Plastik ist überall – leider auch dort, wo wir es nicht haben wollen. Die Wissenschaft will mit neuen Ansätzen Kunststoffe nun völlig neu denken und damit helfen, die Plastikplage in den Griff zu bekommen. Dafür werden die Kräfte gebündelt – auch an der JKU.
Weißes Pulver, trübe Flüssigkeiten und dünne Platten, nicht größer als eine Handfläche: Was in den Laboren im siebten Stock des TNF-Turms der Johannes Kepler Uni entsteht, schaut auf den ersten Blick wenig spektakulär aus. Auch futuristische Gerätschaften mit vielen blinkenden Lichtern und Bildschirmen sucht man vergebens. Die Labore des Instituts für Chemie der Polymere erinnern eher an Chemiesäle, wie wir sie aus unserer Schulzeit kennen. Und doch: Das, woran Institutsleiter Oliver Brüggemann und sein Team aus Wissenschaftler*innen arbeiten, hat viel mit unserer Zukunft zu tun.
In den vergangenen hundert Jahren sind Polymere zu unseren ständigen Begleitern geworden. Schon beim Zähne putzen in der Früh begegnen wir ihnen. Egal, ob wir mit Auto, Fahrrad oder Straßenbahn in die Arbeit fahren, sind sie dabei. Und bei fast jedem Einkauf bringen wir welche nach Hause. Denn Polymere, deren Name sich aus den griechischen Wörtern für viel (polys) und Teil (meros) zusammensetzt, sind die Grundbausteine des Plastiks – und damit allgegenwärtig.
Fast 400 Millionen Tonnen Plastik (beziehungsweise Kunststoffe, wie die Produkte ganz korrekt heißen) hat die Menschheit im vergangenen Jahr produziert. Allein in der EU fallen jährlich pro Einwohnerin und Einwohner im Schnitt 33 Kilogramm Verpackungsabfall aus diesem Rohstoff an. Andere Kunststoffprodukte sind da noch gar nicht mitgerechnet.
Dass Plastik aus unserer Welt nicht mehr wegzudenken ist, hat gute Gründe: Kunststoffe sind leicht zu bearbeiten. Es gibt weiche und richtig harte. Sie lassen sich formen, aufblasen, auswalzen und pressen. Und im Vergleich zu Glas oder Aluminium wird für ihre Herstellung relativ wenig Energie benötigt. Auch deshalb gibt es inzwischen kaum noch einen Ort, an dem uns nicht in irgendeiner Form Plastik begegnet. Leider betrifft das auch Bereiche, wo wir den Stoff eigentlich nicht sehen möchten: Wenn wir beim Waldspaziergang über eine achtlos weggeworfene Plastikflasche stolpern, dann stört uns das. Wir können sie aber immerhin einfach aufheben, mitnehmen und bei der nächstbesten Gelegenheit in eine gelbe Tonne werfen. Andernorts ist das deutlich schwieriger.
Ein Blick in unsere Meere zeigt, warum Plastik keinen guten Ruf hat
Jedes Jahr gelangen Hunderttausende Tonnen Plastik in die Weltmeere. Wie hoch die Zahl genau ist, lässt sich nicht sagen. Schätzungen reichen von eineinhalb bis hin zu mehr als zehn Millionen Tonnen jährlich. Manches davon stammt von Booten oder Bohrinseln. Ein Teil sind alte Fischernetze aus Kunststoff. Die überwiegende Mehrheit des Plastikmülls in den Ozeanen wurde aber an Land weggeworfen. Fortgetragen von Wind und Flüssen landet er irgendwann im Meer. Und dort bleibt er dann erst einmal.
Denn noch eine Eigenschaft teilen die meisten der derzeitigen Kunststoffe: Es dauert sehr lange, bis sie sich zersetzen. Dünne Sackerl sind erst nach rund 20 Jahren aufgelöst, ein Plastikbecher braucht mindestens doppelt so lange. Und eine PET-Flasche ist überhaupt erst nach ungefähr 450 Jahren verschwunden. In der Natur beobachtet hat das allerdings noch niemand. Denn die weltweit erste Plastikflasche wurde vor weniger als 80 Jahren produziert.
Auf einer Fläche 19 Mal so groß wie Österreich erstreckt sich im nördlichen Pazifik der mächtigste der fünf Müllstrudel, die sich in unseren Meeren angesammelt haben. Wir alle kennen Fotos von verendeten Meerestieren, deren Magen voll ist mit Kunststoff; Bilder von Vögeln und Fischen, die sich in den Plastikringen von Getränkedosen verfangen haben. Und Berichte, dass Mikroplastik bald über Speisefische den Weg auf unsere Teller finden könnte, tragen auch nicht zur Beruhigung bei.
Der Ruf von Plastik ist also mehr als nur angekratzt. Kaum ein Stoff wird so gerne angeführt, um zu zeigen, wie achtlos wir Menschen mit unserem Planeten und seinen Ressourcen umgehen. Wenn von Plastikplage und Plastikkatastrophe die Rede ist, dann klingt das inzwischen weniger alarmistisch als vielmehr realistisch.
Das ist inzwischen auch in der Politik angekommen. Die EU- Staaten haben sich für die kommenden Jahre hohe Ziele gesetzt. Bereits bis 2025 müssen mindestens 50 Prozent der Kunststoffverpackungen recycelt werden (in Österreich liegt die Quote zurzeit bei rund 30 Prozent). Bis 2030 sollen – so hat es die EU in ihrer Kunststoffstrategie formuliert – nur noch Kunststoffverpackungen auf den Markt kommen, die wiederverwendbar sind oder sich kostengünstig recyceln lassen.
Das ist so ambitioniert, wie es klingt. Das fängt schon bei der Mülltrennung an, wo viele EU-Staaten, darunter auch Österreich, deutlich hinter den Vorgaben bleiben. Darüber hinaus hat das mechanische Kunststoffrecycling Grenzen. Plastik säubern, schreddern und dann wieder einschmelzen funktioniert zum Beispiel bei PET-Flaschen ziemlich gut. Andere Kunststoffverpackungen wie mehrschichtige Folien lassen sich auf diesem Weg aber kaum aufbereiten. An anderen Ansätzen, wie etwa dem chemischen Recycling, wird zwar intensiv geforscht. Im großen Stil kommt es aber noch nicht zum Einsatz. Doch selbst wenn in Europa das Recycling funktioniere, bedeute das nicht, dass es in anderen Teilen der Welt ebenso ablaufe, gibt Brüggemann zu bedenken. „Was ist mit dem Müll im Meer?“, fragt er.
Dazu kommt laut dem JKU- Chemiker noch das Problem der flüssigen Polymere. 36 Millionen Tonnen dieser lösbaren Stoffe werden jedes Jahr produziert. Das ist zwar nur ein Bruchteil der jährlichen Plastikproduktion. Es entspricht aber immer noch 14.500 olympischen Schwimmbecken, wie die britische Royal Society of Chemistry in einer aktuellen Studie vorrechnet. Und wie auch Plastik sind flüssige Polymere ein fester Bestandteil unseres Lebens. Sie sorgen dafür, dass Farbe an den Wänden haftet und Lidschatten nicht ins Auge rinnt. Sie machen Schmiermittel schmierig und sollen Putzmitteln zu mehr Reinigungskraft verhelfen.
Am Ende landen viele der flüssigen Polymere im Abwasser. In Ländern mit einer funktionierenden Abwasserreinigung werden sie in den Kläranlagen herausgefiltert und lagern sich im Klärschlamm ab. Der wird zumeist verbrannt. Bisweilen landet er aber auch als Dünger auf den Feldern – und damit auch die flüssigen Polymere. In Gegenden ohne Kläranlagen finden die Stoffe ohnehin schnell ihren Weg in die Flüsse und irgendwann auch ins Meer. Welche Auswirkungen flüssige Polymere auf die Umwelt haben, ist derzeit noch kaum erforscht. Abbaubar sind laut Brüggemann jedenfalls nur die wenigsten. Und auch in Zukunft werde man kaum eine Chance haben, sie zu recyceln.
Ein großer Zusammenschluss für eine große Vision
Am Campus der Linzer Uni hat er daraus seine Schlüsse gezogen: „Plastik hat viele Vorteile. Aber seine Eigenschaften müssen sich ändern.“ Zurzeit arbeitet Brüggemann an einem Antrag für einen vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Cluster of Excellence. Die eben erst ins Leben gerufene Förderschiene ist so etwas wie die Königsklasse der heimischen Förderung von Grundlagenforschung. Der FWF selbst spricht von einer neuen „Dimension und Reichweite“ der „in einem Cluster umgesetzten Forschung“.
Entsprechend weitreichend ist das Forschungsnetzwerk, das Brüggemann zu bündeln plant. Neben dem Institut für die Chemie der Polymere sollen noch 15 weitere Institute der JKU beteiligt sein. Sie kommen aus dem Fachbereich Chemie ebenso wie aus der Physik und Kunststofftechnik. Mit an Bord sind außerdem Institute der Uni Wien, TU Wien und der Montanuni Leoben. Hinzu kommen noch die an die JKU angedockten Kompetenzzentren CHASE und WOOD K Plus.
„Sustainable and degradable Polymers“ hat Brüggemann den vorgeschlagenen Cluster vorläufig übertitelt. Auf Deutsch: Nachhaltige und abbaubare Polymere. „Wir wollen die Grundlagen für ein neues Design, für neue nachwachsende Rohstoffe und ein neues Recycling legen“, sagt der Chemiker und spricht von einer „Vision aus drei Säulen“.
Ganz vorne steht dabei die Frage nach der Abbaubarkeit. Lassen sich Polymere so designen, dass sie zwar die gerade nötige Widerstandskraft aufbringen, sich aber dann, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben, auflösen? Ja, ist Brüggemann überzeugt.
Möglich machen sollen das „Sollbruchstellen“, welche die Chemiker in die Polymerstruktur einbauen. Um ein – ganz vereinfachtes – Bild davon zu bekommen, wie das funktioniert, hilft es, sich Polymere als Ketten von aneinandergereihten Kugeln vorzustellen. Hängen die Kugeln gut zusammen und lassen sich kaum bis gar nicht voneinander trennen, dann ist das Polymer nur schwer abbaubar. Lässt sich die Kette hingegen leicht auftrennen, dann ist ein Stoff eher abbaubar. Hier kommen nun die „Sollbruchstellen“ ins Spiel. Brüggemann spricht auch von „Zeitschaltuhren“.
Sie werden an Ketten gehängt, die grundsätzlich gut abbaubar wären. Durch ihre speziellen chemischen Eigenschaften sorgen sie aber dafür, dass das erst einmal nicht passiert. Man kann sich das wie eine zusätzliche Schutzschicht oder eine stabilisierende Verstrebung vorstellen. Kommt das Polymer aber mit bestimmten Umwelteinflüssen in Berührung, lösen sich die „Sollbruchstellen“. Ein solcher Auslöser kann zum Beispiel ein veränderter pH-Wert sein, UV-Licht oder auch Salzwasser. Ist das stabilisierende Element weg, beginnt auch die restliche Kette sich aufzulösen.
„Trivial ist das nicht“, sagt Brüggemann. Ganz von null anfangen müssen die Forscher*innen aber auch nicht. In der Medizin wird die Technik bereits für Implantate verwendet, die sich mit der Zeit von selbst zersetzen sollen. Und auch für abbaubare flüssige Polymere gebe es Beispiele aus der Medizin, so Brüggemann. So wurde am Institut für Chemie der Polymere an der Kepler Universität ein Nanopartikel entwickelt, das ein Krebsmedikament über die Blutbahn direkt in den Tumor transportiert und dort freisetzt. Danach löst sich das aus Silikon und Polyphosphazenen zusammengesetzte winzige Transportkügelchen einfach auf. In diesem Fall fungiert übrigens der veränderte pH-Wert im Tumorgewebe als Auslöser.
Bei den Mini-Taxis für das Krebsmedikament wissen die Wissenschaftler*innen, dass das, was nach der Auflösung übrig bleibt, für den menschlichen Körper harmlos ist. Doch wie wird das bei neu designten Polymeren sein? „Das ist die große Frage: Was passiert mit den Abbauprodukten?“, sagt Brüggemann. Noch könne er darauf keine Antwort geben. „Aber natürlich müssen wird das klären.“ Auch deshalb soll zum Beispiel der Fachbereich Physik Teil des Clusters werden. „Wenn wir rausfinden wollen, was die Abbauprodukte machen, brauchen wir Physiker*innen und Analytiker*innen.“
Eine entscheidende Rolle spielen dabei auch die Rohstoffe, aus denen die Polymere synthetisiert werden. Derzeit basieren noch immer rund 99 Prozent des produzierten Kunststoffs auf fossilen Rohstoffen, in erster Linie Mineralöl. Dass sich das in Zukunft ändern wird, gilt als ausgemacht. Wodurch und wie fossile Rohstoffe ersetzt werden, ist allerdings eine andere Frage.
Noch werden für viele Kunststoffe auf organischer Basis landwirtschaftliche Nutzpflanzen verwendet: Zuckerrohr zum Beispiel, aber auch Mais oder Kartoffeln. Das lässt Kritiker*innen vor einer Konkurrenzsituation mit der Nahrungsmittelproduktion warnen. Auch Brüggemann sagt: „Wir müssen bei den nachwachsenden Rohstoffen viel gezielter in Richtung Abfälle gehen.“ Er denkt dabei aber nicht nur an organische Reststoffe. Letztendlich sei auch CO2 ein Abfallprodukt, das sich nutzen ließe, erklärt der JKUler. Mithilfe von Wasserstoff kann das Treibhausgas wieder in Kohlenwasserstoffe umgewandelt werden – und damit zu den Bausteinen, aus denen sich dann wieder neues Plastik herstellen lässt.
Tatsächlich könnte so auch eine Form des Kunststoffrecyclings aussehen. Dann, wenn das CO2, das man dafür verwendet, durch das Verbrennen von Plastik entstanden ist. Das würde sich zum Beispiel in der Zementindustrie anbieten, sagt Brüggemann. Bei der Herstellung von Zement fallen produktionsbedingt große Mengen CO2 an. Und bereits jetzt werden dort Kunststoffabfälle als hochwertiger Brennstoff verheizt.
Warum es an den Unis liegt, jetzt den ersten Schritt zu tun
Freilich ist diese Art des Recyclings auch die technisch aufwendigste. Kunststoffe werden zuerst in ihre kleinsten Teile zerlegt, aus denen dann wieder die nächstgrößeren Bausteine aufgebaut werden. So weit werde man in den meisten Fällen aber gar nicht gehen müssen, meint Brüggemann. Oftmals reiche es aus, die langen Ketten der Polymere in kürzere Fragmente aufzuteilen. Das passiert im sogenannten chemischen Recycling, mit dem sich der neue Forschungscluster ebenfalls beschäftigen soll.
Kunststoffe lassen sich zum Beispiel mit Lösungsmitteln und hohen Temperaturen in ihre molekularen Bausteine zersetzen. Die so gewonnenen Monomere können dann wieder zu Polymeren zusammengesetzt werden. Noch gestalten sich diese Prozesse als sehr energieaufwendig und sind – auch deshalb – teuer. In Zukunft werden sie aber eine entscheidende Rolle spielen, glaubt Brüggemann.
Auch deshalb, weil wir weiterhin langlebige und widerstandsfähige Kunststoffe brauchen, die sich nicht schnell abbauen sollen. Plastik für den Autobau muss ebenso beständig sein wie Rohrleitungen aus Kunststoff. Und auch die Küchenmaschine soll einem nicht unter den Fingern zerbröseln, nur weil man zu viel Zitronensaft in den Teig gemischt hat. Auch bei solchen Kunststoffen wird es laut Brüggemann in Zukunft entscheidend sein, dass sie aus erneuerbaren Rohstoffen hergestellt werden. Zugleich gelte es aber zu klären, wie sie dann, am Ende ihres Lebenszyklus, bestmöglich recycelt werden können.
An Forschungsfragen mangelt es also nicht. Wird der Cluster vom FWF genehmigt, haben die Forscher*innen erst einmal fünf Jahre Zeit, nach Antworten zu suchen. Danach kann die Förderung noch einmal um fünf Jahre verlängert werden. Insgesamt macht das zehn Jahre, die in erster Linie der Grundlagenforschung gewidmet sind. Trotzdem sollen die Produkte am Ende „so weit sein, dass die Industrie sie raufskalieren kann. Sie sollen tatsächlich für die Blockbuster der Industrie eingesetzt werden“, sagt Brüggemann.
Nicht erst dann wird sich auch die Frage stellen, was das für die Unternehmen bedeutet; zum Beispiel, ob und wie sie ihre Produktionsprozesse umstellen müssen. Und ja, es sei gut möglich, dass manche Produkte erst einmal teurer würden, sagt Brüggemann. Andererseits: Auch die Umweltverschmutzung werde langfristig viel Geld kosten. „Und was ist mit diesen Kosten?“, fragt der Chemiker. Der Uni-Professor ist jedenfalls überzeugt: Es liegt an den Unis und Forschungseinrichtungen, den Anfang zu machen, gerade weil sie „nicht kommerziell gebunden sind“. Denn eines sei auch klar: „Täten wir jetzt nichts, man würde uns das zu Recht vorwerfen.“