Musik mit naturwissenschaftlichen Verfahren zu betrachten, sei ungefähr so, wie eine Beethoven- Symphonie als Luftdruckkurve darzustellen.
Dieses Zitat wird jenem Physiker in die Schuhe geschoben, der selbst ein Popstar war und von dem man weiß, dass er Ludwig van Beethovens Musik als „emotional zu durchwühlt“ sowie „zu dramatisch und zu persönlich“ empfand. Musik und physikalische Gesetze? Nicht mit Albert Einstein. Für Bach und Mozart schwärmte der Mann, bei dem man romantische Verklärung für Notationen gar nicht erwägen mag, obwohl er seine Geige zärtlich „Lina“ nannte und zu Schuberts Kompositionen bemerkte: „Musizieren, lieben – und Maul halten!“ Dass ihn sogar die Eitelkeit beim Spiel vor Publikum beflog, spürte dereinst der Komödiendichter Ferenc Molnár, als dieser über Einsteins musikalischen Auftritt in kleiner Runde gekichert haben soll. „Warum lachen Sie, Molnár? Ich lache auch nicht in Ihren Lustspielen“, meckerte der Weltweise.
Aber Einstein blieb dran und kramte bei Wohltätigkeitsveranstaltungen so häufig wie ungefragt die „Lina“ aus der Tasche, bis ein Dahergelaufener reklamierte, es werde bald Fritz Kreisler an Einsteins Stelle die physikalischen Vorlesungen übernehmen müssen. Dieser Kreisler war es, der dem Formelvater von E = mc² an einem anderen Abend unterstellte, er könne nicht zählen, als Einstein wieder einmal den Einsatz verpatzt hatte.
So sehr es Einstein auch abstritt, Musik und Mathematik sind Geschwister. Das braucht man einem Mann wie dem talentierten Pianisten, Wittgenstein- Preisträger und JKU-Professor Gerhard Widmer nicht zu erzählen.
Wie einer seiner ehemaligen Informatikstudenten berichtet, weist Widmer diese Verwandtschaft anhand von absichtlich falschen Akkorden auch gerne selbst am Klavier nach. Hatte also Gottfried Wilhelm Leibniz recht, wenn er sagte, Musik sei die versteckte arithmetische Tätigkeit der Seele, die sich nicht dessen bewusst ist, dass sie rechnet? Stimmt das wirklich, wobei doch Musik und Mathematik aus völlig unterschiedlichen Richtungen kommen? Und die Gefahr, dass sie einander begegnen, so groß ist, wie das Risiko, dass sich das Pianisten-Wunderkind Kit Armstrong an einer falschen Taste vergreift.
Musik ist Kunst, die Emotionen auf metaphysische Weise auszudrücken vermag, aber in den Wolken belässt.
Mathematik will Phänomene der Natur nachweisen und in strenge Zahlen gießen, deren Interpretationspotenzial gegen null geht.
Bei Kit Armstrong sei nachgereicht, dass der 28-Jährige außerdem Mathematiker ist, sein naturwissenschaftliches Studium hatte er mit 15 abgeschlossen, parallel dazu ging er bei Alfred Brendel in die Pianisten- Lehre. Komponist Pierre Boulez war ebenfalls Mathematiker, genauso wie Dirigent Lorin Maazel und der revoltierende DDR-Liedermacher Wolf Biermann einer ist. Der Tenor Jonas Kaufmann gilt gerade noch, obwohl er das Mathematik-Studium abgebrochen hat, und Queen-Gitarrist Brian May lassen wir als Doktor der Astrophysik auch noch als einen jener Musiker durchgehen, die rechnerisch auf die Pauke hauen.
Wie kommt es zu dieser Wechselwirkung, zu diesem gegenseitigen Befeuern der einander vermeintlich abstoßenden Pole von Mathematik und Musik?
„Beim Kunstwerk soll das Chaos durch den Flor der Ordnung schimmern“, hat Novalis notiert. Der Flor der Ordnung ist die Kontrollinstanz, ob Musik als Kunstwerk gelten darf, selbst wenn alles mit Gefühl beginnt und mit Gefühl endet. Derlei geformte, mathematischen Prinzipien folgende Musik wird noch in 200 Jahren zu hören sein. Alles andere ist Geräusch und verschwindet.
Zu den vielen Idealen, die sich durch Musik vermitteln, gehört auch das der glücklichen Kommunikation. Man könnte wünschen, dass sich Redende so präzise verstehen, so genau aufeinander reagieren, wie es Musikinstrumente eines Ensembles tun. Der kleine Funke führt zur Explosion, wenn sich Musiker wie Liebende verhalten, indem sie sich aufgeben und Individualität auf der höchsten Stufe im Gemeinsamen praktizieren.
Nimmt man Musik ernst, also auch persönlich, dann kann sie sich zum Soundtrack eines Lebens verdichten, der auch als Formeln einer Identität nachzurechnen ist. Auf Strukturen und Grundrechnungsarten basierend, schafft es aber bloß die Musik, ein größeres Publikum zu verführen, Ergebnisse hörbar, erlebbar zu machen.
Der Mathematiker mag seine Lösungen komplexester Fragestellungen noch so dramaturgisch ausgefeilt vortragen, im Linzer Musiktheater wird man ihm dafür nicht den Großen Saal aufsperren müssen, um die Zuhörerschaft in Sitzreihen zu schlichten.
Also kehren wir wieder bei Einstein ein, der kein einsamer Rechner war. In seinem 1937 veröffentlichten Text „Moralischer Verfall“ beschwört er Künste und Wissenschaften als Zweige desselben Baumes. All diese Bestrebungen zielen darauf hin, „das menschliche Leben zu veredeln, es emporzuheben aus der Sphäre der rein leiblichen Existenz und den Einzelnen in die Freiheit zu führen“.
Und weil die Kunst genauso weit von der Erkenntnis entfernt ist wie die Naturwissenschaft, bringt das Geigenspiel den Physiker in seiner Arbeit keinen einzigen Schritt weiter. Gerhard Widmer ist kein famoser Informatiker, weil er die Klänge des Klaviers zu dressieren versteht. Wie viele naturwissenschaftlich Hochbegabte vertont er ob der systemischen Verwandtschaft die Varietäten seiner Anlage. Nur klingt sein Talent einerseits wunderschön – und andererseits? Gar nicht. Doch der Baum ist derselbe.