Überlegungen zur „Zuvielisation“ und der Rolle der Bildung
Wir leben in einer „Zuvielisation“. Dieses Wortkonstrukt ist natürlich erläuterungsbedürftig. Unter „Zivilisation“ wird im Allgemeinen eine BürgerInnengesellschaft verstanden, in der die möglichst guten sozialen und materiellen Bedingungen durch technischen Fortschritt und Wirtschaft geschaffen und durch eine entsprechende Politik abgesichert werden. Zum Wohle des Volkes. Denn das ist die alte Norm: „salus populi suprema lex esto“ – Das Wohl des Volkes ist das höchste Gesetz. Die Frage ist allerdings seit jeher, was „möglichst gut“ konkret bedeutet bzw. was genau dem „Wohl des Volkes“ dient oder nicht.
Im Begriff „Zuvielisation“ steckt nun „zu viel“. Was das im Zusammenhang mit unserer modernen Wohlstandsgesellschaft bedeutet, möchte ich am Beispiel des „Earth Overshoot Day“, des „Erderschöpfungstages“ veranschaulichen. Dies ist der Tag im Jahr, an dem die menschliche Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen die Kapazitäten der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen übersteigt. Das heißt: Ab diesem Tag leben wir auf Pump, machen Schulden zulasten zukünftiger Generationen – bzw. auch zulasten gegenwärtiger Generationen, wenn man etwa bedenkt, dass unser Wohlstand in der „Externalisierungsgesellschaft“ auf der Armut und dem Elend in anderen Teilen der Welt beruht. Um nur ein Beispiel zu nennen: Brasilien ist mittlerweile weltweit einer der größten Rindfleischexporteure. Und wir kaufen dieses Rindfleisch, möglichst billig natürlich. Aber in Brasilien hat die Rindfleischproduktion einen immensen Preis, nicht nur in ökologischer Hinsicht – Stichwort: brennendes Amazonien –, sondern auch in sozialer Hinsicht: In Brasilien hungern über zwei Millionen Menschen! Die Slums der Städte platzen aus den Nähten. Aber was jucken uns die BrasilianerInnen? Hauptsache, wir kriegen unser billiges Rindfleisch. Die negativen Folgen werden externalisiert: neben uns die Sintflut. Und das bedeutet auch, dass der Preis für „unser“ Rindfleisch nicht die „Wahrheit“ sagt, denn würden die Folgekosten der Rindfleischproduktion (nach dem VerursacherInnenprinzip) eingepreist, wäre das Produkt wesentlich teurer – aber damit eben auch unattraktiver für die KonsumentInnen, für uns.
Und wir alle wissen, dass dieses Prinzip der „Externalisierungsgesellschaft“ in gleicher Weise auch auf Avocados, Bananen, Orangen, Ananas, Mangos usw. anwendbar ist – und natürlich auf andere Bereiche wie die Textil- oder die Elektronikindustrie.
Wie auch immer: Der „Earth Overshoot Day“ war zum Zeitpunkt der ersten Berechnungen in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts Ende Dezember. 2019 lag er am 29. Juli. Das ist aber nur der Wert für die gesamte Erde. Wenn alle Menschen so leben würden wie im Durchschnitt die Menschen in Österreich, läge der „Earth Overshoot Day“ im April, 2019 konkret am 8. April. Wenn alle Menschen auf der Erde so leben würden wie wir im Durchschnitt in Österreich, den gleichen Energie- und Ressourcenverbrauch hätten, bräuchten wir rein rechnerisch drei Erden. Wir haben aber blöderweise keine drei Erden, sondern eben nur diese eine, von der WIR abhängig sind – nicht die Erde von uns. Das heißt, wir verbrauchen eindeutig zu viel, viel zu viel. Wir leben eben in einer „Zuvielisation“. Und es ist evident, dass diese „Zuvielisation“ kein Zukunftsmodell ist, sondern längstens mittelfristig gesehen selbstzerstörerisch – das ist die simple Wahrheit hinter der F4F-Bewegung. Legt man Kants berühmten „kategorischen Imperativ“, der die Verallgemeinerbarkeit einer Maxime als Indikator für ihre ethische Unbedenklichkeit definiert, an unsere Lebensweise an, so gelangt man unweigerlich zu dem Schluss, dass diese nicht „allgemeines Gesetz“ werden kann – und deshalb ethisch (eigentlich) nicht zu rechtfertigen ist. Wir können uns vielleicht wünschen, dass alle Menschen auf der Erde so leben könnten wie wir, aber wir können es nicht wirklich wollen, weil dies unweigerlich dazu führen würde, dass unsere eigene Lebensweise kollabieren muss. Das bedeutet auch, dass die „Zuvielisation“ mittelund längerfristig nicht dem „salus populi“ dienen kann.
Daraus folgt wiederum logisch, dass wir anders leben lernen müssen – bescheidener, genügsamer, womöglich orientiert an uralten Einsichten wie beispielsweise der des großen Lust-Philosophen Epikur: „Willst du einen Menschen glücklich machen, so vermehre nicht seine Habe, sondern verringere seine Bedürfnisse.“ Oder an der Glücksdefinition des Aristoteles: „Glückselig ist, wer mit äußeren Gütern mäßig bedacht maßvoll gelebt hat.“ Oder auch am österreichischen Nationalökonomen Leopold Kohr, der schon im 20. Jahrhundert vehement die „Rückkehr zum menschlichen Maß“ eingefordert hat.
„Die Gier“, schrieb Erich Fromm in seinem Werk „Haben oder Sein“, „ist immer ein Ausdruck der inneren Leere“. Was er damit meinte: Wenn man nicht zufrieden ist mit dem, wer und wie man ist, wenn man nicht „bei sich“, sondern von sich selbst entfremdet ist, neigt man leicht dazu, dieses Selbstzufriedenheitsdefizit zu kompensieren, sei es durch Hab-Sucht, Herrsch-Sucht, Konsum-Sucht oder/ und durch die „Flucht“ in den Rausch, die Droge.
Was aber könnte der Schlüssel dazu sein, den Wechsel vom materialistischen Lebensstil des „Habens“ zum humanistischen Lebensstil des „Seins“ zu initiieren? Nach meiner Überzeugung: Bildung! Worunter ich freilich nicht dieses unsägliche tägliche Abfüllen von Kindern als Stoff- Stopfgänse verstehe, das in unserem Verbildungssystem noch immer gang und gäbe ist. Stoffzwang und Zwangsstoff, Fremdbestimmung ohne Rücksicht auf die Frage: „Interessiert mich das?“ Notendruck, Leistungsdruck, Bewertungsängste – und die Angst vor Fehlern, Angst als Triebfeder eines ganzen Systems. Einen effizienteren Kreativitäts- und Mut-Killer gibt es nicht.
Wenn ich von „Bildung“ rede, dann meine ich: Mehr Philosophieren wagen! Eine Bildung, der es im Kern um die Frage ginge, was denn das Menschenleben wirklich lebenswert macht, welche Beziehungen mit welcher humanen Qualität man zu anderen Menschen pflegen kann, welche Qualitäten Freundschaften haben, welchen Stellenwert Verantwortungsbereitschaft, Teamfähigkeit, Solidarität und Empathie, welche Verbundenheit man mit der nichtmenschlichen Natur spürt, welchen Sinn man im eigenen Sein und Handeln erkennt. Und eine Bildung, die auf die Kompetenz des Selber-Denkens abzielt, des kritischen Hinterfragens, der aufmerksamen Selbstreflexion, Mündigkeit, Selbstbewusstsein und nicht zuletzt die Widerständigkeit gegenüber dem konsumistischen Dogma der „must haves“.
Ich habe größte Hochachtung vor den vielen engagierten Lehrerinnen und Lehrern „da draußen“, denen das Wohl der ihnen anvertrauten Kinder wirklich ein Anliegen ist – und die im Zweifel selbst unter den starren Strukturen und Zwängen des „Systems“ zu leiden haben. Das überkommene „Konzept“ von Schule ist das Problem, die systemischen Grundstrukturen, nicht die LehrerInnen (na ja, nicht alle) und erst recht nicht die Kinder. Und es wird keinen qualitativen gesellschaftlichen Fortschritt geben – der vor dem Hintergrund der „Zuvielisations“- Fakten not-wendig ist –, wenn nicht die systemischen Grundstrukturen des Schul- und Bildungswesens grundlegend verändert werden.
Ist das eine Utopie? Mit Sicherheit (zumindest in diesem Land). Aber konkrete Utopie(n) und entsprechender politisch-gestalterischer Mut sind wohl heute mehr denn je: das „Prinzip Hoffnung“.
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