„Jetzt sind wir allesamt Hurensöhne.“
Das sind die Worte, die Kenneth Bainbridge in der Nacht des 16. Juli 1945 um 5.29 Uhr in der Wüste von New Mexico, USA, über die Lippen kommen.
Kaum je ein anderer Physiker wird sich im Bruchteil einer Sekunde der Konsequenzen seiner Forschung so bewusst gewesen sein wie der Kollege Robert Oppenheimers im Moment des Tests der ersten Atombombe. „Wir alle wussten, dass die Welt nicht mehr die gleiche sein würde“, soll Oppenheimer später gesagt haben.
73 Jahre später wird der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, Mike Pence, vor Angehörigen der amerikanischen Streitkräfte einen neuen „Kriegsschauplatz“ ausrufen, das Weltall. Am 9. August wies er das US-Militär an, sich auf das „nächste Schlachtfeld“ vorzubereiten, auf dem die „Tapfersten und Besten“ die Feinde Amerikas besiegen werden. US-Präsident Donald Trump hat die Schaffung einer ganz neuen Militäreinheit angeordnet, der sogenannten Space Force. Die Vorherrschaft der USA im All dürfe nicht in Zweifel gezogen werden.
Ohne die Mitwirkung tausender Wissenschafter wird das Projekt nicht zu verwirklichen sein. Wird einer von ihnen an Kenneth Bainbridges Worte denken? Werden alle über die zusätzlichen Forschungsmilliarden frohlocken? Das Schweigen der Wissenschaft in diesen Augusttagen des Jahres 2018 in der Öffentlichkeit auf die Ankündigung des Aufbruchs zu „neuen Horizonten“ war jedenfalls beredt. Vielleicht ist es einem uralten Reflex geschuldet: Es handelt sich um eine politische Entscheidung jenseits der Komfortzone der Wissenschaft, in der Erkenntnisse geliefert und Konsequenzen nicht bewertet werden.
Das Space-Force-Programm der USA ist jedenfalls geeignet, das ewige Dilemma der Wissenschaft von Freiheit und Konsequenzen an einem Exempel neuerlich in den Fokus zu rücken. Allerdings hätte es dieser Machtdemonstration gar nicht bedurft, denn die rasanten und dramatischen Veränderungen der Welt in nahezu allen Bereichen machen das Dilemma mehr als deutlich. Wie selten zuvor müssen sich die Wissenschaft und ihre Vertreter die Frage gefallen lassen, ob und wie sie sich diesen Veränderungen stellen. Oder ob sie in ihren Elfenbeintürmen oder, wie es der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt formulierte, in ihrem „glücklichen Eremitendasein“ im Spannungsfeld zwischen Erkenntnisgewinn und gesellschaftlicher Verantwortung verschwinden.
Je stärker nämlich die moderne Gesellschaft auf wissenschaftliche Erkenntnisse zur Bewältigung der globalen Probleme angewiesen ist, desto deutlicher tritt jetzt eine Reihe von Widersprüchen zutage. Gesellschaft wie Politik nehmen diese nicht in dem Ausmaß wahr, wie es notwendig wäre: Je mehr Verantwortung der Wissenschaft bei der Lösung komplexer Probleme zukommt, desto weniger öffentlichen Diskurs gibt es darüber. Je spezialisierter die Forschung wird, desto weniger entwickelt scheint das Bewusstsein zu sein, dass es eigentlich um eine Gesamtschau der Auswirkungen auf das öffentliche Leben gehen soll. Mit anderen Worten: Je enger die Spezialisierung, desto dichter die „Blase“, in der sich der Spezialist, die Spezialistin bewegt, denn es gibt nur wenige, mit denen kommuniziert werden kann. Desto größer wird die Distanz zur Gesellschaft, desto geringer die Bereitschaft, ihr gegenüber Rechenschaft abzulegen. Je bedeutender die Erkenntnisse, desto stärker der Rückzug in den oben erwähnten Elfenbeinturm, desto geringer die Bereitwilligkeit zur allgemein verständlichen Kommunikation. Je arbeitsteiliger die Forschung, desto unterentwickelter die Fähigkeit, in einer Gesamtschau Chancen auf Fortschritt und Risken für Missbrauch abzuschätzen – und transparent darzustellen.
Dabei war der Bedarf der Einmischung der Wissenschafter in die öffentlichen Angelegenheiten oder, wenn man so will, ihre Teilhabe an der Res publica wahrscheinlich noch nie so groß und dringend wie jetzt. Zum einen, weil in einer Zeit, in der die brennenden Probleme nur transnational und global zu lösen sind, die Tendenz der Politik, sich in kleine nationale Einheiten zurückzuziehen, immer stärker wird. Genauso wie die Gefahr des Missbrauchs wissenschaftlicher Errungenschaften durch ein Zurückdrängen demokratischer Kontrollmechanismen. Da sind die Forscher gefordert, dagegen stark und wahrnehmbar aufzutreten. Die Einstellung, man könne sich auf seine Ergebnisse konzentrieren, die Anwendung aber sei Sache der Politik und tangiere daher den eigenen Wirkungsbereich nicht, ist heute mehr denn je gewissen- und verantwortungslos.
Die Freiheit zu forschen kann nie als Wertefreiheit ausgelegt werden. Die Wissenschaft kann sich heute weniger denn je aus den Spannungsfeldern der Gegenwart heraushalten – gleichgültig, wie groß ihr Misstrauen und manchmal auch ihre Verachtung für Politik und Macht sind. Was aber, so muss man fragen, war zum Beispiel bisher ihr Anteil an der Lösung der Migrationsfrage, einer Frage, an der ganz Europa zerbrechen könnte? Warum wird nicht lautstark mit einer verunsicherten und verängstigten Öffentlichkeit zu Ursachen, Auswirkungen und langfristigen Konsequenzen kommuniziert? Man muss nicht alles Populärwissenschaftern überlassen und dann über sie lästern. Man muss die Öffentlichkeit nicht für so einfältig halten, dass sich jeder Versuch der verständlichen Kommunikation erübrigt.
Zum anderen ist aber der Bedarf an Teilhabe im öffentlichen Raum auch deshalb so dringend, weil Lösungen in vielen Bereichen keinen Aufschub dulden. Klimawandel ist nur einer davon, der gesamte Verkehrsbereich mit all den neuen technischen Möglichkeiten ist ein anderer. Die Öffentlichkeit hat ein Recht zu erfahren, ob die Elektrotechnologie im Autoverkehr, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht mehr Umweltschaden anrichtet als Nutzen stiftet. Sie hat ein Recht zu erfahren, wie die Wissenschaft die Chancen und Risken der Gentechnologie einschätzt. Sie sollte um die Konsequenzen des Lebens in einer digitalen Welt Bescheid wissen, einer Welt, ohne die zum Beispiel die große Finanzkrise des Jahres 2008 nie möglich gewesen wäre. Wo aber war die Wissenschaft bei ihrer Bewältigung?
Die Öffentlichkeit muss von der Wissenschaft, nicht der Politik, die Antwort auf die Frage erhalten, wo die Grenze zwischen Fluch und Segen liegt. Dazu aber ist es notwendig, dass ihre Vertreter in die Öffentlichkeit gehen – und zwar nachhaltig. So lange, bis sie sich Gehör verschafft haben. Publikationen innerhalb des jeweiligen Zirkels sollten nur die Plattform sein, von der aus sie ihren Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung entschieden kundtun. Die Zeit drängt.