Für die Kultur sind Krisen höchst dynamische Prozesse, Höhepunkte, an denen sich neue Wege auftun. Und – es gibt viel zu tun in Krisenzeiten.
COVID-19 wirft Probleme und Fragen auf, die nicht neu sind. Das bedrohliche Virus wird mit einem Brennglas oder Röntgenstrahl verglichen, die soziale, politische, ökonomische Zusammenhänge sichtbar machen – COVID-19 vergrößert wie eine konvexe Sammellinse gesellschaftliche Ungleichheiten, Ausschlussformen und nationale Herrschaftsstrategien und legt diese auf radikale Weise bloß.
Von der Möglichkeit der Veränderung sprechen die einen, von dem Wunsch, Normalität wiederherzustellen, die anderen. Doch welche Normalität? Prekariat, Ausbeutung, Demokratieverdruss, Ressourcenverschleiß und Klimawandel auf Kosten der anderen. Und Wohlstand, Gesundheit und Glück für manche. Es ist also eine Frage der Perspektive – der Blick auf blühende Landschaften mag den Blick auf Inseln aus Plastikmüll, Berge von Elektronikschrott, auf einstürzende Textilfabriken, Bildungs- und Geschlechterungerechtigkeiten, Krieg und Gewalt vergessen machen. Die Einhegung der Disziplinen mag die Errichtung von Parallelwelten erlauben. Es bedurfte bloß eines unsichtbaren Virus, um diesen Schein wie eine Seifenblase zerplatzen zu lassen.
COVID-19 hätte das postfaktische Zeitalter beendet, sagt die Wissenschaftshistorikerin Helga Nowotny. Die Wissenschaften waren bis vor kurzem weit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen der politischen Aufmerksamkeit, da sie unter Umständen auch unangenehme Dinge zu verkünden hatten und haben. Kann nun aber der bange Blick auf die magischen Kurven von Krankheit und Tod allein das Verhältnis zu den Wissenschaften verändern? Die Wissenschaften brauchen Kritik und Differenz, um Perspektiven zu überprüfen, in Frage zu stellen, neue Sichtweisen einzunehmen und diese unter Umständen wieder zu verwerfen. In ihrer Praxis müssen sie frei sein, frei von kommerziellen oder politischen Interessen und diese Freiheit teilen sie mit Kunst und Kultur. Zu deren Strategien gehören Experiment, Überschuss und Interdisziplinarität – diese mit den Wissenschaften in Austausch und Widerstreit zu bringen ist genauso unentbehrlich wie die gesellschaftliche Kommunikation und die öffentliche Debatte darum.
Die Kraft der Kunst, sagt Christoph Menke, läge in der Möglichkeit, in der Freiheit – und Hannah Arendt würde ergänzen, in der Möglichkeit zu handeln. Das Vermögen zu handeln wäre dabei zu unterscheiden vom „Sich-Verhalten“. Gerade jetzt, wo es angezeigt ist, eine Reihe von Verhaltensregeln im Umgang miteinander zu beachten, um die Pandemie einzuschränken, dürfen wir nicht vergessen, was es heißt zu handeln, dürfen wir Regeln nicht mit Repressionen und Freiheit nicht mit Rücksichtslosigkeit verwechseln. Gerade jetzt kommt Kunst und Kultur die Aufgabe zu, Narrationen zu entwerfen, die uns eine diskursive, ästhetische Auseinandersetzung mit Fragen der Ethik, des Rechts, der Souveränität und des Subjekts auferlegt.
EVA MARIA STADLER ist Vizerektorin für Ausstellungen und Wissenstransfer an der Universität für angewandte Kunst Wien, darüber hinaus ist sie Professorin für Kunst und Wissenstransfer und Institutsvorständin am Institut für Kunst und Gesellschaft an der Universität für angewandte Kunst in Wien und arbeitet als Kuratorin für zeitgenössische Kunst.