Viele Menschen halten die Tuberkulose für eine Krankheit, die der Vergangenheit angehört. Dabei erkranken jährlich nach
wie vor mehr als zehn Millionen Menschen weltweit daran, für 1,5 Millionen Menschen endet sie mit dem Tod. Sie auszublenden, kann gefährlich sein. Wie schnell die Fallzahlen wieder steigen können, zeigt sich aktuell in der Ukraine.
Tuberkulose konnte man auch ganz vornehm haben. Mit Aufenthalt im Luxus-Sanatorium in Davos, mit reichhaltigem Frühstück, mit Vier-Gänge-Menü zu Mittag, einem eleganten Dinner am Abend und dazwischen eingewickelt an der Frischluft in der Sonne liegend.
„Krankheit ist doch gewissermaßen etwas Ehrwürdiges“, lässt Thomas Mann seinen Protagonisten Hans Castorp im „Zauberberg“ sagen. Die Krankheit als Veredelung und Vergeistigung – was für ein hochtrabender Unsinn. „Diese Auffassung ist selbst Krankheit oder sie führt dazu“, belehrt Castorps Mentor Lodovico Settembrini ihn denn auch im Roman.
Recht hat Settembrini.
In den beengten Lebensverhältnissen der Armenviertel der europäischen Städte hatte die Krankheit nichts von der verklärten Schwindsucht-Romantik, in der Schriftsteller und Librettisten des 19. Jahrhunderts ihre Mimis („La Boheme“) und Kameliendamen sterben ließen. Thomas Mann legte dann auch Wert darauf, dass sein 1924 erschienener Roman „Kritik und Überwindung der als Todesfaszination verstandenen Romantik zugunsten des Lebensgedankens“ sei.
Tuberkulose, ausgelöst durch das Mycobacterium tuberculosis, war und ist bis heute eine der tödlichsten Infektionskrankheiten der Welt. Während der Corona-Pandemie wurde immer wieder an die vielen Opfer der drei Wellen der Spanischen Grippe nach dem Ersten Weltkrieg erinnert. Weiter in Vergessenheit blieb, dass die Tuberkulose vor, während und nach dem Krieg in unseren Breiten für jährlich oft mehr als 20 Prozent der Todesfälle verantwortlich war.
Tuberkulose ist der stille Killer unter den Infektionskrankheiten – und das auch heute noch. „Weltweit erliegen jährlich zwischen einer Million bis 1,5 Millionen Menschen dieser Krankheit“, sagt Bernd Lamprecht. Er hat den Lehrstuhl für Innere Medizin, Schwerpunkt Pneumologie, an der Medizinischen Fakultät der Johannes Kepler Uni inne. Weithin bekannt wurde der Lungenspezialist und Leiter der Lungenabteilung am Kepler Klinikum während der Corona-Epidemie.
In absoluten Zahlen am häufigsten betroffen sind von der Tuberkulose Länder in Afrika und Asien (Indien, Philippinen, Nigeria, Pakistan, Südafrika), aber auch in Osteuropa (unter anderem in Russland und der Ukraine) ist die Krankheit fest verankert. In Österreich hingegen ist Tuberkulose seit dem Ende des Ersten Weltkrieges auf dem Rückzug. Verantwortlich für diese anfangs noch langsame Entwicklung waren ein kontinuierliches Steigen des Lebensstandards, vor allem aber eine Verbesserung der Wohn- und Arbeitsverhältnisse sowie Fortschritte bei der Behandlung der Krankheit. „Der Bazillus findet den günstigsten Nährboden in den kleinen, dicht gedrängten Arbeiterwohnungen, in die sich kein Sonnenstrahl verirrt“, hielt der Wiener Anatomieprofessor Julius Tandler einst fest. Als Stadtrat für Wohlfahrts- und Gesundheitswesen im „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit hatte er später erheblichen Anteil daran, dass sich das änderte.
Eine kurzfristige Steigerung an TBC-Erkrankungen brachte der Zweite Weltkrieg, danach ging es mit der Zahl der Erkrankten und vor allem der Tuberkulose-Sterblichkeit in Österreich rapide nach unten. Als sehr wirkungsvoll in der Behandlung erwies sich das 1944 entwickelte Antibiotikum Streptomycin.
Der Trend nach unten hält in Österreich bis heute an. Registrierte man im Jahr 2000 in Österreich noch 1.217 an Tuberkulose erkrankte Personen, waren es 2010 nur noch 575. 2021 sank die Zahl auf 388. Das ergibt eine jährliche Inzidenz von weniger als fünf Erkrankten pro 100.000 Einwohner.
Befürchtungen, wonach sich Tuberkulose aufgrund der Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre bei uns wieder stärker ausbreiten würde, bewahrheiteten sich nicht. „Wir wissen zwar nicht, ob der Rückgang ohne Zuwanderung aus Ländern mit hoher Inzidenz nicht noch stärker gewesen wäre“, sagt der Linzer Lungenspezialist Bernd Lamprecht. „Tatsache ist aber, dass die Zahlen weiter nach unten gingen.“
Muss man sich hierzulande also keine Sorgen mehr um Tuberkulose machen? Das wäre ein Fehler, sagt Lamprecht. Man müsse wachsam bleiben – und Erkrankungen möglichst rasch diagnostizieren, um die Betroffenen für die Behandlung abzusondern. Im Linzer Kepler Universitätsklinikum (KUK) werden aktuell fünf Personen wegen Tuberkulose stationär behandelt. Das Alter der Patienten reicht von Mitte 20 bis Mitte 70.
„Jüngere Patienten sind meist aus Ländern mit einer höheren Tuberkulose- Inzidenz zugewandert“, sagt Lamprecht. Bei älteren Erkrankten sei der Ausbruch oft durch „Immunseneszenz“ bedingt. „Im Alter wird das Immunsystem schwächer“, sagt Lamprecht. „Dazu kommt eine Risikokonstellation, die gewissermaßen hausgemacht ist: Für manche Erkrankungen verwenden wir in der Medizin Medikamente, die das Immunsystem bewusst schwächen – etwa für die Behandlung von rheumatoider Arthritis.“
Der Bazillus ist immer da und eine schlummernde Gefahr
Um zu verstehen, wie eine Schwächung des Immunsystems zu einer Tuberkulose-Erkrankung führen kann – selbst wenn im Umfeld niemand sonst akut erkrankt ist –, muss man über eine Besonderheit dieser Infektionskrankheit Bescheid wissen: Viele Menschen infizieren sich im Laufe ihres Lebens irgendwann mit dem Tuberkulose- Bazillus, ohne davon etwas zu merken. Schätzungen gehen davon aus, dass weltweit jeder dritte Mensch Kontakt mit dem Bazillus hatte. Zum Ausbruch kommt die Krankheit aber nur bei einem kleinen Bruchteil der Infizierten.
„Wenn jemand ein intaktes Immunsystem hat, dann erkennt es den Erreger und kapselt ihn ab“, sagt Lamprecht. Der Erreger schlummere zwar weiter im Körper, werde vom Immunsystem aber in Schach gehalten. „Wenn dieses Immunsystem aber schwächer wird – durchs Älterwerden oder durch Medikamente –, dann kann diese schlummernde Tuberkulose manifest werden.“ Weshalb man Patienten bei vielen Therapien, die das Immunsystem schwächen, zuvor auf latente Tuberkulose untersucht.
Die wichtige Rolle des Immunsystems erklärt auch, warum allein schon Verbesserungen des Lebensstandards und der Ernährungslage in einem Land die Tuberkulose-Fallzahlen senken können. Denn alles, was das Immunsystem schwächt – etwa Mangelernährung und schlechte hygienische Bedingungen –, begünstigt den Ausbruch der Erkrankung. Infektiös sind nur tatsächlich Erkrankte. Bricht die Krankheit nur bei wenigen Leuten aus, senkt das die Zahlen weiter.
In Afrika wiederum geht die hohe Zahl an Tuberkulose-Erkrankten oft Hand in Hand mit der hohen Verbreitung von AIDS. Das HI-Virus schwächt bekanntlich auch das Immunsystem.
Wie infektiös ist Tuberkulose? „Nicht so infektiös wie das Coronavirus SARS-CoV2“, sagt Lamprecht. Im Freien gehe die Ansteckungsgefahr „gegen null“. In geschlossenen Räumen brauche es einen zumindest mehrstündigen gemeinsamen Aufenthalt für eine Infektion. Als Infektionskrankheit ist sie aber auf jeden Fall meldepflichtig. Wie bei Covid werden Betroffene behördlich abgesondert, solange sie infektiös sind. Gleichzeitig beginnt die Suche nach Kontaktpersonen und deren Untersuchung auf eine allfällige Ansteckung. Anzeichen für eine Erkrankung sind Husten, ungewollte Gewichtsabnahme, Müdigkeit, leichtes Fieber oder Nachtschweiß.
Bis 2050 soll Tuberkulose verschwunden sein. Das ist illusorisch.
Die Pocken gelten seit 1977 weltweit als ausgerottet, im Kampf gegen Kinderlähmung (Polio) gibt es große Fortschritte. Auch für die Tuberkulose hatte sich die Weltgesundheitsorganisation ein Ziel gesetzt: Bis 2050 sollte TBC eliminiert sein.
Professor Lamprecht glaubt nicht, dass dieses Ziel erreicht wird. „Eine komplette Auslöschung halte ich nicht für wahrscheinlich.“ Die Pocken wurden durch ein konsequentes Impfprogramm eliminiert. Auch bei der Kinderlähmung ist es eine Impfung, die die Krankheit weltweit stark eingeschränkt hat. Gegen Tuberkulose gibt es mit dem Mykobakterien-Impfstamm Bacillus Calmette-Guérin (BCG) ebenfalls eine Impfung. Doch anders als die Polio- und Pocken- Impfung erwies sich diese nicht als ausreichend wirksam – und wurde aufgegeben.
„Gleichzeitig hat man gesehen, dass man die Erkrankung im Falle eines Ausbruchs mit Medikamenten ganz gut behandeln kann“, sagt Lamprecht. „Damit wird man allerdings keine Elimination schaffen, weil es immer wieder Regionen in der Welt geben wird, wo die Risikosituation anders als bei uns hoch ist und verstärkt Infektionen auftreten.“
Das Best-Case-Szenario – ein Verschwinden der Krankheit – scheint also illusorisch. Was ist das Worst- Case-Szenario? „Dass sich noch mehr Stämme des Erregers entwickeln, die mit den Standard-Medikamenten schwer behandelbar sind“, sagt Lamprecht. Normalerweise lasse sich Tuberkulose mit einer medikamentösen Kombinationstherapie innerhalb von sechs Monaten gut auskurieren.
Dabei werden in den ersten beiden Monaten vier Antibiotika (Isoniazid, Rifampicin, Ethambutol, Pyrazinamid) verabreicht, in den nächsten vier Monaten zumindest zwei dieser Medikamente (Isoniazid, Rifampicin). Als Reservemedikament bei Unverträglichkeiten steht noch das 1944 entwickelte Streptomycin zur Verfügung. Die
se herkömmliche Form der Tuberkulose beträfe 80 bis 90 Prozent der Fälle in Österreich, sagt Lamprecht. Doch längst haben sich multiresistente (MDR) und extremresistente (XDR) Erregerstämme gebildet, die die restlichen zehn bis 20 Prozent ausmachen.
Tuberkulose ist gut heilbar, wenn die Therapie lange genug durchgehalten wird
„Resistenzen bei Tuberkulose-Erregern entstehen fast immer so, dass Behandlungen zu kurz oder nicht ausreichend hoch dosiert durchgeführt werden“, sagt Lamprecht. Dass Antibiotika-Kuren also begonnen, aber nicht austherapiert werden.
Jeder, der schon einmal Antibiotika gegen kleinere bakterielle Erkrankungen verschrieben bekommen hat, kennt den Appell, die Medikamente nicht ohne ärztliche Konsultation vorzeitig abzusetzen. Bei Tuberkulose gilt das umso mehr. Weil aber – anders als etwa bei einer Stirnhöhlenentzündung – die Antibiotika-Behandlung von TBC nicht ein paar Tage, sondern zumindest ein halbes Jahr dauert, ist eine inkomplette Therapie gar nicht selten.
Zum einen, weil Patienten nach einer spürbaren gesundheitlichen Verbesserung die Medikamente oft nicht mehr regelmäßig oder in ausreichender Dosis einnehmen. Zum anderen, weil nicht alle Länder ein ausreichend stabiles Umfeld haben, um eine ununterbrochene Versorgung mit Medikamenten zu gewährleisten. „Ein Beispiel ist jetzt die Ukraine“, sagt Lamprecht. „Da hat es schon vor dem Krieg ein Problem mit multiresistenten Stämmen gegeben. Der Krieg verschärft das.“
Von den aktuell fünf Tuberkulose-Patienten am Kepler Klinikum haben vier eine herkömmliche Tuberkulose, einer eine multiresistente Tuberkulose. Das entspricht im Groben auch der allgemeinen Verteilung.
Derzeit behandle man MDR-Fälle „mit Zweit- und Drittlinien-Therapeutika sowie alternativen Präparaten“, sagt Lamprecht. Die Therapie sei viel langwieriger und dauere in der Regel zwei Jahre. Die Erfolgschancen sind bei MDR- und XDR-Stämmen deutlich geringer als bei den auf die Standardmedikamente sensiblen Erregerstämmen. Bei einer unkomplizierten Tuberkulose erziele man in bis zu 90 Prozent der Fälle einen Erfolg, sagt Lamprecht. „Bei MDR-Fällen liegen die Erfolgschancen nur noch zwischen 50 und 60 Prozent.“ Das heißt: Fast jeder zweite MDR-Fall endet tödlich. Noch geringer sei die Erfolgsquote bei XDR-Fällen.
Wichtig sei, Medikamente weiterzuentwickeln, um auch resistente Formen der Tuberkulose adäquat behandeln zu können. „Sonst kommen wir zu dem Punkt, dass es Stämme geben wird, die wir gegenwärtig nicht behandeln können“, sagt Lamprecht. In solchen Fällen müsste man bei der Absonderung der Patienten besonders streng sein. „In manchen osteuropäischen Ländern ist es so, dass Erkrankte dauerhaft isoliert werden, wenn keine Behandlung zur Verfügung steht.“ Denn gerade nicht behandelbare Erregerstämme dürften sich nicht weiterverbreiten. Für die Betroffenen sei diese dauerhafte Isolation besonders schlimm. „Zum einen raubt ihnen die Erkrankung die Lungenfunktion, zum anderen schränkt man ihre Freiheiten drastisch ein.“
Viele der Todesfälle wären vermeidbar
Womit sich der Kreis zur historischen Behandlung von Tuberkulose schließt. Als es noch nicht ausreichend oder keine passenden Antibiotika für die Therapie gab, versuchte man, die Erkrankten – wenn möglich – aus einem meist dicht besiedelten Umfeld herauszuholen. Ob die einstige Lungenheilstätte Gmundnerberg in Oberösterreich, Natters in Tirol oder das Schweizer Davos für jene, die sich das leisten konnten: „Die Idee war: Raus aus den Ballungsräumen, am besten rauf auf einen Hügel oder Berg und an die frische Luft und Sonne.“, sagt Lamprecht.
Die Liegekuren in der Sonne hatten durchaus therapeutischen Wert. „Für das Tuberkulose-Bakterium ist UV-Licht sehr schädlich“, sagt der Linzer Lungenspezialist Lamprecht. „Das heißt, das Liegen in der Sonne – verbunden mit ausreichender Ernährung, um das Immunsystem zu stützen – war tatsächlich eine Strategie, die Erfolg bringen konnte.“ Wenn auch nur bei einem Teil der Patienten: „Die Hälfte der Betroffenen ist dennoch verstorben“, sagt Lamprecht.
Heutzutage wären viele der 1,5 Millionen Tuberkulose-Todesfälle pro Jahr vermeidbar – wenn die Medikamente für die Betroffenen überall verfügbar wären. „Gerade in den Ländern mit den höchsten Inzidenzen ist der Zugang zu den intensiven und auch kostspieligen Therapien aber sehr eingeschränkt“, sagt Lamprecht.
Wie erklärt er sich, dass Tuberkulose die Krankheit blieb, die in den vergangenen hundert Jahren trotz hoher Todeszahlen stets so nebenherlief und nie die Aufmerksamkeit hatte, die anderen Infektionskrankheiten zuteil wurde?
„Ich glaube, das liegt daran, dass bei uns viele Menschen für sich persönlich ein sehr reduziertes Risiko sehen, an Tuberkulose zu erkranken“, sagt Lamprecht. „Weil sie glauben, Tuberkulose ist eine Krankheit von unterprivilegierten Menschen oder Menschen in Ländern, in denen das Gesundheitssystem desolat ist.“ Bei Krankheiten wie der Spanischen Grippe oder Covid sei das anders. „Da hatten und haben viele das Gefühl, das kann sie auch treffen – unabhängig davon, wie und wo sie wohnen oder wie sie sich ernähren.“