Kaum ein Forschungsbereich entwickelt sich so dynamisch wie die Medizin. Digitalisierung, technologischer Fortschritt sowie andere Lebensgewohnheiten haben die Ansprüche massiv geändert. In Linz wurde an der JKU jetzt ein neuer Medizinischer Campus gebaut – er steht für ebendiese Veränderung und auch für die große Frage: Worauf wird es in der Zukunft der Medizin ankommen?
Endlich ist er da, der Tag der Impfung gegen das gefürchtete Virus SARS-CoV-3. Im Impfzentrum ist alles perfekt organisiert, e-Card bitte, hier unterschreiben, Zeigefinger ins Gerät, um einen Tropfen Blut abzunehmen. Eine Aufklärung über mögliche Impfreaktionen bekommen wir nicht, denn Impfreaktionen sind abgeschafft: Während wir durch die Halle zu der Ärztin gehen, die uns die Spritze geben wird, ermittelt ein Messgerät die Antikörper-Mischung in unserem Blut, gibt die Information an eine Künstliche Intelligenz weiter, und die teilt der Ärztin innerhalb von Sekunden mit, welcher Impfstoff in welcher Dosierung für uns am besten geeignet ist. Das Szenario ist Zukunftsmusik – aber realistische Zukunftsmusik. Alle dafür nötigen Technologien gäbe es schon, nur würde die Analyse derzeit Monate dauern und enorme Kosten verursachen, sagt der Bioinformatiker Günter Klambauer, der sich am Institut für Machine Learning der JKU mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Medizin beschäftigt. Deshalb bekommen heute alle Erwachsenen dieselbe – für gesunde junge Menschen oft unnötig hohe – Dosis derselben Impfstoffe.
Technische Neuerungen wie die von Klambauer beschriebene werden die Medizin der Zukunft prägen. Aber nicht nur sie. Manch wichtige Entwicklung hat weniger mit futuristischen Technologien zu tun als mit einem neuen, offeneren Blick auf Daten und auf die Menschen dahinter – mit der Erkenntnis, dass nicht alle Patient*innen gleich sind und nicht allen dasselbe hilft. Wie also könnte sie aussehen, die Medizin der Zukunft?
Künstliche Intelligenzen können in fast allen Bereichen der Medizin nützlich sein, sagt Günter Klambauer – von der Forschung und Entwicklung über die Diagnose von Krankheiten bis hin zu Therapieentscheidungen.
So könnten wir in Zukunft, statt einmal jährlich zum Hautarzt zu gehen, Fotos unserer Muttermale von einer App analysieren lassen, sagt Klambauer. Derartige Apps existieren bereits, eine 2020 veröffentlichte systematische Review dazu kommt allerdings zu einem vernichtenden Urteil. Auch für die (nähere) Zukunft schränkt Klambauer ein: „Die KI kann einen Arzt oder Hautarzt nicht ersetzen. Aber sie kann uns darauf hinweisen, ob wir doch lieber zum Dermatologen gehen sollten.“ Wie KI die Entwicklung von Medikamenten voranbringen kann, hat Klambauers Forschungsgruppe in der Corona-Pandemie gezeigt. Sie suchte mittels KI nach Wirkstoffen gegen Covid-19. „Es gibt viele Hinweise darauf, dass die gefundenen Wirkstoffe gut funktioniert hätten“, sagt Klambauer, „bei einem hat eine andere Gruppe nachgewiesen, dass er die Virenlast in vitro um das Fünftausendfache senkt.“ Aber das Beispiel zeigt auch, dass Technologie allein nicht ausreicht, wenn etwa die Vernetzung zwischen verschiedenen Fachbereichen fehlt: Die Ergebnisse des Projekts blieben folgenlos, weil kein Biotechnologie-Labor sie aufgegriffen und die gefundenen Wirkstoffe systematisch getestet habe, sagt Klambauer.
Der Roboter als helfende Hand
So wie KIs Diagnostik und Forschung weiterbringen können, eröffnen in der Chirurgie Roboter neue Möglichkeiten. Wobei „das Missverständnis schlechthin“ die Annahme sei, dass Roboter dabei selbst operierten, sagt Elisabeth Kirchner, Leiterin der gynäkologischen Onkologie am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien und Vorsitzende der Österreichischen Gesellschaft für Roboterchirurgie. „Es operiert nach wie vor der Mensch“, erklärt sie, „der Roboter unterstützt uns technisch dabei.“
Klassische minimalinvasive Operationen, besser bekannt als Knopfloch oder Schlüssellochoperationen, werden schon seit den 1980er Jahren durchgeführt. Bei diesen Eingriffen – in der Fachsprache heißen sie Laparoskopie, wenn sie im Bauchraum erfolgen – schieben die Chirurg*innen durch wenige Millimeter große Einschnitte eine Kamera und Operationsinstrumente ins Körperinnere. Bei einer Roboteroperation läuft es genauso, nur sitzen die Ausführenden dabei in einer Steuerkonsole und bedienen mit den Händen die an Roboterarmen befestigten Instrumente. Die Vorteile: „Der Roboter lässt uns das Zielorgan sehr nahe und sehr gut in 3D sehen statt in 2D. Und er bietet mehr Bewegungsfreiheit als die Instrumente bei der klassischen Laparoskopie.“
Ursprünglich, erzählt Kirchner, wurde die Entwicklung der Roboterchirurgie unter anderem von der US-Weltraumagentur NASA finanziert, mit dem Ziel, Operationen auf Distanz zu ermöglichen. Das würde Patient*innen in abgelegenen Regionen zugutekommen, aber nicht nur ihnen: Die Spezialisierung schreitet voran, per Roboter könnten seltene Eingriffe von den jeweils erfahrensten Chirurg*innen weltweit durchgeführt werden.
Die Vision der Operation auf Distanz sei bereits in greifbarer Nähe. Derzeit aber liege der Schwerpunkt der Forschung auf der Verbesserung der Technik und der Ausbildung. „Die Arbeit mit dem Roboter ist sehr intuitiv, man bewegt die robotischen Arme wie die eigenen. Die Lernkurve ist daher deutlich steiler als bei der Laparoskopie“, sagt Kirchner. „Und es gibt Doppelkonsolen, in denen die Lehrende dasselbe sieht wie die Lernende und im Notfall auch übernehmen kann.“
Noch ist die Roboterchirurgie eine teure Angelegenheit. Trotzdem lohne sie sich bereits heute bei bestimmten nicht laparoskopisch durchführbaren Operationen auch finanziell, sagt Kirchner – weil die Patient*innen danach schneller entlassen werden können und weniger Schmerzmittel brauchen als bei einem Bauchschnitt.
Dass Roboter über kurz oder lang alle Bereiche der Chirurgie dominieren werden, glaubt Kirchner dennoch nicht. Bei Operationen der Prostata etwa, die sehr tief im Becken liege und daher laparoskopisch kaum zugänglich sei, sei der Einsatz von Robotern schon heute etabliert. Wo die Laparoskopie gut funktioniere, etwa bei Blinddarmoperationen oder einfachen Eingriffen an den Eierstöcken, sehe sie hingegen wenig Verbesserungspotenzial durch Roboter. Wichtig sei jedenfalls, Chirurg*innen weiterhin auch in den klassischen Methoden auszubilden, etwa für den Fall, dass bei einer Roboteroperation Komplikationen auftreten.
Einen neuen, offenen Blick wagen
Manchmal verändern und verbessern nicht technische Neuerungen die Medizin, sondern einfach ein anderer Blick, ein Hinterfragen von Gewohnheiten. Das zeigt zum Beispiel die Entwicklungsmedizin, die sich darum bemüht, Menschen mit Beeinträchtigung umfassend zu behandeln.
Johannes Fellinger arbeitet als Neurologe und Psychiater mit Kindern und Erwachsenen und hat an der JKU das österreichweit erste Forschungsinstitut für Entwicklungsmedizin gegründet. „Zehn Prozent aller Menschen haben Entwicklungsstörungen“, sagt er. Bei ihrer Behandlung seien die Fachgrenzen der Medizin hinderlich. Der entwicklungsmedizinische Zugang ist daher zum einen multiprofessionell: Ärzt*innen verschiedener Fachrichtungen arbeiten mit Psycholog*innen, Linguist*innen, Sonderpädagog*innen und Sozialarbeiter*innen zusammen. Zum Zweiten bezieht er das Umfeld der Patient*innen mit ein: „Für viele Störungsbilder gibt es kaum Medikamente“, sagt Fellinger, „aber die Eltern, das soziale Umfeld, die Förderung haben einen enormen Einfluss darauf, wie stark die Beeinträchtigung einen Menschen prägt.“
Und zum Dritten arbeitet speziell das Linzer Institut altersübergreifend. „Bei Menschen mit Beeinträchtigung ist die Medizin als Diagnosestellerin, als Begleiterin, als Krisenfeuerwehr immer wieder gefragt“, sagt Fellinger. Aber der Übergang vom Kindes- zum Erwachsenenalter stelle oft ein Problem dar. „Sobald ein Mensch 18 wird, sind die pädiatrischen Institutionen nicht mehr zuständig und die Erwachsenenmedizin hat oft keine Ahnung, wie sie weitertun soll. Wir helfen den Familien auch bei Fragen zu einem Kind, das inzwischen 50 ist.“
Wie viel es – ganz ohne Roboter und Supercomputer – verändern kann, wenn Ärzt*innen einfach einen neuen, offenen Blick auf ihr Feld wagen, zeigt auch die geschlechtsspezifische Medizin. Sie entstand in den 90er Jahren in den USA, als Kardiolog*innen erkannten, dass junge Frauen, anders als bis dahin angenommen, durchaus Herzinfarkte erlitten und sogar besonders oft daran starben: weil ihre Symptome nicht der männlichen „Norm“ entsprachen und daher nicht erkannt wurden, und weil ein gern gegebenes Medikament das Sterberisiko bei Frauen erhöhte, statt es zu senken.
Inzwischen ist die Erforschung medizinischer Geschlechterunterschiede – sowohl auf biologischer als auch auf sozialer Ebene – ein anerkanntes Fachgebiet. Trotzdem ist es noch immer nicht selbstverständlich, dass in medizinischen Studien Frauen oder auch nur weibliche Mäuse und Zellen mit einbezogen werden (von trans- oder intergeschlechtlichen Menschen gar nicht zu reden). Und selbst wenn das geschieht, werden die Daten meist nicht geschlechtsgetrennt analysiert. Im Juli ergab eine Metaanalyse von 4.420 klinischen Studien zu Covid-19, dass gerade einmal vier Prozent davon ihre Daten nach Geschlecht ausgewertet hatten. Zwei Drittel erwähnten den Faktor Geschlecht nicht einmal. Und das, obwohl nach Beginn der Pandemie schnell klar war, dass Männer häufiger schwer an Covid-19 erkranken und öfter daran sterben als Frauen.
Was für das Geschlecht gilt, gilt ganz ähnlich auch für die ethnische Herkunft. Der „Standard-Mensch“ in Studien und Lehrbüchern ist nicht nur ein Mann, es ist ein weißer Mann. So berichteten Expert*innen 2020 in der „New York Times“, dass Hauterkrankungen bei schwarzen Menschen häufig nicht erkannt werden: Ihre Merkmale seien in Lehrbüchern meist auf weißer Haut abgebildet, wo sie aber oft anders aussähen als auf dunkler.
Schon allein dadurch, dass sie nicht automatisch von weißen Männern auf alle anderen Menschen schließt, könnte die Medizin der Zukunft also mehr Menschen besser behandeln.
Geht man von hier einen Schritt weiter, landet man beim Schlagwort „personalisierte Medizin“. „Viele Menschen denken dabei vor allem an eine bessere persönliche Betreuung durch Ärzt*innen oder Pflegepersonal“, sagt Caroline Pöchlauer von der Österreichischen Plattform für Personalisierte Medizin. Tatsächlich geht es darum, bei Prävention, Diagnose und Therapie die individuellen Eigenschaften der jeweiligen Person einzubeziehen. Dazu gehören Alter, Geschlecht und Krankheitsgeschichte, aber auch sogenannte Biomarker wie die Herzfrequenz, die im Blut vorhandenen Proteine und die genetische Ausstattung.
Schon heute können manche Tumoren auf bestimmte Biomarker hin untersucht und auf dieser Basis gezielt angegriffen werden. Früher oder später werde die personalisierte Medizin bei so gut wie jeder Erkrankung zum Einsatz kommen, sagt Caroline Pöchlauer. Zunächst allerdings liege der Fokus auf den großen Volkskrankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Demenz.
Dabei gehe es nicht darum, für jeden Menschen Behandlungen maßzuschneidern. Pöchlauer vergleicht die Vorgangsweise mit einem Kleidergrößensystem: Anhand von molekularen Biomarkern sollen Patient*innen in Gruppen eingeteilt werden, von denen man dann etwa weiß, ob sie ein erhöhtes Risiko für eine bestimmte Erkrankung haben oder ob sie auf eine bestimmte Behandlung ansprechen werden.
Die Frage nach den Daten
Wo Chancen sind, sind auch Risiken und die personalisierte, KI-unterstützte Medizin der Zukunft muss vor allem zwei davon bewältigen: den Datenschutz und den Umgang mit Verzerrungen.
Wenn eine App unser Hautkrebsrisiko kennt und bei jedem Impftermin der Antikörper-Mix in unserem Blut analysiert wird, wer darf dann diese Daten wie und wo speichern und zu welchen Zwecken auswerten?
„Es wäre Verschwendung, wenn man Daten aus Routineuntersuchungen nicht zum allgemeinen Wohl verwenden dürfte“, sagt Caroline Pöchlauer. „Wichtig sind aber die informierte Zustimmung der betroffenen Personen und ihr Schutz durch Pseudonymisierung.“ Die aktuellen Datenschutzregelungen im Bereich der Forschung seien eher zu strikt als zu locker.
„Eingeschränkt werden sollten nicht die KI-Methoden, sondern die Verwendung der Daten“, sagt der Bioinformatiker Günter Klambauer. Und: „Wenn alle Daten zentral bei einer Behörde gespeichert werden, besteht eine Riesengefahr, dass sie gestohlen werden.“ Die für Klambauer sinnvollste Lösung: Jede*r Patient*in sammelt die eigenen Befunde auf einem verschlüsselten Datenträger. Oder die Daten werden verschlüsselt gespeichert und können nur von den Patient*innen selbst entschlüsselt werden.
Nicht weniger komplex ist die Frage der Verzerrungen. Künstliche Intelligenzen sind nicht objektiv – sie spiegeln Verzerrungen in den Daten, mit denen sie trainiert wurden, wider und können sie sogar verstärken. Wird etwa die KI zur Muttermalerkennung überproportional mit Fotos weißer Menschen gefüttert, wird sie ein Melanom auf dunkler Haut genauso schlecht erkennen wie Ärzt*innen, die in der Ausbildung nur solche Fotos sehen. Im schlimmsten Fall zieht man aus der Tatsache, dass man auf dunkler Haut kaum Melanome erkennt, den Zirkelschluss, dass ein Foto von dunkler Haut kein Melanom zeigen kann.
Solche Verzerrungen sieht auch Günter Klambauer als große Gefahr. Aber als eine, die sich entschärfen lässt: In erster Linie durch eine diversere Auswahl der Teilnehmenden an medizinischen Studien – je weniger verzerrt die Trainingsdaten einer KI, desto besser die Ergebnisse, die sie am Ende ausspuckt. Und in zweiter Linie durch die Programmierung. „Es gibt Algorithmen, mit denen man Verzerrungen rausrechnen und Fairnesskriterien einbauen kann“, sagt Klambauer. „Die können keine Daten herzaubern, wo es keine gibt. Aber sie können zumindest dafür sorgen, dass die KI sagt: ‚Über diese Bevölkerungsgruppe weiß ich zu wenig‘, statt eine falsche Vorhersage zu treffen.“
Am Ende kommt es in der Medizin der Zukunft also doch wieder auf den Menschen an. Und zwar im doppelten Sinn: Wenn die Menschen, die die neuen Technologien bauen und anwenden, bei ihrer Arbeit jene Menschen im Fokus behalten, denen sie helfen wollen – nicht als gesichtslose Masse, sondern als Individuen –, dann wird die Medizin der Zukunft nicht nur futuristisch sein, sondern uns auch tatsächlich (noch) mehr Gesundheit und Lebensqualität bringen.