb er im Alter von 93 Jahren. Ich habe Yui und ihrem Großvater ein Kapitel in meinem Buch „Japan – Inselreich in Bewegung“ gewidmet, das im Herbst 2019 im Residenz Verlag erschienen ist. Yui und ich üben uns in social distancing und hoffen auf ein baldiges Wiedersehen.