Tatsächlich denke ich oft an Hermann Hinterberger. Er war Schneidermeister in Linz.
Tatsächlich denke ich oft an Hermann Hinterberger. Er war Schneidermeister in Linz. Seine Werkstatt lag in der Waldeggstraße 47. Das Haus gibt es noch, so wie die Nachbargebäude steht es aber länger schon leer. Tür und Fenster sind mit Schaltafeln vernagelt. Dahinter vermute ich einen leeren Raum, der mit den anderen verlassenen Häusern an der Waldeggstraße im Zuge der Errichtung des Linzer Westrings für immer verschwinden wird.
Von Hinterberger ließ ich mir vor mehr als 30 Jahren einen Maßanzug schneidern. Ich war damals noch keine 20, gehörte zur Subkultur der Mods, weshalb der Anzug den modischen Kriterien der frühen 1960er-Jahre zu entsprechen hatte. Für Hinterberger war ich ob meiner Sonderwünsche ein seltsamer Kunde – und er für mich ein besonderer Schneidermeister. Weil man für einen Anzug zu Anproben kommen muss, ich mir später noch drei Hosen fertigen ließ, ging ich bei ihm ein und aus. Dabei lernte ich ihn auch als Visionär kennen. Seine Idee hieß Auto-Lot. Eine Visitenkarte, die ihn als Geschäftsführer und Projektant gleichnamiger GesmbH ausweist, habe ich noch. Bei Anproben war es Brauch, dass danach eine Lade aufging, aus der er das Konzept zu Auto-Lot herausholte. Leicht zu erraten, handelte es sich dabei um einen Lotsendienst. So weit ich mich erinnere, sollte Auto-Lot ein Zubringerdienst sein. Platziert an Einfahrten von Städten. Um Auswärtige ohne Umwege ans Ziel zu lotsen. Hinterberger hatte es in den Pausen des Schneiderns entwickelt. Wenn er am Fenster seiner Werkstatt stand und auf den Verkehrsstrom starrte, der täglich vorbeitoste. Irgendwann mussten ihm Zweifel gekommen sein, ob der nicht zu bändigen sei. So kam er wohl auf Auto-Lot, das, wie wir heute wissen, Idee blieb.
Ich sah Hinterberger in späteren Jahren noch häufig, längst trug ich wieder Kleidung von der Stange, beim Vorbeifahren vom Autobus aus am Fenster stehen. Wie ironisch, dass seine vernagelte Werkstatt, wo über Jahrzehnte erstklassiges Handwerk entstand, nun seit Jahren der leerstehende Saum einer Ein- und Ausfahrtsschneise ist.
Es bräuchte mehr Hinterberger, denke ich bis heute, dann würde in Linz anders auf den Verkehr und die stadtplanerische Entwicklung geschaut. Nach vorne. Mit Problembewusstsein. Und mit kreativen Lösungen. Davon ist allerdings nichts zu bemerken. Am Vorabend meiner zweiten und wohl endgültigen Rückkehr nach Linz beschäftigt mich das mehr als sonst. Wie wird es sein, wieder in einer Stadt zu wohnen, die sich den nach dem Abwirtschaften von Detroit frei gewordenen Titel „Autostadt“ mit Fug und Recht sichern könnte? Gut, der Verkehr nimmt überall zu, und Hochhäuser werden auch anderswo gebaut. Autostädte und Renditearchitektur, wohin man reist. Wer aber offenen Auges durch Linz spaziert, den wundert es weniger, wenn ein Kommentar wie jener in der Wiener Zeitung vom 26. Juni 2018 erscheint, in dem der Wiener Stadtplaner Reinhard Seiß urteilt, die Linzer Stadt- und Verkehrsentwicklung laufe den gängigen Vorstellungen von „nachhaltig“ oder „zukunftstauglich“ völlig zuwider. Seiß führt dazu aus: „Eher erinnert Vieles an den Stadtumbruch der 60er und 70er Jahre – den damals vor allem modernisierungswütige Ingenieure befeuerten, während er heute von einer zunehmend spekulativen Baubranche und einer immer unsachlicheren Politik vorangetrieben wird.“ Auch was Seiß über die aus dem Boden schießenden Hochhäuser schreibt, klingt hart. „Ignorant gegenüber zeitgemäßer Planung“ sei ihre Zunahme. Mit Hinterberger ließe sich über all das bestimmt engagiert debattieren. So wie ich ihn erlebt habe, würde er sich wundern, dass eine 1972 geplante Stadtautobahn, der Westring, erst jetzt gebaut wird, wenn anderenorts längst Lösungen entstehen, die Alternativen zum automobilen Individualverkehr stärken.
Ein Retrofeeling stellt sich beim Spazieren unweigerlich ein. Was mich insofern wundert, da Linz in vielen Dingen ganz andere Ansprüche an sich hat. Mit der voestalpine besitzt die Stadt einen Weltkonzern, und durch die Ars Electronica sollte sie in ihrem Bewusstsein ganz woanders positioniert sein, als sie sich mehr und mehr selbst verortet. Würde nur ein wenig Feenstaub der Ars Electronica auf die baulichen Überlegungen der Stadt rieseln, denke ich mir. Das würde zu anderen Ergebnisse führen. Stattdessen bröselt metaphorisch der Beton der Neubauten und erst noch zu errichtenden Straßentrassen schon jetzt vor sich hin. Warum nur dieser unnötige Kleinmut, denke ich mir. Warum verspätet zur Anwendung bringen, was da und dort bereits gescheitert ist? Es ist erstaunlich, wie oft speziell Klein- und Mittelstädte wie Linz nach einem Profil in der Welt suchen, und dann erst recht nur das wiederholen, was es überall schon gibt.
Als nicht in politischer Verantwortung stehender Mensch denkt man sich das anders. Vielleicht auch, weil man die Zeit hat oder sie sich nimmt, in der Süddeutschen Zeitung (SZ) in der Serie „Unterwegs in die Zukunft“ von der spanischen Stadt Pontevedra zu lesen. Dort löste ein Bürgermeister das Verkehrsproblem auf kreative Art. Miguel Anxo Fernández Lores hat auf die „Peatonalización“ des Zentrums gesetzt. Diese Wortschöpfung lässt sich mit „Verfußgängerung“ übersetzen. Die Benutzung von Autos bleibt Anwohnern, Lieferanten und dem öffentlichen Nahverkehr vorbehalten. Verkehrszeichen, Fahrbahnmarkierungen und Ampeln wurden entfernt, die Straßen für alle Verkehrsteilnehmer geöffnet. Fußgänger haben immer Vorrang. Ein Plan zeigt, wie schnell man als Fußgänger durch die Stadt kommt. Und das Beste daran: Das Konzept funktioniert. In einer Stadt mit 80.000 Einwohnern. Weil an den Durchgangsstraßen, die einen großen Bogen um das Zentrum machen, knapp 15.000 Parkplätze eingerichtet wurden. Um einen Zweifel zu zertreuen: Die Geschäftsleute profitieren ebenfalls von den drastischen Beschränkungen. Damit wurde Pontevedra „zum Modell für eine fundamentale Änderung der Verkehrs- und Mobilitätspolitik“, wie die SZ schreibt. Delegationen aus der ganzen Welt würden deshalb in die Stadt an der Mündung des Flusses Lérez in den Atlantik reisen. Da kann die Waldeggstraße nicht mithalten.
Das Herbeiwünschen von Feenstaub und Schielen auf progressive Best-Practice-Lösungen hat auch damit zu tun, dass sich im Bundesland fortsetzt, was in Linz auffällig ist. Eine überregionale Raumplanung mag in Oberösterreich am Papier existieren, erkennbar ist sie in natura nicht. Jeden Tag würden hier zwei Hektar Grünland überbaut werden, war zuletzt im Zusammenhang mit dem Verschwinden der Bienen zu lesen. Und das in einem Land, das sich gerne auf die Bedeutung von Adalbert Stifter beruft. Zumindest in dessen Jubiläumsjahren. Ohne Konsequenz freilich. Und ohne – hier lehne ich mich aus dem Fenster – eigene Literaturerfahrung. Aber wie ließe sich der an ein Pyramidenspiel erinnernde Umgang mit der Landschaft sonst erklären? Zwei Hektar täglich! Das mag heute nicht auffallen, oder nur wenigen, und noch wenigere stören, aber in ein, zwei Generationen kann man Adalbert Stifter dann neben J. R. R. Tolkien einreihen, weil dessen Beschreibungen von Natur endgültig Fantasy sein werden.
Den Maßanzug habe ich übrigens noch immer. Das Sakko passt nach wie vor tadellos. Nur die Beinlänge ist nach meinem heutigen Empfinden zu kurz. Meister Hinterberger sah auch das vermutlich voraus.
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