Das Leben ist eine lange Reihe von Entscheidungen. Viele davon sind simpel. Was soll ich heute essen? Was anziehen? Manche sind aber auch komplex. Was soll ich studieren? Möchte ich Kinder? Wie verhalte ich mich in der Pandemie? Was kann ich gegen den Klimawandel tun?
Komplex wird es immer dann, wenn die Günstigkeit der Optionen von vielen Faktoren abhängt, die sich untereinander beeinflussen. Komplexität überfordert und löst häufig eine paradoxe Reaktion aus. Anstatt die relevanten Faktoren zu identifizieren und ihre Wechselwirkung durchzudenken, geben sich viele der kindlichen Illusion des Schicksals oder der Vorsehung hin. Was nicht unmittelbar verstanden wird, muss Teil eines großen Plans sein. Einfache Antworten auf komplexe Fragen werden attraktiv. Wenn Gesellschaften vor komplexen Herausforderungen stehen, haben Populismus, Feindbilder und Verschwörungstheorien Hochkonjunktur.
Das ist genauso schade wie unnötig. Denn moderne Gesellschaften haben längst eine Strategie entwickelt, um mit komplexen Herausforderungen produktiv umzugehen. Spätestens seit der Aufklärung hat die Gesellschaft die Erarbeitung von Antworten auf komplexe Fragen an ein eigenes Subsystem übertragen: die Wissenschaft mit ihren Institutionen, den Universitäten.
Dazu nutzt die Wissenschaft den über Jahrhunderte entwickelten Werkzeugkasten der Forschungsmethoden. Die saubere Anwendung der Forschungsmethode und die vollständige Dokumentation des Forschungsprozesses sind über die Wissenschaftsdisziplinen hinweg der Weg zu Antworten auf komplexe Fragen. Bei Antworten auf komplexe Fragen ist es wie mit Schweinsbraten – wenn die Herkunft unklar ist, lieber nicht anbeißen. Universitäre Forschung bietet Antworten auf komplexe Fragen. Sie tut das im Auftrag und finanziert von der Gesellschaft. Das ist der eigentliche Impact von Universitäten.
Jetzt darf aber niemand erwarten, dass universitäre Forschung direkt informiert, was Sie heute essen und anziehen sollen und inwieweit eine Zugfahrt zum morgigen Termin hilft, die Pandemie und den Klimawandel zu bekämpfen. Es wäre sehr ineffizient, wenn sich Universitäten an jede und jeden einzelne*n richten und Antwort auf die unendliche Anzahl konkreter Fragen geben würden. Als Steuerzahler*in würde ich vehement protestieren, wenn Impact universitärer Forschung so interpretiert werden würde. Vielmehr bietet universitäre Forschung allgemeine Antworten auf komplexe Fragen. Sie informiert beispielsweise, welche Nahrungsmittel Herzleiden vorbeugen, welcher Farbenmix als ästhetisch wahrgenommen wird, wie Schutzimpfungen die Symptome einer Infektion reduzieren und wieviel Kohlendioxidausstoß unterschiedliche Verkehrsmittel verursachen.
Guter Wissenschaftsjournalismus und evidenzbasierte Politik schätzen die Herkunft der Antworten auf komplexe Herausforderungen aus unterschiedlichen Disziplinen kritisch ein und übersetzen das Allgemeine ins Konkrete. Es geht bei komplexen Herausforderungen nicht darum, dass sich die Forschung auf eine Antwort einigt, sondern was die Gesellschaft aus der Vielfalt der Antworten macht. Dazu braucht es einen gesellschaftlichen Diskurs. In diesem Diskurs entsteht wie bei einem Mosaik das Bild durch einen systematischen Blick auf Steine unterschiedlicher Farbe und nicht durch die Auswahl einer richtigen Farbe. Wer Disziplinen und Forschungsgruppen in einem Wahrheitscontest gegeneinander antreten lässt, hat weder Wesen noch Aufgabe universitärer Forschung verstanden. Gesellschaften, die universitäre Forschung systematisch fördern und offen sind für die Vielfalt der Antworten, haben hingegen bessere Chancen, komplexe Herausforderungen zu meistern.