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Kristallwelten

Grundlagenforschung kann den Horizont sprengen und Universen an neuen Anwendungen eröffnen. Am Institut für Halbleiter- und Feststoffphysik erzeugen Alberta Bonanni und ihr Team deshalb Kristalle. Sie haben ganz erstaunliche Eigenschaften.

Von Jonas Vogt

Kristalle

Alberta Bonanni ärgert sich. Die Physikprofessorin an der JKU Linz würde gerne etwas herzeigen, aber sie findet es nicht. Ihre Augen wandern noch einmal im Raum herum, aber es ist einfach nicht zu sehen. Mitten im Satz steht sie also auf, um an ein paar Stellen herumzuwühlen, aber auch das bringt nichts. „Ich hab gerade keinen Diamanten da“, sagt sie. Kein Problem, Frau Professor Bonanni. Das geht vielen Menschen so.

Der Grund, warum Bonanni gerne einen Diamanten hergezeigt hätte: Ein Diamant ist physikalisch gesehen ein Kristall. Sie sind Bonannis Spezialgebiet, aber auch als Nicht-Physiker begegnet man ihnen überall. Viele kennen den Begriff „Halbleiter“, ohne zu wissen, dass sich dahinter ebenfalls ein Kristall verbirgt. Ohne Kristalle würde auch kein Laptop, kein Handy, keine LED-Leuchte funktionieren. Und für alles, das in Zukunft mit Kristallen vielleicht noch möglich ist, braucht es Grundlagenforschung. Wie jene, die Bonanni am Institut für Halbleiter- und Feststoffphysik an der JKU Linz betreibt.

Um das Potenzial von Kristallen zu verstehen, ist ein bisschen Basiswissen nötig. „Ein Kristall ist ein Zustand einer Materie“, sagt Bonanni. „Was diesen Zustand ausmacht: Die Atome sind streng symmetrisch angeordnet, idealerweise in alle Richtungen.“ Bei anderen Zuständen gilt das nicht. Schaut man beispielsweise bei Glas auf die atomare Ebene, dann sind die Atome dort chaotisch und zufällig verteilt.

Der große Vorteil der Ordnung

Weil man genau weiß, wie Kristalle geordnet sind und was wo hingehört, lässt sich – relativ zumindest – leicht herausfinden, was passiert, wenn man diese Ordnung ändert. Das macht sie so wertvoll für die Wissenschaft. „Wir wollen, dass unsere Bauteile so klein wie möglich sind, aber so viele Dinge wie möglich tun“, sagt Bonanni. „Bei einem Silizium-Kristall kann ich einfach ein Atom nehmen und es durch ein anderes austauschen, das magnetisch ist oder leuchtet.“ Man könne einem Kristall so kontrolliert neue Eigenschaften geben – optisch, magnetisch oder elektrisch. „In chaotischen Systemen funktioniert das nicht.“

Der Einsatz von Kristallen klingt futuristisch, ist aber im Prinzip schon eine alte Technik. Seit mehr als 50 Jahren verbaut der Mensch Mikroprozessoren, die auf einem Silizium-Kristall aufbauen. Sehr viel spektakulärere Einsatzmöglichkeiten könnten noch vor uns liegen. Zum Beispiel im Bereich der Quantenmaterialien. Bekanntermaßen brauche ich, wenn ich sehr kleinteilig arbeite, irgendwann die Quantenmechanik, weil im atomaren bis subatomaren Bereich Naturgesetze gelten, die sich von denen in der Alltagswelt grundlegend unterscheiden. Habe ich sehr kleine Kristalle, dann öffnet sich so eine neue Welt von Möglichkeiten. „Auf der Nanoebene erhalte ich, wenn ich 1 und 1 zusammenzähle, nicht einfach 2“, sagt Bonanni. „An den Grenzflächen zwischen zwei Kristallen passieren wirklich unglaubliche Dinge.“ Unter den richtigen Bedingungen bringt die Quantenmechanik Phänomene hervor, die in realen Festkörpern nur schwer oder noch überhaupt nicht zu beobachten sind.

Quantenmaterialien, Spintronik, also Nanoelektronik, Festkörperphysik – Bonanni, seit 1997 in Linz, hat sich nicht die einfachsten Forschungsfelder ausgesucht. Zum Glück ist die gebürtige Italienerin eine fantastische Erklärerin. Es mache ihr noch immer Freude, anderen die Leidenschaft für Wissenschaft zu vermitteln, sagt sie. Und das kann sie zweifellos. Die quirlige Professorin spricht schnell, hüpft von einem Thema zum nächsten. Wenn sie zeigen will, was bei einer Kollision von zwei Kristallen passiert, nimmt sie auch schon mal zwei Modelle in die Hand und schlägt sie gegeneinander. Nur den Diamanten, den findet sie heute leider nicht.

Wie aus Kohlenstoff Graphit wird

Grob gesagt gibt es zwei Arten, Kristalle zu erzeugen. Zum einen kann man sie als große, dreidimensionale Kristalle züchten. Das nennt man einen „Einkristall“. Und dann gibt es noch die Möglichkeit, sie auf anderen Kristallen – Substrat genannt – wachsen zu lassen. „Das ist das Verfahren, das in der Technik am häufigsten eingesetzt wird“, sagt Bonanni. „Auch wir in Linz wenden es an.“ Dabei nimmt man ein Substrat (oft sind das Einkristalle, die in sehr dünne Scheiben geschnitten wurden) und gibt Materialien auf dieses. Stimmen die äußeren Bedingungen, ordnen sich die Atome richtig an.

Je nach Umgebung kann dasselbe Ausgangsmaterial auf verschiedene Weise kristallisieren.

„Kohlenstoff ist ein gutes Beispiel“, sagt Bonanni. „Kristallisiert es unter sehr hohem Druck, erhalte ich einen Diamanten. Ist der Druck niedriger, erhalte ich Graphit.“ Bei Graphit, das zum Beispiel für die Herstellung von Lithium-Ionen-Batterien gebraucht wird, sind nur die horizontalen Verbindungen stark, die vertikalen aber schwach. Bei einem Diamanten bindet jedes Atom sehr stark zu vier anderen Kohlenstoff -Atomen. Prinzipiell können alle Elemente des Periodensystems kristallisieren, manche brauchen aber extreme Bedingungen dazu. Ein Grund, warum sich die künstliche Herstellung von Diamanten, die technisch möglich ist, kommerziell kaum lohnt.

Eine einzelne Schicht an Atomen in einem Kristall nennt man „Monolage“. Die Wissenschaft kann sich Schicht für Schicht, Monolage um Monolage, den Kristall bauen, den sie braucht. „Wenn ich einen Silizium-Kristall haben möchte, der aber auch Licht erzeugt – was Silizium normalerweise nicht tut –, kann ich ein paar Phospor-Atome hinzufügen“, erklärt Bonanni. Das sei immer hochspannend, weil man nie genau wisse, was bei dieser Kombination herauskommt. „Bei Kristallen gibt es ein enges Zusammenspiel zwischen den Eigenschaften und dem Wachstum.“

Kristalle lassen sich manipulieren, aber die Kontrolle über den Prozess ist weit weg von absolut. Hat man einen Kristall erzeugt, muss man testen, ob er überhaupt das tut, was man von ihm will. Am Linzer Institut – das eine lange Tradition in der Forschung mit Kristallen hat – gibt es dafür Maschinen, die aber nicht immer ausreichen. Ist das Phänomen, das sich die Forscher erwarten, sehr klein, braucht es hohe Energien, um es überhaupt beobachten zu können. Das geht zum Beispiel mit einem Synchrotron, eine Form von Teilchenbeschleuniger, die allerdings deutlich kleiner als die gigantischen Konstruktionen wie am CERN ist. Die JKU arbeitet deshalb eng mit anderen Universitäten und Forschungseinrichtungen zusammen, die ein Synchrotron haben, von Grenoble bis Japan.

Der Halbleiterlaser, der dem Zufall entstammt

Was ist spannender: Wenn ein neue r Kristall genau das tut, was er soll? Oder wenn er etwas ganz anderes tut? „Beides ist spannend!“, lächelt Bonanni. Manchmal führen ohnehin die Umwege zum Ziel. Vor ein paar Jahren waren die Professorin und ihr Team auf der Suche nach magnetischen Halbleitern, die auch bei Raumtemperatur arbeiten. Im Zuge dessen erzeugten sie einen Galliumnitrid-Kristall, der auch im infraroten Bereich Licht ausstrahlt. Eine technische Neuheit. Der daraus entwickelte Halbleiterlaser könnte in Zukunft in der Datenübertragung zum Einsatz kommen und die herkömmlichen Laser, bei deren Herstellung immer noch giftige Stoff e zum Einsatz kommen, verdrängen. Für diese Entdeckung erhielt Bonanni 2016 den „Staatspreis Patent“.

Eines der vielversprechenden Zukunftsthemen, an denen aktuell in Linz geforscht wird, sind die sogenannten topologischen Isolatoren. Das sind Materialien, die – laienhaft ausgedrückt – Strom auf der Oberfläche leiten, ihn aber nicht durchlassen. Information, die von topologischen Isolatoren umgeben ist, lässt sich so isolieren. Sie gelten deshalb als potenzielle Antwort auf das zentrale Problem aller physikalischen Anwendungsfälle, die sich der Quantenmechanik bedienen: Wie schirme ich Information so ab, dass sie von außen nicht beeinflusst wird?

Das klingt alles wie Zukunftsmusik, und das ist es auch. Viele Entdeckungen wurden erst in den letzten Jahren gemacht, unzählige Fragen sind noch offen. Aber Wissenschaft kommt nur durch solch eine ergebnisoffene Grundlagenforschung weiter. So wird Alberta Bonanni wohl auch in Zukunft noch viele Male von ihren Kristallen überrascht werden. Fragt man sie, was sie an Kristallen abgesehen von den erstaunlichen physikalischen Eigenschaften fasziniere, denkt sie länger nach, bis es ihr einfällt. „Kristalle sind schön!“, sagt Bonanni. „Das sollten wir nie vergessen.“